Malkmus / Schalansky | Himmelsstriche | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 246 Seiten

Malkmus / Schalansky Himmelsstriche

Vom Leben der Vögel und Überleben der Menschen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-4026-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Vom Leben der Vögel und Überleben der Menschen

E-Book, Deutsch, 246 Seiten

ISBN: 978-3-7518-4026-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Dieses Buch leuchtet die Beziehung zwischen Landschaften und Leben mit großer gedanklicher Spannkraft aus. Was für eine sprachliche Schönheit in einer Welt, die vergessen hat, dass wir nicht gemacht, sondern geboren sind!«           — Marica Bodrožic»Bernhard Malkmus ist ein besonderer Schriftsteller: ein scharfsichtiger Beobachter der Natur, ein feinsinniger Umweltethiker und ein herausragender Sprachstilist.«           — Robert MacfarlaneDer englische Nordosten ist eine Landschaft, an der sich die systemische Veränderung der Biosphäre durch 250 Jahre technischer und sozialer Revolutionen ablesen lässt: Hier wurden bis vor kurzem die reichsten Kohlevorkommen Großbritanniens abgebaut, hier lagen um 1900 die größten Werften der Welt, hier verändern immer noch riesige Chemieagglomerate den Stoffwechsel der Erde. Umsäumt von der geheimnisvollen Nordseeküste im Osten und düsteren Heidegebirgen im Westen ist dieses englisch-schottische Grenzland, um das schon römische Truppen, irische Missionare, Wikinger, berüchtigte Grenzräuberbanden gekämpft haben, auch ein wichtiges Brutgebiet für zahlreiche Vogelarten. Die »Himmelsstriche« der Seevögel – so bezeichnet Bernhard Malkmus sowohl die Gegenden, in denen diese Flugkünstler zuhause sind, als auch die Kalligrafien, die sie in die Lüfte zeichnen. Doch seit einiger Zeit wütet in diesem Vogelparadies das Grippevirus, das in der industriellen Tierhaltung hochgezüchtet und von Zugvögeln auf der ganzen Welt verbreitet wurde. Als Malkmus auf seinen Streifzügen immer mehr Kadaver findet, beginnt er, den Tieren ein literarisches Denkmal zu setzen.Himmelsstriche ist die reizvolle Verbindung von Reisetagebuch und Essay, in der Natur- und Kulturgeschichte verwoben werden: Ein Gesang auf das Meer, eine Hymne auf die Anmut und Widerstandskraft der Seevögel, eine Meditation über Heimat und Migration, eine Suche nach Worten der Trauer angesichts der Artenausrottung um uns.Finalist des W. G. Sebald-Literaturpreises.
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Vogelgrippe


who of us

is ever ready?

— Linda France, »Le Temps II«

Montag, 2. Mai 2022 Dunkle Wolkenschlieren am wässrigen Horizont: Darunter liegt die Nordsee in einem Meer aus Grau. Im Zenit helle Einfallstore des Lichts. Strahlenbündel zwischen Schwarz und Weiß fächern sich in die Weite: vom Grollen eines aufziehenden Gewitters bis zum Versprechen einer sich hinter der Wolkendecke ankündigenden Bläue. Alles fließt in ständigem Wandel – von Schauern durchstrichelt – ineinander, scheidet sich wieder voneinander unter dem unsichtbaren Himmelszelt, das sich über die Küste von Northumberland spannt.

Dreiundzwanzig dieser Schattierungen von Grau hat der Freiberger Begründer der modernen Geologie Abraham Gottlob Werner Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner Farbnomenklatur zur Bestimmung von Mineralien in Worte gefasst – und alle dreiundzwanzig schwimmen und leuchten an diesem Abend in dieser unermesslich weiten Enge. Dort, im Nordwesten scheint es, als flackerten farblose Nordlichter durch gespenstische Schwarz-Weiß-Kontraste: dunkelzornige Zacken, hellgleißende Wolkenzinnen. Aufgelockert schneeweiß dagegen die Bewölkung im Süden – eine Farbe, die sich auch im Brustgefieder der Lachmöwe oder im »Kelch eines Schneeglöckchens« findet.

