Mankell | Die falsche Fährte | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Mankell Die falsche Fährte

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-552-05606-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

ISBN: 978-3-552-05606-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sommer 1994, der wärmste Sommer seit Jahren. Die Schweden sitzen vor dem Fernseher, um die Fußball-WM zu verfolgen, und Kommissar Wallander in Ystad macht Ferienpläne. Da ruft ihn ein verstörter Bauer um Hilfe, dem auf einem seiner Felder das merkwürdige Verhalten eines jungen Mädchens aufgefallen ist. Als Wallander eintrifft, legt das Mädchen Feuer an sich und verbrennt sich vor seinen Augen. Kurz darauf schlägt ein Serienkiller mit einer Reihe brutaler Morde zu. Wallander steht vor seinen kompliziertesten Ermittlungen. 'Die falsche Fährte' ist ein unerhört spannender Roman voll emotionaler Kraft, eine literarische Ermittlung, die mitten ins Herz unserer Gesellschaft zielt.

Henning Mankell (1948 - 2015) lebte als Schriftsteller und Theaterregisseur in Schweden und Maputo (Mosambik). Seine Romane um Kommissar Wallander sind internationale Bestseller. Zuletzt erschienen bei Zsolnay Treibsand (Was es heißt, ein Mensch zu sein, 2015), die Neuausgabe von Die italienischen Schuhe (Roman, 2016), Die schwedischen Gummistiefel (Roman, 2016) und die frühen Romane Der Sandmaler (2017), Der Sprengmeister (2018) und Der Verrückte (2021).
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Dominikanische Republik


1978

Prolog


Kurz vor der Morgendämmerung erwachte Pedro Santana davon, daß die Petroleumlampe angefangen hatte zu blaken.

Als er die Augen aufschlug, wußte er zuerst nicht, wo er war. Er war aus einem Traum gerissen worden, den er nicht verlieren wollte. Er hatte sich durch eine sonderbare Felslandschaft bewegt, wo die Luft sehr dünn war und er das Gefühl hatte, daß alle Erinnerungen im Begriff waren, ihn zu verlassen. Die blakende Petroleumlampe war als der entfernte Geruch von vulkanischer Asche in sein Bewußtsein gedrungen. Aber plötzlich war auch noch etwas anderes da: ein Laut von einem gepeinigten, keuchenden Menschen. Da war der Traum geborsten, und er mußte wieder in den dunklen Raum zurückkehren, in dem er jetzt schon sechs Tage und Nächte verbracht hatte, ohne mehr als dann und wann ein paar Minuten zu schlafen.

Die Petroleumlampe war erloschen. Um ihn her war nichts als Dunkelheit. Er saß vollkommen reglos. Die Nacht war sehr warm. Das Hemd klebte an seinem verschwitzten Körper. Er merkte, daß er roch. Es war lange her, daß er die Energie aufgebracht hatte, sich zu waschen.

Dann hörte er das Keuchen wieder. Er erhob sich vorsichtig vom Erdboden und tastete mit den Händen nach dem Plastikkanister mit Petroleum, der an der Tür stehen mußte. Es hatte geregnet, während er schlief, dachte er, als er sich im Dunkeln vortastete. Der Boden unter seinen Füßen war feucht. Von weitem hörte er einen Hahn krähen. Er wußte, daß es der Hahn von Ramirez war. Er war immer der erste Hahn im Dorf, der vor der Morgendämmerung krähte. Der Hahn war wie ein ungeduldiger Mensch. Ein Mensch wie die, die in der Stadt lebten, die ständig so viel zu tun zu haben glaubten, daß sie nie für etwas anderes Zeit hatten als für die Pflege ihrer eigenen Eile. Es war nicht wie hier im Dorf, wo alles so langsam ging, wie das Leben eigentlich war. Warum sollten die Menschen laufen, wenn die Pflanzen, von denen sie lebten, so langsam wuchsen?

