E-Book, Deutsch, 235 Seiten
Mahler Julie Leyroux
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99014-278-3
Verlag: Muery Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 235 Seiten
ISBN: 978-3-99014-278-3
Verlag: Muery Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Flora S. Mahler wurde 1975 in Wien geboren. Sie studierte Philosophie und Germanistik. Ihre literarischen Texte wurden in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht, unter anderem in 'Literatur und Kritik' und 'die Rampe'. Seit 2005 arbeitet sie als bildende Künstlerin im Kollektiv Asgar/Gabriel. 'Julie Leyroux' ist ihr Romandebüt. Auszug aus Julie Leyroux Dieses Material ist möglicherweise urheberrechtlich geschützt.
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Ein Vormittag Ende Jänner 2016 in Wien
„Einmaligkeit ist überbewertet“, hatte Ann unlängst nach jetlagbedingt langen, schlaflosen Stunden auf das abgerissene Etikett einer Wasserflasche gekritzelt, die wie üblich auf ihrem Nachtkästchen stand. Weil sie die Regel, nicht die Ausnahme war und jede Wiederholung nie einfach nur als Nachhall eines stärkeren, besseren Originals gesehen werden konnte, sondern ... Als ihr am Morgen beim Duschen dieses Satzfragment wieder in den Sinn kam und sie bald, in ein Handtuch gewickelt, auf dem Etikett nach seiner Fortsetzung suchte, stellte sie fest, dass ihre Notiz genau an jenem Punkt, an dem es auch ihre Erinnerung tat, abbrach. Auf einem der Papiertaschentücher, auch sie stets in Griffweite neben ihrem Bett, entdeckte sie dann zwar noch die Worte „verdichtete Zeit“ und „Versprechen“, konnte aber beim besten Willen nicht mehr sagen, wie und ob sie diesen Gedanken fortführten.
Es war nur ein einziger kristallheller Tropfen, der sich an Julies nacktem Bein den Weg nach unten bahnte. Dies geschah 2002, anlässlich jener Gruppenausstellung in Anns Galerie, mit der ihre Zusammenarbeit begann. Noch während Ann überlegte – sie hatte Julies Möse von ihrem Platz aus nicht sehen können –, wie Julie es anstellte, dass sie so trocken blieb, und zu dem Schluss kam, dass sie nicht rasiert war und die Schamhaare alles auffingen, war der Tropfen perlengroß unter ihrem Rock hervorgerollt. Julie, die sich gerade mit jemand unterhielt, reagierte nicht auf ihn. Auch sonst schien ihn niemand zu bemerken. Nur Ann war wie hypnotisiert. Sie folgte gebannt der glänzenden Spur, die er auf Julies sommerbrauner Haut hinterließ, während er an der Innenseite ihres Oberschenkels auf das Knie zulief. Als Julie ihr Bein leicht anhob, wurde er langsamer, gewann dafür an Geschwindigkeit, sobald sie es wieder abstellte. Doch bevor der Tropfen Julies Knöchel erreichen und sich in ihrem Sneaker hatte auflösen können, entdeckte ihn eine der beiden Freundinnen, die Julie nach Wien begleitet hatten, beugte sich nach vor und fing ihn mit dem Zeigefinger auf. Dann steckte sie sich den Finger in den Mund.
