Martin | Das Wasser wird mich an dich erinnern | Buch | 978-3-96362-221-2 | sack.de

Buch, Deutsch, 416 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 202 mm, Gewicht: 482 g

Martin

Das Wasser wird mich an dich erinnern


German Auflage
ISBN: 978-3-96362-221-2
Verlag: Francke-Buch GmbH

Buch, Deutsch, 416 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 202 mm, Gewicht: 482 g

ISBN: 978-3-96362-221-2
Verlag: Francke-Buch GmbH


Murphy Shepherd ist ein Mann voller Geheimnisse. Er lebt auf einer kleinen Insel an der Küste Floridas, allein mit Zitrusbäumen, Rosenstöcken und einer verlassenen alten Kapelle. Eines Tages rettet er eine verletzte Frau namens Summer aus den Fluten der Wasserstraße und von da an ist nichts mehr, wie es war. Er unterstützt sie bei ihrer verzweifelten Suche nach ihrer spurlos verschwundenen Tochter. Dabei fühlt er sich nicht nur immer mehr zu Summer hingezogen, sondern gerät auch in den Strudel dunkler Machenschaften von Mädchenhändlern, die entlang der Ostküste agieren.

Eine fesselnde, temporeiche und dennoch poetische Erzählung von Heldenmut und der heilenden Kraft der Liebe. Inspiriert vom Gleichnis des guten Hirten auf der Suche nach dem verlorenen Schaf.

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VORSPANN

In der Ferne stieg eine Rauchsäule auf. Dick und schwarz quollen die Wolken aus den zwei Turbodieseln im Motorenraum. Orangerot schlugen die Flammen vor dem immer dunkler werdenden blauen Horizont nach oben und verrieten mir, dass das Feuer um sich griff. Wenn die Hitze die Tanks erreichte, würden sie die millionenschwere Jacht in tausend Stücke reißen und die Einzelteile auf den Grund des Meeres schleudern.
Ich drehte das Steuerrad meines Konsolenboots hart nach Steuerbord und rammte den Gashebel nach vorn. Der Wind hatte aufgefrischt. Die knapp einen Meter hohen Wellen trugen weiße Wellenkämme. Ich fuhr die Trimmklappen nach unten, um das Heck höher aus dem Wasser zu bringen, und der Boston Whaler schoss auf das sinkende Schiff zu. Nach weniger als drei Minuten erreichte ich mein Ziel. Die 75-Meter-Jacht »Gone to Market« hatte Schlagseite nach Lee und trieb im Wasser. Gut hundert Einschusslöcher im Hinterschiff erklärten, wieso sie Ruder und Motor verloren hatte. Und wieso es an Deck brannte.
Sie sagten mir aber auch, dass Fingers es an Bord geschafft hatte.
Wellen schlugen über dem Bug zusammen. Wasser drang in die Kombüse und Gästequartiere ein. Das Heck stand bereits in der Luft, der Bug füllte sich mit Wasser und die Bugspitze deutete gefährlich tief in Richtung Atlantikboden. Ob nun durch die Explosion oder das eindringende Wasser verursacht , die »Gone to Market« war kurz vorm Untergang. Ich fuhr mit dem Whaler ans Heck und legte an der Badeplattform an. Dann warf ich eine Leine vom Bug locker über einen Handlauf und sprang aufs Hauptdeck, wo ich in der Lounge auf drei Leichen mit mehreren Einschusswunden stieß. Ich stieg die Wendeltreppe zum Brückendeck hinauf. Zwei weitere Leichen lagen dort.
Keine Spur von Fingers.
Ich trat die Tür zum Schiffsbüro auf, stolperte über eine weitere Leiche und rannte zur Brücke, wo mich eine Welle salzigen Wassers überraschte, die durch die zerborstene Frontscheibe krachte. Wer hier gewesen war, den hatten die Wellen schon hinausgespült. Ich stieg zum Oberdeck und stürzte in die Lounge. Victors Frau lag unnatürlich verrenkt auf dem Boden. Sie wies drei Schusswunden auf. Fingers hatte sie also zuerst erwischt. Aber das Magazin der Waffe in ihrer Hand war leer. Das war nicht gut. Ich riss eine Axt von der Wand und schlug mir den Weg durch die Tür aus Mahagoni zu Victors Privatkajüte frei. Victor, ebenfalls drei Mal von Kugeln getroffen, lag mit gebrochenem Genick auf der Erde. Ein Hinweis darauf, dass er unter Schmerzen den Weg ins Jenseits angetreten hatte.