Seine Hand stieß an den Petroleumkanister. Er zog den Stofflappen heraus, der in der Öffnung steckte, und wandte sich um. Das Keuchen, das ihn in der Dunkelheit umgab, wurde immer unregelmäßiger. Er fand die Lampe, zog den Korken heraus und füllte vorsichtig Petroleum ein. Zugleich versuchte er sich zu erinnern, wo er die Streichhölzer hingelegt hatte. Die Schachtel war fast leer, fiel ihm ein. Aber es müßten noch zwei oder drei Streichhölzer da sein. Er stellte den Plastikkanister ab und tastete mit den Händen über den Fußboden. Fast sofort stieß er gegen die Streichholzschachtel. Er riß ein Streichholz an, zog den Glaszylinder hoch und sah, wie der Docht zu brennen begann.

Dann drehte er sich um. Er tat es voller Furcht, weil er das, was ihn erwartete, nicht sehen wollte.

Die Frau, die im Bett an der Wand lag, würde sterben. Er wußte jetzt, daß es so war, auch wenn er sich bis zuletzt eingeredet hatte, daß die Krise bald überstanden wäre. Seinen letzten Fluchtversuch hatte er im Traum unternommen. Jetzt gab es kein Entkommen mehr.

Ein Mensch konnte dem Tod nie entkommen. Weder seinem eigenen noch dem, der einen seiner Nächsten erwartete.

Er hockte sich neben das Bett. Die Petroleumlampe warf unruhige Schatten an die Wände. Er sah ihr Gesicht an. Sie war noch jung. Obwohl ihr Gesicht bleich und eingefallen war, war sie schön. , dachte er und spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Er fühlte ihre Stirn. Das Fieber war wieder gestiegen.

Er warf einen Blick durch das kaputte Fenster, das mit einem Stück Pappe ausgebessert worden war. Noch keine Dämmerung. Ramirez’ Hahn war noch immer der einzige, der krähte. , dachte er.

Plötzlich schlug sie die Augen auf. Er ergriff ihre Hand und versuchte zu lächeln.

»Wo ist das Kind?« fragte sie mit einer Stimme, die so schwach war, daß er die Worte kaum verstand.

»Sie schläft bei meiner Schwester und ihrer Familie«, antwortete er. »Es ist das Beste so.«

Sie schien sich bei seiner Antwort zu entspannen. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Viele Stunden.«

»Hast du die ganze Zeit hier gesessen? Du mußt ausruhen. In ein paar Tagen brauche ich nicht mehr hier zu liegen.«

»Ich habe geschlafen«, erwiderte er. »Bald bist du wieder gesund.«

Er fragte sich, ob sie merkte, daß er log. Er fragte sich, ob sie wußte, daß sie nie wieder aufstehen würde. Belogen sie sich in ihrer Verzweiflung gegenseitig? Um das Unausweichliche erträglicher zu machen?

»Ich bin so müde«, sagte sie.

»Du mußt schlafen, um gesund zu werden«, sagte er und wandte den Kopf ab, damit sie nicht sähe, wie schwer es ihm fiel, sich zu beherrschen.

Kurz darauf drang das erste Morgenlicht ins Haus. Sie war in die Bewußtlosigkeit zurückgesunken. Er saß auf dem Boden neben ihrem Bett. Er war so müde, daß er seine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle zu halten vermochte. Sie wanderten frei durch seinen Kopf, ohne daß er sie lenken konnte.

