Mandelstam / Dutli Bahnhofskonzert
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403308-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Ossip-Mandelstam-Lesebuch
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
ISBN: 978-3-10-403308-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ossip Mandelstam, am 15. Januar 1891 in Warschau in einer jüdischen Familie geboren, studierte in Petersburg, Paris und Heidelberg. Seine Gedichtbände ?Der Stein? (1913) und ?Tristia? (1922), autobiographische Prosa ?Das Rauschen der Zeit? (1925) und ?Die ägyptische Briefmarke? (1928), sowie seine Essays ?Über Poesie? (1928), sind Meilensteine der russischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Ab 1929 politischer Verfolgung ausgesetzt, konnte sein Werk erst Jahrzehnte nach seinem Tod erscheinen. Mandelstam ist eines der prominenten Opfer von Stalins Regime der Terrorjahre. Aufgrund eines satirischen Epigramms auf Stalin im Mai 1934 verhaftet und verbannt, wurde er 1938 erneut verhaftet und zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Er starb am 27. Dezember 1938 in einem Lager bei Wladiwostok. Seine Gedichte wurden von seiner Frau, Nadeschda Mandelstam, auswendig gelernt, versteckt und von Helfern in die USA geschmuggelt. Das Gesamtwerk, auf Deutsch 1985 bis 2000 im Ammann Verlag erschienen, ist im S. Fischer Verlag erhältlich.
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DER BÜCHERSCHRANK
Wie ein einziger Krümel Moschus ein ganzes Haus mit seinem Duft erfüllt, so überflutet der kleinste Einfluss des Judaismus ein ganzes Leben. Oh, wie ist er stark, dieser Geruch! Ich musste ja merken, dass es in jüdischen Häusern anders roch als in den arischen. Und nicht nur die Küchen rochen anders, sondern auch die Menschen, die Gegenstände, die Kleider. Noch heute erinnere ich mich, wie der süßliche jüdische Geruch im Holzhaus meines Großvaters und meiner Großmutter an der Kljutschewaja-Straße im deutschen Riga mich einhüllte. Schon der Arbeitsraum meines Vaters bei uns zu Hause hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem granitenen Paradies meiner schönen Spaziergänge, schon er führte mich in eine mir fremde Welt, und das Kunterbunt seiner Einrichtung hat sich meinem Geist als unauflösliche Verbindung eingeprägt. Da war vor allem der handgefertigte eichene Lehnstuhl mit einer Balalaika und einem Fausthandschuh darauf und der Inschrift »Eile mit Weile« auf dem kleinen Bogen der Rückenlehne – ein Tribut an den pseudorussischen Stil unter Alexander dem Dritten. Dann der türkische Diwan, mit Hauptbüchern vollgepackt, deren Blätter aus Zigarettenpapier von einer winzigen gotischen Handschrift mit Geschäftsbriefen in deutscher Sprache beschrieben waren. Anfangs glaubte ich, die Arbeit meines Vaters bestehe darin, seine Briefe auf das Zigarettenpapier zu drucken, wenn er die Kurbel der Kopiermaschine drehte. Noch heute scheint mir der Geruch von Joch und Arbeitsmühe ein alles durchdringender Geruch von gegerbtem Leder zu sein, und die tatzenförmigen Glacélederstücke, die auf dem Fußboden lagen, und die fingerhaft lebendigen Auswüchse des flaumweichen Wildleders – all dies schwimmt, zusammen mit dem bürgerlichen Schreibtisch und seinem marmornen Tischkalender, in dichtem Tabakdunst und dem Rauchgeruch des Leders. Und inmitten der spröden Einrichtung dieses Arbeitsraumes stand ein kleiner Bücherschrank mit Glastür und einem grünen Taftvorhang. Von dieser Bücheraufbewahrung möchte ich nun erzählen. Der Bücherschrank der frühen Kindheit ist ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. Die Anordnung seiner Fächer, die Auswahl der Bücher, die Farbe der Buchrücken gilt ihm als die Farbe, Höhe und Anordnung der Weltliteratur selbst. Ja, jene Bücher, die nicht im ersten Bücherschrank gestanden haben, werden es nie schaffen, ins Weltgebäude einzudringen, das die Weltliteratur bedeutet. Ob man will oder nicht, ist jedes Buch im ersten Bücherschrank klassisch, und auch nicht einen einzigen Buchrücken könnte man daraus entfernen.