Ann hatte dieses Bild ungewollt vor Augen, als sie zwei Tage später auf einem improvisierten Podium neben Julie saß. Nur seinetwegen hatte sie das Künstlerinnengespräch von der Galerie in den begrünten Innenhof verlegt. Weil sie Sorge hatte, sie könnte sich drinnen nicht konzentrieren, wenn sie das Pissoir, das dort mitten im Raum auf einem Podest lag, dauernd im Blick hatte. Es ärgerte sie, dass sie dieser Tropfen so reizte, trotzdem schaffte sie Stühle und Klapptische in den Hof. Ganz allein, denn in dieser Phase ihrer Selbstständigkeit war das Geld so knapp, dass sie sich nicht einmal eine Praktikantin leisten konnte und außer der Kuratorin, die mit verstauchtem Fuß in ihrem Büro saß, niemand da war, den sie hätte fragen können. Es war ein ungewöhnlich warmer Herbstnachmittag. Als Ann auf Wunsch der Kuratorin noch einige Decken aus dem Lager holte, die sonst beim Transport fragiler Arbeiten Verwendung fanden, war ihr Dekolleté nass vor Schweiß. Und das, obwohl Ann sonst nie schwitzte, selbst beim Joggen höchstens rot anlief und nicht feuchte, sondern kalte Hände bekam, wenn sie nervös war. Deshalb hatte sie ihre Podiums-Bluse im Lager schnell gegen ein T-Shirt mit „Galeristin“-Aufdruck getauscht, das Einstandsgeschenk eines Freundes. Die Decken legte sie neben den Stühlen am Rand der Grasfläche wie für ein Picknick auf.
Die Gruppenausstellung, mit der „Zimmer, Küche, Bad in Arkadien“ in wichtigen Kunstmagazinen erstmals international Aufmerksamkeit erregte, trug den Titel „AvantGirls, feministische Aneignungen der Moderne“. Sie umfasste sechs junge künstlerische Positionen. Nach einer etwa zweijährigen, in jeder Hinsicht prekären Anfangsphase markierte diese Ausstellung für Anns Galerie endlich den Wendepunkt. Kuratiert hatte sie Hannah, nunmehr Direktorin des MUMOK, die damals schon zu den gefragtesten und bestvernetzten Macherinnen der Wiener Kunstszene zählte. Ann hatte sie mit viel Einsatz dafür gewinnen können, „AvantGirls“ in ihren Räumen zu realisieren, und ihr bei der Auswahl der Künstlerinnen freie Hand gelassen. Es sollte ihre berufliche Beziehung festigen, dass Ann vier Namen von Hannahs Liste nach Ende der Ausstellung ins reguläre Programm übernahm. Zum Aufstieg ihrer Galerie trugen sie später wesentlich bei. Der vielversprechendste und erfolgreichste war von Anfang an: Julie Leyroux.
Das zeigte auch das Künstlerinnengespräch, das nur ihretwegen so gut besucht war. Hannahs Fragen konzentrierten sich auf Julies Beziehung zu Elsa von Freytag-Loringhoven, einer deutschen Künstlerin der dadaistischen Avantgarde, die 1913 in New York gestrandet war. Dort hatte sie als Modell für Aufsehen gesorgt, dann mit ihren Versen – Julie rezitierte ihr Lieblingsgedicht „Body Sweats“ – und durch die Kontroverse um ein Werk, das heute als wichtigstes Readymade der Kunstgeschichte gilt. Denn „Fountain“, mit „R. Mutt 1917“ signiert, ist nicht von Duchamp. Sondern von ihr. Das anzunehmen gäbe es gute Gründe, erklärte Julie. Und berief sich unter anderem auf einen Brief Duchamps, in dem er seiner Schwester berichtete, dass eine Freundin „Fountain“ unter einem männlichen Alias bei der Society of Independent Artists zur Teilnahme an der großen Schau im Grand Central Palace eingereicht hätte.
Julies Arbeit „fountain.reverse“ verhandle die Moderne „als Schaukampf phallischer künstlerischer Selbstsetzungen, indem sie sie im mimetischen Spiel an ihrem eigenen Pathos auflaufen lässt“, hieß es im Pressetext. Sie bestand aus skulpturalem Objekt und Performance.
Ersteres war eine im Abflussbereich versiegelte Replik des originalen Pissoirs, die Julie auf einem Podest ausstellte. In der Performance dekonstruierte sie die Setzung als Kunstwerk und führte das Pissoir schrittweise wieder seinem Gebrauch zu.