Das Schiff neigte sich mit einem Ruck nach vorn. Es war kurz vorm Kentern. Ich hatte nur noch wenige Augenblicke Zeit, um Fingers und die Mädchen zu finden und von diesem Ding herunterzukommen, bevor es uns mit sich in die Tiefe zog oder in tausend Stücke zerriss. Ich sprang die Treppen herunter und wandte mich nach achtern zum Motorraum, aber er stand unter Wasser. Also watete ich durch hüfttiefes Wasser in die Kabinen der Crew, vorbei an Victors Gebetsschrein zum Ankerraum, wo sich das Wasser bereits rot gefärbt hatte.
Und dort fand ich schließlich Fingers.
Eigentlich hörte ich ihn, bevor ich ihn sah. Seinen gurgelnden Atem. Als ich um die Ecke kam, grinste er schief, aber das Lachen war ihm vergangen. Er hielt seine Sig Sauer in der Hand, hatte aber nicht mehr die Kraft, um sie anzuheben, auch wenn das Magazin leer war. Ich legte den Arm um seinen Kopf und zog ihn in Richtung Treppe, aber er zeigte auf die Tür des Ankerraums. »Da ...«, mehr konnte er nicht sagen.
Wasser drang durch den Türschlitz. Ich zog am Riegel, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich watete zurück in den Motorraum, schwamm auf die andere Seite, immer darauf bedacht, möglichst nicht den giftigen und in den Augen brennenden Qualm einzuatmen, nahm ein Brecheisen von der Wand und kehrte zum Ankerraum zurück. Dort klemmte ich die Spitze in die Türmechanik und zog. Meine Beine nutzte ich als Hebel.

Hinter mir hörte ich Gelächter. »Mehr hast du nicht drauf?« Fingers röchelte und spuckte Blut. »Du musst ziehen … fester!«
Also zog ich mit aller Kraft, die einst auch in Fingers gesteckt hatte. Als der Wasserdruck von innen und meine Hebelkraft das Schloss endlich knackten, sprang die Tür auf und presste mich und Fingers so lange gegen die Wand, bis sich das Wasser verteilt hatte. Ich hörte gedämpfte Schreie. Fingers zeigte auf die Sauerstoffflasche direkt hinter der Tür. Daneben hingen verschiedene Gewichte und Ausrüstungsgegenstände, darunter auch ein Unterwasserscheinwerfer. Ich warf kurz einen Blick auf den Atemregler, schob die Arme durch die Tragegurte der Tauchflasche, schaltete den Scheinwerfer ein und schwamm die Treppe in den dunklen Schiffsbauch hinunter.
Ich fand sieben völlig verängstigte Mädchen, eng aneinandergedrängt, in einer fast verbrauchten Luftblase im Bug. Mit ein wenig Zureden und einem kurzen Verweis auf die Titanic bildeten wir eine Kette, und ich leitete sie durch das dunkle Wasser und die Treppe hinauf. Als sie das Tageslicht wiedersahen, schwammen die Mädchen eilig voran und kletterten am mittlerweile schräg stehenden Kiel empor in Richtung Hauptdeck und Whaler.
Ihnen allen stand die Angst ins Gesicht geschrieben, sie zitterten und waren fast nackt. Marie war nicht darunter. Ich schwamm noch einmal ins schwarze Loch, konnte aber Marie nicht finden.
Ich eilte zu Fingers, der schon halb ohnmächtig war. Schnell rüttelte ich ihn. »Fingers! Fingers!« Er öffnete die Augen. »Marie? Wo ist Marie?«
Er versuchte etwas zu sagen.
Ich beugte mich näher zu ihm.
Er schüttelte den Kopf. »Fort.«
»Was soll das heißen, ›fort‹?«
Er öffnete seine Hand und eine leere Pillendose fiel ins Wasser. Seine Augen waren feucht mit Tränen. »Über Bord.« Er zögerte, als wolle er nicht sagen, was geschehen war. »Mit einem Gewicht am Fuß.«
Ein entsetzliches Bild baute sich vor meinem inneren Auge auf. Seine Endgültigkeit drohte mich zu ersticken.
Ich legte mir Fingers’ Arm um die Schulter. Da spürte ich ein Einschussloch, das ich bisher nicht entdeckt hatte. Ich tastete vorsichtig auf der anderen Seite des Brustkorbs. Fingers’ rechte Hand drückte auf die Austrittswunde. Er schüttelte den Kopf. Die Kugel war neben seinem Rückgrat eingedrungen und aus dem Brustkorb wieder ausgetreten.