Diese seltsame kleine Bibliothek hatte sich im Laufe der Jahrzehnte wie geologische Schichtungen nicht zufällig so abgelagert. Das väterliche und das mütterliche Element in ihr hatten sich nicht vermischt, sondern existierten getrennt voneinander, und der kleine Schrank war ein Längsschnitt durch die Geschichte der geistigen Bemühungen eines ganzen Geschlechts und des mit ihm vereinigten fremden Blutes.
Das unterste Fach ist in meiner Erinnerung stets das chaotische: Die Bücher standen nicht Rücken neben Rücken, sondern lagen da wie Ruinen. Rötlich braune Sammlungen der Fünf Bücher Mose mit zerrissenen Einbänden, eine Geschichte der Juden, in der schwerfälligen und zaghaften Sprache eines russisch schreibenden Talmudisten. Es war das in den Staub gestürzte judäische Chaos. Auch meine althebräische Kinderfibel fiel sehr bald dorthin, da ich ohnehin kein Hebräisch lernen mochte. In einem Anfall heimatverbundener Reue stellten meine Eltern für mich einen richtigen jüdischen Hauslehrer ein. Da kam er dann aus seinem Händlerviertel und gab mir Unterricht, ohne seine Mütze abzunehmen, was mich verlegen machte. Sein Russisch war fehlerlos, doch klang es falsch. Meine hebräische Kinderfibel zeigte auf allen Bildern – je nachdem mit einer Katze, mit einem Buch, einem Eimer oder einer Gießkanne – ein und denselben Jungen, der eine Schirmmütze trug und ein sehr trauriges Erwachsenengesicht hatte. In diesem Jungen erkannte ich mich nicht wieder und lehnte mich deshalb mit meinem ganzen Wesen gegen dieses Buch und gegen das Studium auf. Etwas an diesem Lehrer war für mich verblüffend, auch wenn es ganz unnatürlich klang: sein Stolz auf das jüdische Volk. Er sprach von den Juden, wie eine Französin von Hugo oder Napoleon spricht. Doch ich wusste, dass er seinen Stolz verbergen würde, sobald er auf die Straße hinaustrat, und deshalb glaubte ich ihm nicht.
Über den judäischen Ruinen begann eine Ordnung der Bücher. Es waren die Deutschen: Schiller, Goethe, Kerner und Shakespeare in deutscher Sprache – alte, in Leipzig oder Tübingen erschienene Ausgaben, dickbauchig und knirpsig, in bordeauxroten, bedruckten Einbänden, mit kleinem, für jugendliche, gesunde Augen gedachtem Druck und weichen Kupferstichen in leicht antikisierendem Stil: flehend händeringende Frauen mit gelöstem Haar, eine Lampe, die eher wie ein großer Leuchter gezeichnet war, Reiter mit hoher Stirn, und als Vignetten – Weintraubenhenkel. Es waren die Bücher meines Vaters, der sich als Autodidakt aus dem Talmud-Dickicht in die germanische Welt durchgeschlagen hatte.
Weiter oben standen die russischen Bücher meiner Mutter – unter anderem Puschkin in der Ausgabe von Issakow aus dem Jahr 1876. Noch heute finde ich, dass das eine herrliche Ausgabe ist, und sie gefällt mir besser als die Akademieausgabe. In ihr gibt es nichts Überflüssiges, das Schriftbild ist harmonisch schön, die Verskolonnen strömen frei dahin wie fliegende Bataillone und werden angeführt von klugen, exakten Jahreszahlen bis hin zum Todesjahr 1837. Die Farbe Puschkins? Jede Farbe ist zufällig – welche müsste man sich für ein Sprachengemurmel ausdenken? Ach, dieses idiotische Farbenalphabet Rimbauds!