So beschrieb der Pflanzenmaler Patrick Syme Farbtöne von Gesteinen, die er 1814 in einem Katalog mit 110 Einträgen als Werner’s Nomenclature of Colours im Auftrag von Werners schottischem Schüler Robert Jameson, Professor für Geologie in Edinburgh, herausgab. Syme ergänzte Werners ursprüngliche Farbbestimmungen durch Vergleiche aus der Tier- und Pflanzenwelt und bettete sie damit in die belebte Welt ein. So ließ er Farben neu sichtbar werden. Aus einem wissenschaftlichen Leitfaden war ein poetisches Weltbuch geworden. Charles Darwin hatte es während seiner Weltreise auf der Beagle im Gepäck und mischte sich in seinen Tagebüchern die Geobotanik Südamerikas und die Artenvielfalt der Galapagosinseln aus Werners und Symes Farbtöpfen zusammen.

Die Farbe des Aragonits glänzt an diesem Abend über Coquet Island, es ist der violettweiße Farbton, den Syme auch in der Blüte des Storchschnabels und an der »Stelle zwischen Hals und Rücken der Dreizehenmöwe« aufschimmern sieht. Die Insel liegt vor dem Mündungsdelta des torfigen River Coquet, der sich aus den Heidelandschaften und Hoch mooren im Grenzgebiet zwischen England und Schottland in weiten Bögen herabwindet durch eine Regenlandschaft, die im Sommer und Herbst übersät ist von kleinen glockenförmigen purpurnen Heideblüten, bereiften blauen Rauschbeeren und prallrunden schwarzen Krähenbeeren. Im Grünlichweiß über der offenen Nordsee würde der schottische Maler vielleicht die Färbung der »Kloakenfedern des Wintergoldhähnchens« erkennen; und hinter mir über dem Festland, im Westen, türmen sich Gewitterwolken übereinander, so tintendunkel wie die »Früchte des Bittersüßen Nachtschattens«. Der Seewind schäumt mit herrischen Bewegungen die Wasserfarben auf, taucht die Gräue in immer neue Lichtquellen.

Symes Fähigkeit, verschiedenste Erscheinungen der Natur miteinander in Verbindung zu setzen, zeugt von der Kraft naturkundlicher Anschauung. Eine solche Vertrautheit mit der belebten und unbelebten Natur muss vielen Menschen zu seiner Zeit selbstverständlich gewesen sein. Wenn es die Einbildungskraft der Zeitgenossen befeuerte, sich das Leberbraun eines Halbopals als die Farbe eines Kernbeißerflügels vorzustellen oder das Grünlichgrau der Grauwacke als Eschenrinde, dann liegt die Vermutung nahe, dass sie sich selbst als Teil dieses Netzes aus lebendigen Bezügen verstanden.

Aus den Regenschraffuren über der Coquet-Mündung gleitet an diesem Sommerabend hie und da ein zielstrebiger Flügelschlag, durchschneidet gleichermaßen kraftvoll wie mühelos die Luft. Kaum hat sich diese Bewegung abgesetzt von den Wolkenbänken ins Offene, sinkt sie wieder in diese zurück. Erst mit dem Fernglas gelingt es mir, das Flugbild schärfer aus ihnen herauszulösen: eine Seeschwalbe. Die weit nach hinten gebogenen sichelförmigen Schwingen, der ebenso lässige wie zielstrebige Flügelschlag, der rhythmische Puls, mit dem der Vogel sich dem Seewind überlässt: schlagen, schlagen, tauchen; schlagen, schlagen, tauchen. Das Tier schwingt sich elastisch durch die verwirbelten Luftströmungen, im völligen Gleichmaß seiner Bewegungen und ohne jede Hast. Die Färbung von Kopf und Schnabel kann ich nicht erkennen. Wahrscheinlich ist es eine Küstenseeschwalbe (Arctic tern), es wäre die erste des Jahres.

Ständiger Wandel der Wolken: Bänder–Bänke–Mauern–Türme–Fahnen–Laken–Schleier–Tränensäcke: lichtbringendes Zittern der Zufälligkeiten. Mir kommt das Wort ›Himmelsstriche‹ in den Sinn, mit dem ursprünglich die Bahnen der Gestirne im Himmelsgewölbe beschrieben wurden. Bis ins 18. Jahrhundert ein geläufiger Ausdruck für ›Himmelsrichtungen‹; schon bei Alexander von Humboldt und seinen Zeitgenossen allerdings: ein Synonym für ›Gegend‹ oder ›Region‹, analog zu Landstrich – dreidimensionaler jedoch, unsere Erdexistenz »bezüglich des klimas« in den Blick nehmend, wie die Gebrüder Grimm ins Deutsche Wörterbuch notieren. Heute gilt der Begriff als ausgestorben.