Als er Dolores zum erstenmal traf, war er einundzwanzig Jahre alt. Mit seinem Bruder war er den langen Weg nach Santiago de los Treinta Caballeros gelaufen, um den Karneval anzusehen. Juan, der zwei Jahre älter war, hatte die Stadt schon früher besucht. Aber für Pedro war es das erste Mal. Sie hatten drei Tage gebraucht für den Weg. Dann und wann hatten sie ein paar Kilometer auf einem Ochsenkarren mitfahren dürfen. Aber den größten Teil des Wegs waren sie gegangen. Einmal hatten sie auch versucht, schwarz in einem überlasteten Bus mitzufahren, der auf dem Weg in die Stadt war. Aber man hatte sie entdeckt, als sie an einer Haltestelle auf das Busdach klettern wollten, um sich zwischen Koffern und verschnürten Bündeln zu verstecken. Der Fahrer hatte sie weggejagt und beschimpft. Er hatte geschrien, daß es so arme Menschen gar nicht geben dürfe, die nicht einmal Geld für Busfahrkarten hatten.

»Ein Mann, der einen Bus fährt, muß sehr reich sein«, hatte Pedro gesagt, als sie auf der staubigen Straße weitergingen, die sich durch endlose Zuckerplantagen schlängelte.

»Du bist dumm«, erwiderte Juan. »Das Geld für die Fahrkarten bekommt der, der den Bus besitzt. Nicht der, der ihn fährt.«

»Wer ist das?« fragte Pedro.

»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Juan. »Aber wenn ich in die Stadt komme, zeige ich dir die Häuser, in denen sie wohnen.«

Schließlich waren sie am Ziel. Es war ein Tag im Februar, und die ganze Stadt war im wildesten Karnevalsrausch. Sprachlos hatte Pedro all die farbenfrohen Kostüme betrachtet, an deren Säume glitzernde Spiegel genäht waren. Die Gesichtsmasken, die Teufeln oder verschiedenen Tieren ähnelten, hatten Pedro anfangs erschreckt. Es war, als schwinge die ganze Stadt im Takt mit Tausenden von Trommeln und Gitarren. Der erfahrene Juan hatte ihn durch die Straßen und Gassen der Stadt gelotst. Nachts schliefen sie auf Bänken im Parque Duarte. Die ganze Zeit war Pedro besorgt, Juan könnte im Menschengewimmel verschwinden. Er fühlte sich wie ein Kind, das Angst hat, Vater oder Mutter zu verlieren. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er wollte nicht, daß Juan ihn auslachte.

Und doch geschah es. Es war der dritte Abend, der ihr letzter sein sollte. Sie waren auf der Calle del Sol, der größten Straße der Stadt, als Juan plötzlich zwischen den verkleideten, tanzenden Menschen verschwunden war. Sie hatten keinen Treffpunkt vereinbart für den Fall, daß sie getrennt würden. Er hatte bis tief in die Nacht nach Juan gesucht, ohne ihn zu finden. Auch auf den Bänken im Park, wo sie die vorherigen Nächte geschlafen hatten, fand er ihn nicht. Im Morgengrauen hatte Pedro sich an eine der Statuen auf der Plaza de Cultura gesetzt. Er hatte Wasser aus einem Brunnen getrunken, um seinen Durst zu löschen. Aber er hatte kein Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. Er dachte, das einzige, was er tun könne, sei, den Weg wiederzufinden, der nach Hause führte. Wenn er nur aus der Stadt herauskäme, würde er sich in eine der vielen...


Butt, Wolfgang
Wolfgang Butt, geboren 1937, langjähriger Hochschuldozent für Skandinavistik und Kleinverleger von Literatur aus Skandinavien. Seit 1995 freiberuflicher übersetzer, u.a. von P.O. Enquist, Arne Dahl und sämtliche Kriminalromane von Henning Mankell.

Mankell, Henning
Henning Mankell (1948 - 2015) lebte als Schriftsteller und Theaterregisseur in Schweden und Maputo (Mosambik). Seine Romane um Kommissar Wallander sind internationale Bestseller. Zuletzt erschienen bei Zsolnay Treibsand (Was es heißt, ein Mensch zu sein, 2015), die Neuausgabe von Die italienischen Schuhe (Roman, 2016), Die schwedischen Gummistiefel (Roman, 2016) und die frühen Romane Der Sandmaler (2017), Der Sprengmeister (2018) und Der Verrückte (2021).



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