Ich stopfte ein Stück seines T-Shirts in das Loch, steckte seine Sig hinter meine Weste und zog ihn durch den immer dichter werdenden Qualm nach oben auf das Hauptdeck. Während ich ihn noch mitschleifte, sah er auf seine abgewetzte Sig in meinem Hosenbund und lächelte. »Die will ich zurück.« Er musste husten. »Wenn die Knarre reden könnte ...«
Die Wellen warfen den Whaler herum wie einen Schwimmer an der Angelschnur. Alle sieben Mädchen waren schon an Bord. Ich legte mir Fingers über die Schulter und wartete den richtigen Zeitpunkt ab, um auf die Bugplattform zu springen. Wir landeten, fielen hin und eins der Mädchen löste schnell die Leine. Ich rammte den Gashebel wieder nach vorn. Wir waren vielleicht eine Viertelmeile weit gekommen, als hinter uns eine ohrenbetäubende Explosion erfolgte. Fingers drehte den Kopf. Ein Feuerball verschlang die »Gone to Market« und Abertausende von Einzelteilchen dieser Superluxusjacht regneten vor der nordöstlichen Küste Floridas auf den Atlantik nieder. Fingers sackte wieder in den Bug des Whalers, der sich mit seinem Blut füllte. Er lachte zufrieden. Ich drehte in Richtung Ufer ab, stellte den Motor aus und setzte den Kiel auf ein sandiges Paradies, das Fingers nie erreichen würde.
Er bekam kaum noch Luft und konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Dass er überhaupt so lange durchgehalten hatte, war mir ein Rätsel. Patrick »Fingers« O’Donovan war knallhart und butterweich gewesen, seit ich ihn kannte. Stoisch. Weise. Völlig unerschrocken. Selbst jetzt noch war er ruhig.
Meine Lippen bebten und mein Kopf raste. Ich brachte keinen vernünftigen Satz heraus.
Er sackte allmählich weg und ich versuchte, ihn mit Reden wachzuhalten. »Fingers, nicht einschlafen. Bleib bei mir ...« Als das nicht funktionierte, benutzte ich das einzige Wort, dass jetzt noch zu ihm durchdrang: »Pater!« Bevor er begonnen hatte, für die Regierung zu arbeiten, war Fingers Priester gewesen. Und wenn man ihn geradeheraus fragte, bestand er darauf, dass er es heute noch war.
Fingers’ Blick wurde wieder scharf. Er versuchte zu grinsen und zischte durch die zusammengebissenen Zähne: »Hab mich schon gefragt, wann du endlich auftauchst. War aber auch höchste Zeit. Wo warst du so lange?« Alles um ihn herum war rot.
So sollte es nicht enden.
Fingers zeigte auf eine abgenutzte orangefarbene und wasserdichte Kiste, die an die Konsole gebunden war. Er ging nirgendwo ohne sie hin, was bedeutete, dass die Kiste schon mehrere Hunderttausend Kilometer auf dem Buckel hatte. Immer wenn ich an Fingers dachte, war diese blöde orangefarbene Kiste nicht weit. Und auch wenn wir selten mit anderen Leuten über unsere Arbeit redeten, war er – in der richtigen Stimmung – ungewöhnlich gesprächig in Bezug auf zwei Dinge: Essen und Wein. Beides schätzte er mit geradezu religiösem Eifer. Daher die unfallgeprüfte, wasserdichte, sturzerprobte Kiste. Er nannte sie immer liebevoll seine »Brotbüchse«. Niemand, auch nicht ich, konnte Fingers von einer Mahlzeit oder einem Glas Wein bei Sonnenuntergang abhalten. Manche Menschen begehen wichtige Augenblicke in ihrem Leben mit einer Zigarre oder Zigarette. Fingers brauchte dazu ein Glas Rotwein. Vor Jahren hatte er aus seinem Keller einen Weinkeller gemacht. Besucher wurden grundsätzlich durch den Keller geführt und durften Wein verkosten. Als richtiger Sommelier hielt er oft sein Glas gegens Licht, schwenkte es leicht und sagte: »Die Welt in einer Flasche.«
Eins der Mädchen löste den Gummizug und brachte mir die Kiste. Als ich sie aufklappte, legte Fingers eine Hand auf den Wein und sah mich an.
Er stellte mir eine Frage, die ich nicht hören und noch weniger beantworten wollte. »Du bist der Priester, nicht ...«
»Hör auf. Keine Zeit dafür.«
»Aber ...«
Sein Blick bohrte sich in meine Seele.
»Ich ...«
Er mühte sich mit jedem Wort. »Zuerst das Brot. Dann den Wein.«
Ich riss ein Stück Brot ab und sprach die Worte nach, die ich schon Hunderte Male aus seinem Mund gehört hatte. »Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird ...« Dann legte ich es ihm auf die Zunge.