Im launischen Wettergeschehen gehe ich unter dem Schutz eines Eierschalenhimmels, der jederzeit zerspringen könnte, in den Abend.

Samstag, 7. Mai 2022 Heute an den höchsten Stellen des Hadrian’s Wall: Der Atlantik schiebt unermessliche Wolkenmassen aus dem Westen heran, die von den Bergwinden hier oben lustvoll zerrissen werden. Dieser Nordland-Limes der Römer gegen die Pikten und Kaledonier macht sich die klippenartigen Nordabbrüche aus hartem Dolerit strategisch zunutze und schlängelt sich ansonsten an den höchsten Hügeln entlang durch diese Landschaft. An den Ruinen der Wehranlagen bleiben große Nebelschwaden hängen – Fetzen aus dem Mantel eines Riesen, der gerade im Sauseschritt über uns hinweggezogen ist. Die Wolken werden so schnell durcheinandergewirbelt, dass die Sonne immer wieder Gelegenheit hat, ihr Licht durch Himmelslöcher hindurch über diese graugrüne Landschaft auszugießen. Sofort leuchtet ein kleiner Landschaftsausschnitt golden und bronzen auf und versinkt lautlos wieder hinter Fetzen aus atlantischen Schleiern. Nach Süden und Südosten hin wischen uns zornige Böen immer wieder tiefe und weite Blicke ins Tal des Tyne und hinüber zu den Hochmooren der North Pennines frei.

Lange Rast unterm Schutz der Sycamore, eines freistehenden Bergahorns, der mit seiner formschönen Krone eine tiefe Einkerbung im Verlauf des Hadrian’s Wall füllt. Für viele Besucher ist der Baum die Seele dieser Himmelsstriche. Beim Rückweg entlang der Mauer kurz vor den Fundamenten der einstigen römischen Kaserne Homesteads plötzlich ein Wummern in der Luft – tiefe Bassregister, die dann in satten Tönen nach oben klimmen. In den grauweißblauen Wasserfarben des Himmels können wir nichts erkennen – aber da ist es wieder, eine schwerfällige Frequenz, die sich mit jedem Schlag erhöht: das Balzmeckern einer Bekassine (common snipe), auch Himmelziege genannt. Um dieses Geräusch hervorzurufen, windet sich das Männchen etliche Dutzend Meter in die Höhe und lässt sich dann plötzlich nach unten fallen, während es die beiden äußeren Steuerfedern des Schwanzes spreizt. Der Luftwiderstand erzeugt das unverwechselbare meckernde Wabern, dem die in Grashorste, Torfkuhlen oder römische Steinwälle geduckten Weibchen hier oben wohl gerade angeregt lauschen, während wir, von der hereinbrechenden Dämmerung verschluckt, absteigen.

Nachtrag Herbst 2023: In der Nacht zum 28. September wurde the Sycamore gefällt, vermutlich ein Rachedelikt für Weidebesitzstreitigkeiten in der Region, wie sich später herausstellt. Der öffentliche Aufschrei und die Medienaufmerksamkeit sind enorm. Von »Entheiligung« ist oft die Rede. Warum aber hatte sich nicht schon längst ein Hain bilden können um diesen vereinzelten Baum inmitten überweideter Hügel? Bereits John Muir hat diese selektive Wahrnehmung als ein Grundproblem für den Naturschutz erkannt: »Wenn wir eine Kiefer inmitten eines Marktplatzes pflanzten, welche Bewunderung würde sie erregen! Doch wer ist sich der vielen Kiefern in den freien Wäldern bewusst, auch wenn sie für alle zugänglich sind?« Vielleicht schafft es die gefällte Sycamore jetzt, das entstehen zu lassen, was die lebende Sycamore nie geschafft hat: ein...


Malkmus, Bernhard
Bernhard Malkmus, 1973 in Aschaffenburg geboren, aufgewachsen im Spessart und bei Lissabon, lehrt Germanistik und Environmental Humanities an der Universität Oxford.

Schalansky, Judith
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.

Bernhard Malkmus, 1973 in Aschaffenburg geboren, aufgewachsen im Spessart und bei Lissabon, lehrt Germanistik und Environmental Humanities an der Universität Oxford. Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.



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