Dafür schraubte sie im größten Eröffnungstrubel zwei Haken in vorgedübelte Löcher an die Wand, nahm das Pissoir vom Podest und befestigte es daran. Dann brachte sie sich mit dem Rücken zur Menge leicht gedreht in Stellung. Julie trug an diesem Abend einen kurzen Rock, der ihr viel Bewegungsfreiheit ließ, und hatte vorher zwei Flaschen Bier geleert. Sie stemmte ihr rechtes Bein in Hüfthöhe gegen die Wand, und da sie keinen Slip anhatte, traf sofort ein heller Strahl in die dafür vorgesehene Öffnung der schnabelförmigen Keramik.
Die Performance war über diesen Abend hinaus in Wien ein ziemlicher Aufreger gewesen.
Auf die erste Publikumsfrage, warum Elsa von Soundso Duchamp nicht widersprochen, ihre Urheberschaft nicht selbst bekannt gemacht hätte, erwiderte Julie, sie habe dazu keine Möglichkeit gehabt. Zum einen, weil das Originalpissoir bereits 1917 verloren gegangen war, genauer gesagt von jenem Galeristen auf den Müll geworfen wurde, der ihm zuvor zu seiner einzigen Ausstellung verholfen hatte, denn die Society of Independent Artists habe letztlich abgelehnt, „Fountain“ zu zeigen. Zum anderen sei Elsa von Freytag-Loringhoven 1941, als Duchamp seine „Boîte-en-valise“ mit einer Miniatur des Pissoirs versah und „Fountain“ damit wahrscheinlich erstmals offiziell als sein Werk reklamierte, schon lange tot gewesen. Sie war Anfang der zwanziger Jahre nach Europa zurückgekehrt und 1927 verarmt und in labilem Geisteszustand in Paris gestorben.
Anns Arbeitstage in der Galerie waren streng getaktet. Ihre terminliche Rigidität war mit dafür verantwortlich, dass sie in der österreichischen Kunstszene große Autorität genoss, ja mancherorts sogar gefürchtet war. In der Szene kannte man sie als jemand, um den herum die Welt immer in Bewegung war. Ihrem Team galt sie als geradezu herausfordernd aktive, selbstbewusste, wenn auch ein wenig spleenige Frau. Das lag vor allem daran, dass Ann es sich trotz ihrer dichten Agenda nicht angewöhnen konnte, ihre Ideen und Termine so zu erfassen, wie das Leute mit ihrem Arbeitsaufkommen taten, sie digital festzuhalten oder zumindest in einem Notizbuch. Was sie beschäftigte, kritzelte sie auf viele kleine, irgendwo abgerissene Zettel, die sich tagsüber in ihrem Büro und morgens und abends auch in ihrer Wohnung verteilten. Ann ging beim Telefonieren und Nachdenken gern von Tisch zu Tisch oder Zimmer zu Zimmer und spielte dabei mit diesen Zetteln, um sie nach Abschluss eines Gesprächs oder Gedankens auf dem nächstbesten Platz abzulegen. Anns Termin- und Ideenzettel funktionierten deshalb auch als eine Art Stimmungsbarometer. Je mehr Zettel herumlagen bzw. je schneller sie von einem Ort zum anderen wanderten, umso besser ging es ihr, und umgekehrt, je aufgeräumter Anns Büro bzw. ihr Wohn- oder Schlafzimmer waren, umso weniger angeraten schien es, sie unbedacht anzusprechen. So war es durchaus kein schlechtes Zeichen, wenn Anns Tag mit der Suche nach einem Notizzettel begann und nach Dusche und einer Tasse grünem Tee mit einem Anruf bei ihrer wichtigsten Assistentin endete, die sich an diese Eigenart ihrer Chefin längst gewöhnt hatte und in ihrem eigenen Smartphone für sie stets mit Buch führte.
Ann trank keinen Kaffee mehr, weil sie ihre Zähne regelmäßig bleichen ließ und sein anhaltend starker Nachgeschmack sie zu sehr störte.
Seit „Zimmer, Küche, Bad in Arkadien“ im oberen Galerienfeld angekommen war und an den wichtigsten Kunstmessen...




