E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Scottish Lovebirds
Malone You make me fly
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95818-663-7
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Scottish Lovebirds
E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Scottish Lovebirds
ISBN: 978-3-95818-663-7
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Murphy Malone (26) lebt dafür, die Welt zu erkunden und ihre Lebenserfahrungen in Geschichten festzuhalten. Ihr Debüt »You make me fly« basiert auf ihren Erlebnissen in Glasgow, wo sie vier Jahre an der Glasgow University Psychologie studiert hat und selbst Mitglied von zoologischen Forschungsexpeditionen nach Trinidad und Island war. Nun macht sie ihren PhD am King's College London, wo sie Intergruppenkonflikte mit Hilfe von Virtual Reality erforscht. Außerdem ist Murphy als Sensitvity Readerin tätig. In ihrer Freizeit macht sie Fotos und ist als Aktivistin laut. Dabei setzt sie sich vor allem für Mental Health Themen und queere Repräsentation ein.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Highland-Kälbchen in der Bibliothek
Jedes kleinste Geräusch dröhnte in meinem Kopf, als hätte jemand die Sensibilität meiner Empfindungen auf gestellt. Beim Krachen des Energydrinks, der vor mir aus dem Automaten fiel, zuckte ich zusammen. Mit zitternden Fingern öffnete ich die mittlerweile vierte Dose und leerte sie in einem Zug.
Es kam mir vollkommen surreal vor, um vier Uhr morgens noch andere Studierende in der Bibliothek zu sehen. Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die gezwungen war, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Hinter mir schliefen ein paar junge Frauen auf den unbequemen Sofas direkt unter dem -Poster, während ich selbst bis zu den Automaten die Diskussion von einigen Menschen hörte, die sich über physikalische Gleichungen stritten.
Nur noch acht Stunden bis zur Abgabe.
Dabei war ich noch nicht einmal bei der Hälfte der nötigen Worte angekommen. Irgendwann während des letzten Jahres hatte ich die fürchterliche Angewohnheit entwickelt, erst am Vorabend der Abgabe mit dem eigentlichen Schreiben zu beginnen. Nicht, weil ich mich vorher nicht mit den Themen auseinandergesetzt hatte, nein. Sondern weil ich mich meist nicht von den verschiedenen Artikeln losreißen konnte und immer das Gefühl hatte, nicht genug Material zu haben, obwohl meine Referenzliste schon über fünfzig Zitationen enthielt.
Nie genug. Nicht gut genug.
Auch wenn ich alles gab, hatte ich das Gefühl zu versagen.
Erst mit genug Druck, erst in dem Moment, in dem mein panisches Herzrasen so laut wurde, dass es alle zweifelnden Gedanken übertönte, schaffte ich es, eine Gliederung zu Papier zu bringen und an meiner Hausarbeit zu schreiben.
Müde und laut gähnend schleifte ich mich zurück an meinen Platz in der hinteren Ecke des dritten Stockwerks, wo ich bis auf einen jungen Mann allein war.
Ich setzte wieder meine Kopfhörer auf und richtete den Blick auf den Monitor vor mir. In einem Delirium aus Müdigkeit und Koffein, bei dem sich ein seltsamer Nebel aus Konzentriertheit und wirren Worten um mich legte, versuchte ich voranzukommen. In einem Zustand, in dem es nur die Lo-Fi-Musik, meine Deadline und sechzig Seiten Notizen für mich gab.
Die Zeit tröpfelte zäh vor sich hin, und dennoch hatte ich das Gefühl, als würde sie mir davonrennen.
Um fünf Uhr dreißig wurde mir irgendwann so schwindelig, dass ich die Kopfhörer abnahm und mich dazu zwang, ruhig auf dem Stuhl zu sitzen und mehrfach tief durchzuatmen. Meine Therapeutin hatte mir eine Übung beigebracht, die mir in genau solchen Situationen helfen sollte, mich nicht komplett zu verlieren.
Ich fokussierte mich auf fünf Dinge, die ich sehen konnte. Beobachtete die Spiegelung der leeren Sitze im großen Fenster der Bibliothek, sah zu den Büchern hinter mir, nahm den Wasserspender und die Toilettentüren wahr und die feuerroten Haare des jungen Mannes, der immer noch über seine Notizen gebeugt dasaß und etwas dazuschrieb. Als Nächstes folgte das, was ich hörte.
Vier Geräusche.
Das Echo der Diskussion über Physik, das leise Surren meines Computers, der Wasserspender, an dem sich gerade eine Studierende einschenkte, und das Kratzen des Kugelschreibers des Rothaarigen an meinem Tisch.
Drei Empfindungen.
Meine Hände waren eiskalt und feucht vor Nervosität und trotz der Übung hämmerte mein Herz immer noch hart in meinem Brustkorb, als wollte es fliehen und sich irgendwo in einer Ecke verkriechen, um sich vor einem Raubtier zu schützen. Die Empfindung war so stark, das Gefühl von Panik in meiner Brust so beklemmend, dass ich nur noch daran denken konnte, wie viel ich noch zu schreiben hatte.
Statt weiterzumachen, setzte ich also wieder meine Kopfhörer auf, drehte die Lautstärke meiner Playlist hoch und widmete mich wieder der Hausarbeit.
Nur noch sechs Stunden.
So langsam begann die Bibliothek sich wieder zu füllen. Es war fast amüsant, mit anzusehen, wie sich ein paar Studierende um die beliebten Nischen mit den roten Bänken ein Wettrennen lieferten.