Er schob es im Mund herum und versuchte zu schlucken, bekam aber nur einen Hustenanfall. Als er sich wieder beruhigt hatte, zog ich den Korken, setzte die Flasche an und ließ den Wein bis zu seinen Lippen laufen. »Dies ist mein Blut, das für euch vergossen wird ...« Er blinzelte. Meine Stimme versagte wieder. »Sooft ihr das tut, verkündigt ihr ...« Ich schwieg.
Er vervollständigte den Satz, bevor der Wein ihm in den Mund floss. Das Lächeln auf seinen Lippen passte zu dem in seinen Augen. Ich würde sein Lächeln vermissen. Vielleicht am meisten von allem. Es ging mir immer durch und durch. Das war schon immer so gewesen. Der Wein füllte seinen Mund und floss an den Seiten wieder heraus.
Wieder bekam er einen Hustenanfall. Ich umklammerte Fingers’ Körper, den die Wellen zum Schaukeln brachten. Ein Atemzug. Dann zwei. Er nahm seine Kraft zusammen und zeigte aufs Wasser.
Ich zögerte.
Fingers verdrehte die Augen, fokussierte seinen Blick dann aber unter großer Anstrengung wieder auf mich. Dann nannte er mich bei meinem Namen. Etwas, was er nur tat, wenn er wirklich meine Aufmerksamkeit wollte. »Bishop.«
Ich zog Fingers über das Seitendeck und ins warme Wasser. Sein Atem wurde flacher. Seltener. Er gurgelte mehr. Seine Lider flatterten auf und zu. Er dämmerte mir davon. Plötzlich packte er mein Hemd und zog mich zu sich heran. »Du bist ... was du bist, was du schon immer warst ...«
Ich watete in das hüfthohe Wasser, klar wie Gin. Fingers trieb neben mir her. Die Mädchen hockten beieinander und sagten nichts, weinten nur. Die Wellenströmung zog eine rote Spur mit sich fort. Fingers tippte an meine Brust und zeigte mit seiner anderen Hand Zahlen. Zuerst alle fünf Finger, dann zwei. Also eine Sieben. Wieder fünf Finger, diesmal verschwanden nur zwei. Eine Acht. Eine kurze Pause, dann wieder eine Sieben, gefolgt von einer Null. Seine rätselhaften Bewegungen hießen 78-70.
Vor Jahren hatte ich diesen simplen Code von ihm gelernt und wusste, dass Fingers die Psalmen zitierte. Er kannte sie auswendig. Die Zahlen 78 und 70 wiesen auf König David hin. Gott »nahm ihn von den Schafhürden weg«. Aber eigentlich sprach Fingers von uns. Am Anfang meiner Lehrzeit bei ihm, vor über fünfundzwanzig Jahren, als ich noch im zweiten Jahr der Academy war, hatte mich Fingers aus dem Unterricht geholt und etwas sehr Seltsames gesagt: »Was weißt du über Schafe?« Seitdem waren wir eine Million Kilometer zusammen gelaufen. Fingers war für mich Chef, Mentor, Freund, Lehrer, Weiser, Clown und manchmal sogar Vaterfigur geworden.
Ohne ihn wäre mein Leben anders verlaufen.
Während seiner Berufslaufbahn war Fingers an vielen Orten gewesen, wo auch nur das geringste Geräusch seinen Tod bedeutet hätte. Deswegen hatte er angefangen, mithilfe seiner Finger Zahlen zu kommunizieren, die auf einzelne Psalmtexte hinwiesen – was ihm den Spitznamen »Fingers« eingebracht hatte. Der Trick dabei war, dass sein Gegenüber entweder die Psalmen genauso gut kennen musste wie er oder zumindest Zugang zu einer Bibel brauchte.