Mein Puschkin hatte ein Gewand, das gar keiner bestimmten Farbe angehörte, er stand da im Kaliko-Einband der Schulbücher, in einem schwarzbraunen, ausgeblichenen Gewand mit sandig erdfarbenem Einschlag; er fürchtete weder Flecken noch Tinte, weder Feuer noch Kerosin. Ein Vierteljahrhundert lang hatte das sandig schwarze Gewand liebevoll alles in sich aufgesogen – und die geistige Schönheit dieses Alltagskleides, die fast körperliche Anmut des Puschkins meiner Mutter ist für mich eine lebendige Empfindung geblieben. In diesem Buch steht mit rötlich brauner Tinte die Widmung: »Der Schülerin der 3. Klasse für ihren Fleiß«. Mit diesem Puschkin verknüpft sind Erzählungen über ideale Lehrer und Lehrerinnen mit Schwindsuchtröte auf den Wangen und durchlöcherten Stiefelsohlen – die achtziger Jahre in Wilna. Meine Mutter und besonders meine Großmutter sprachen das Wort »Intellektueller« mit großem Stolz aus. Bei Lermontow war der Einband blaugrün und irgendwie soldatisch – er war ja auch Husar. Nie ist er mir als Bruder oder Verwandter Puschkins erschienen, während ich Goethe und Schiller für Zwillinge hielt. Dort jedoch erkannte ich das Andersartige und trennte die beiden bewusst. Denn nach Puschkins Tod im Jahr 1837 rauschten sowohl das Blut wie auch die Verse ganz anders.
Und was waren Turgenjew und Dostojewskij? Eine Beilage zur Zeitschrift »Ackerland«. Äußerlich sahen sie sich wie Brüder ähnlich. Pappbände, mit einer dünnen, durchsichtigen Hülle überzogen. Auf Dostojewskij lag ein Verbot, eine Art Grabplatte, und man sagte von ihm, dass er »schwer« sei. Turgenjew war vollkommen erlaubt und stand mir offen mit seinem Baden-Baden, den »Frühlingsfluten« und seinen gemächlichen Gesprächen. Doch ich wusste bereits, dass es ein so ruhiges Leben wie bei Turgenjew nicht mehr gab und nirgends mehr geben konnte.
Aber wollt ihr nicht den Schlüssel zu dieser Epoche haben, jenes Buch, das von den vielen Berührungen heiß geworden war, das um keinen Preis sterben wollte und wie lebendig im engen Sarg der neunziger Jahre lag; jenes Buch, dessen Seiten vorzeitig vergilbten, sei’s vom vielen Lesen, sei’s von der Sonne auf den Gartenbänken eines Landhauses, und dessen erste Seite die Züge eines Jünglings mit inspiriertem Haarschopf offenbarte, Züge, die zur Ikone geworden waren? Wenn ich mir das Gesicht des Jünglings Nadson genauer ansehe, so verblüfft mich das wirkliche Feuer in diesen Zügen und gleichzeitig deren völlige Ausdruckslosigkeit, ihre beinah hölzerne Einfalt. Ist nicht das ganze Buch so? Und war nicht die ganze Epoche genau so? Schick ihn nach Nizza, zeig ihm das Mittelmeer – er wird doch immer nur sein Ideal besingen und seine leidende Generation, mag er auch eine Möwe dazutun oder einen Wellenkamm. Lacht nicht über den Nadson-Kult – er ist ein Rätsel der russischen Kultur, und eigentlich ist sein Klang nicht zu ergründen, weil wir nicht dasselbe hören und verstehen, was die Menschen damals gehört und verstanden haben. Wer war er denn, dieser hölzerne Mönch mit den ausdruckslosen Zügen des ewigen Jünglings, dieser entrückte Götze der studierenden Jugend (ja gerade der studierenden Jugend, die für ein paar wenige Jahrzehnte das auserwählte Volk war), dieser Prophet der Poesieabende von Gymnasiasten? Wie oft habe ich, als ich bereits wusste, dass Nadson ein schlechter Dichter war, sein Buch wiedergelesen und mich bemüht, den dichterischen Hochmut der Gegenwart abzulegen, die kränkende Ahnungslosigkeit dieses Jünglings zu übersehen und seinen Klang so zu hören, wie jene Generation ihn gehört hatte. Wie sehr haben mir die Tagebücher und Briefe Nadsons dabei geholfen: immer wieder – schwere literarische Feldarbeit, Kerzenlicht, Beifallklatschen, glühende Gesichter, der...