Mittlerweile verschwammen die Worte auf dem Bildschirm, und ich dachte ernsthaft darüber nach, mir noch einen fünften Energydrink zu holen, obwohl ich wusste, was für eine beschissene Idee das war.
Als ich plötzlich eine Berührung an der Schulter spürte, fuhr ich so heftig zurück, dass mein Drehstuhl gegen die Glaswand der Bücherabteilung hinter mir stieß und mir die Kopfhörer in den Schoß fielen. Verwirrt und desorientiert sah ich nach rechts, wo der rothaarige Kerl stand.
»Sorry. Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er abwehrend und vergrub eine Hand in seinem zotteligen Haar.
Ich brauchte ein paar Momente, um mir über die von Müdigkeit verklebten Augen zu wischen, wobei ich mehrfach tief ein- und ausatmete, damit ich mich von dem Schock erholen und ihn richtig ansehen konnte.
Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war vollkommen absurd: Mit den roten Haaren, den vielen Sommersprossen und dem dichten Bart musste ich sofort an ein schottisches Highland-Kälbchen denken.
»Schon okay«, presste ich hervor und gab mir Mühe, eine gelassene Sitzposition einzunehmen, indem ich ein Bein über das andere schlug. Das Letzte, was ich wollte, war, ihm meine Selbstzweifel zu offenbaren, obwohl ich mir fast sicher war, dass ich sie ausstrahlte, als wäre ich radioaktiver Abfall.
»Was gibt’s?«, erkundigte ich mich verwirrt und dachte fieberhaft darüber nach, ob wir uns schon einmal begegnet waren. Doch selbst in meinem Zustand ängstlicher Müdigkeit hätte ich mich sicher an jemanden wie ihn erinnert.
»Als ich eben kurz unten war, habe ich im Eingangsbereich eine Packung Shortbread gefunden mit der Notiz ›Bedient euch‹. Ich sehe dich schon die ganze Nacht hier arbeiten und dachte, du könntest vielleicht auch einen kleinen Zuckerschock vertragen.« Ein schelmisches Grinsen spielte um seine Lippen, und ich bemerkte den starken schottischen Akzent in seinem Englisch.
Erst jetzt ließ ich meinen Blick von seinem Gesicht zu den buttrigen Keksen wandern, wobei ich spürte, wie meine aufgesetzte Selbstsicherheit zerfloss. Während ich hier in einem viel zu großen, flauschigen -Pullover kauerte, trug er ein weißes Hemd mit grauer Weste und grünem Sakko.
Er sah für diese Zeit des Tages verboten gut aus, doch seine Augenringe zeigten, dass auch er eher ins Bett gehörte als in eine Bibliothek.
»Das ist echt nett von dir«, murmelte ich dankbar und streckte eine Hand nach dem Shortbread aus. Ich nahm mir drei Stücke heraus und versuchte mich an einem Lächeln.
»Was hält dich so lange noch hier?«, erkundigte ich mich.
»Ich muss um zwölf Uhr mittags eine Hausarbeit abgeben. Aber ich weiß jetzt schon, dass ich keine gute Note dafür bekommen werde. Ich versuche zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Und du?«
Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, während er so leichtfertig darüber sprach, eine schlechte Note zu bekommen. Selbst in meinem Delirium hoffte ich immer noch darauf, mindestens ein schlechtes A zu bekommen.
»Auch Hausarbeit um zwölf. Ich denke, wir werden also noch ein paar Stunden hier festsitzen.« Ein atemloses Lachen entfuhr mir. Ich versuchte meine schweißnassen Hände an meiner Leggins abzuwischen, damit ich die Angst vielleicht abschütteln konnte. Vergeblich.
. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich freute, dass es bald vorbei war, oder ob es mich nur noch mehr stresste.
Der Schotte machte eine aufmunternde Geste, wobei er beide Daumen nach oben streckte. Seine Pose brachte mich zum ersten Mal seit Stunden zum Schmunzeln.
»Du schaffst das! Ich bin genau hier drüben und feuere dich bis zum Schluss an.«
Er bewegte sich langsam zurück, schob sich ein Stück Shortbread in den Mund, wobei er mich weiterhin ansah. Bevor er sich setzte, signalisierte er mir mit den Fingern, dass er mich im Auge behielt.
Ich konnte nicht umhin zu kichern, als ich meine Kopfhörer wieder aufsetzte. Mein Magen fühlte sich nicht mehr so verkrampft an. Der Zucker der Shortbreads half tatsächlich, mich ein wenig wacher zu machen, und es tat gut, noch etwas anderes außer Energydrinks im Bauch zu haben.
Außerdem fühlte ich mich plötzlich nicht mehr allein in der Bibliothek. Der Fremde und ich lieferten uns mit unseren Hausarbeiten einen Wettlauf gegen die Zeit. Doch seine bloße Anwesenheit gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Selbst wenn ich fallen, wenn mich eine Panikattacke vom Stuhl zwingen würde, wusste ich, jemand wäre da, um mich aufzufangen.
Denn der Schotte und ich sahen ständig zueinander auf. Jedes Mal, wenn unsere Blicke sich trafen, zwinkerte er oder reckte einen Daumen hoch, und ich spürte ein Lächeln über meine Lippen huschen.
Es wurde zu einem kleinen Spiel, das mir half, wach zu bleiben. Nachdem wir alle Gesten mehrfach ausgetauscht hatten, schnitten wir irgendwann Grimassen, die bis Sonnenaufgang nur dämlicher wurden.
dachte ich,...