Fingers’ Leben floss langsam ins Meer und er zog mich noch einmal zu sich heran. »Was ... weißt du ... über Schafe?«
So hatte es mit uns angefangen. Und so würde es enden. Ich versuchte mich an einem Lächeln. »Sie wandern ziellos herum.«
Er wartete. All das waren Lektionen, die er mir erteilt hatte. Jede hatte über ein Jahr in Anspruch genommen, bevor ich sie begriffen hatte.
»Sie verlaufen sich oft.«
»Wieso?«
»Weil sie es können.«
»Und wieso?«
»Weil das Gras woanders immer grüner ist.«
»Und das ist ...«
»Murphys Gesetz.«
»Genau.«
»Sie sind ein einfaches Opfer. Der Löwe ist nie weit entfernt.«
Nicken.
»Und sie finden allein oft nicht nach Hause.«
»Also brauchen sie ...«
»Einen Hirten.«
»Was für einen?«
»Einen, der das warme Feuer und die Sicherheit der Herde verlässt und sich Kälte, Regen und schlaflosen Nächten stellt, um ...« Ich schwieg.
»Um?«
»Um das eine zu finden.«
»Und wieso?«
Mir liefen mittlerweile die Tränen. »Weil ... das eine Schaf besondere Hilfe braucht ...« Ich konnte nicht mehr weiterreden.
Er schloss die Augen und legte eine Hand flach auf meine Brust. Selbst jetzt noch brachte er mir Dinge bei. Er zeigte mir den Grund, wieso er gerade in meinen Armen starb. Er war dem einen Schaf gefolgt und hatte sieben Schafe daraus gemacht.
Fingers zog sich zu mir heran. Ein letzter Kraftakt. »Muss dir noch was geben ...« Er holte einen blutverschmierten Brief aus seinem Hemd. Die Handschrift gehörte ihr.
Er drückte ihn mir flach auf die Brust. »Vergib ihr.«
Ich sah ihn ungläubig an. »Vergeben?«
»Sie hat dich geliebt.«
Blut rann ihm aus dem Mundwinkel. Es war tiefrot. Er schüttelte mich. »Bis zum Ende ...«
Ich hielt den Brief fest und vergaß zu atmen.
»Wir sind alle nur Kinder, die Hilfe brauchen«, gurgelte er.
Ich starrte auf das Papier. Das Gewicht der Hoffnungslosigkeit. Die Tränen rollten mir die Wangen hinunter.
Fingers hob seinen noch funktionierenden Arm und wischte sie mir ab. Auch er weinte. Wir hatten so lange nach ihr gesucht. Waren so kurz davor gewesen … Aber am Ende doch versagt zu haben, das war ...
Er lächelte und versuchte etwas zu sagen, aber die Kräfte schwanden ihm. Stattdessen legte er die Hand um die Kette an meinem Hals. Sie war dem Gewicht seines Arms nicht gewachsen, riss und umschmiegte seine Finger. Das Kreuz, das er mir aus Rom mitgebracht hatte, pendelte daran. »Sie ist jetzt zu Hause. Kein Kummer mehr. Keine Schmerzen. Keine Sorgen.«
Ein Augenblick verging. Er schloss die Augen, schwebte im Wasser und flüsterte. »Eins noch ...«
Meine Hände waren warm und rot vom blutigen Wasser. Ich konnte seinen Puls nicht mehr fühlen. Ich wusste, was er wollte, und ich wusste, dass es wehtun würde. Aber ich konnte ihn nicht gehen lassen und drückte ihn an mich, während sein Leben zerrann.
»Verteil meine Asche dort, wo es angefangen hat mit uns ... am Ende der Welt.«
Ich versuchte, nicht zu schluchzen und ließ die Tränen laufen. Mein innerer Blick ging tausend Kilometer nach Süden. »Ich kann nicht ...«
Er verschränkte die Arme. Die Kette hing noch an seiner Hand. Sein Lächeln wurde schwach. Alles war verschwommen. Ich nickte zum letzten Mal. Er ließ los und lag schlaff in meinem Arm. Seine Worte waren verklungen. Er hatte alles gesagt. Nur sein Atem war noch zu hören.
Ich beugte mich zu ihm, brachte ein gekrächztes »Ich werde dich vermissen« heraus. Er blinzelte. Zu mehr war er nicht mehr in der Lage. Ich versuchte mich zusammenzureißen. »Bereit?«
Seine Augen verdrehten sich wieder. Dann sammelte er ein letztes Mal aus seinem tiefsten Inneren Kraft und sah mich an. Er war vielleicht bereit; ich war es nicht. Die Worte auf den Seiten seines Lebens verblassten; Schwarz wurde zu Weiß. Von irgendwoher brachte er einen letzten Rat heraus. Er tippte mir auf die Brust und murmelte, »Schlepp sie nicht mit dir herum. Das bringt dich um ...«
Mit einer Hand unter seinem Nacken und einer auf dem Loch in seiner Brust sprach ich mit Blick hinaus aufs Wasser. Ich wiederholte, was er mich gelehrt hatte. »Im Namen des Vaters ... des Sohnes ... und des ...« Dann drückte ich ihn unter Wasser.
Ich hielt ihn nur eine Sekunde lang dort, aber es genügte. Sein Körper wurde schlaff. Die letzten Luftbläschen stiegen aus seinem Mund auf und das Wasser wurde rot.
Er war größer als ich, aber trotzdem leicht. Als wäre seine Seele bereits fort. Zurück an der Oberfläche merkte ich, dass seine Augen offen waren, aber er sah mich nicht an. Zumindest nicht in dieser Welt. Und die Stimme, die ich zehntausend Mal gehört hatte, war verstummt. Ich zog ihn an den Strand und legte ihn in den Sand. Die Wellen überspülten seine Knöchel. Da fiel mein Blick auf seine Hände. Seine Arme waren verschränkt, aber seine Finger sprachen so laut, dass es selbst der Himmel hören musste: »2-2«.
»Es ist vollbracht.«
Ich zog ihn an mich und weinte wie ein Kind.
Die Küstenwache verteilte Decken an die Mädchen und legte bei drei von ihnen Infusionen. Der Kapitän kannte Fingers und kam zu mir, um mir beim Tragen seiner Leiche zu helfen. Einer der Männer bot mir an, mein Boot für mich zum Hafen zu fahren, damit ich neben Fingers sitzen konnte, aber ich lehnte ab. Irgendwo da draußen war Maries Leiche.
Ich hatte versagt.
Ich folgte der Strömung und setzte den Whaler wieder auf Sand. Das Meer konnte nun zwei Dinge tun: Entweder es verschlang Marie in der Tiefe oder spülte ihre Leiche an Land. Stunden später, als die Sonne schon hinter dem Meer versank, stand ich mit salz- und blutverkrusteter Haut am Strand und faltete den Brief auf. Sein Gewicht zwang mich in die Knie. Die Wellen umspülten meine Oberschenkel.
Die Worte verschwammen vor meinen Augen.

Geliebter,
ich weiß, dass dieser Brief dich schwer treffen wird ...

Ich wischte mir die Tränen ab und lief bis zur Morgendämmerung am Strand entlang. Dabei las ich den Brief im Licht des Mondes und der Sterne wieder und wieder. Jedes Mal tat es mehr weh. Jedes Mal wurde ihre Stimme leiser.
Die Strömung spülte sie an Land, als die Sonne über den Horizont brach. Ich zog ihren schlaffen bleichen Leichnam an die Brust und weinte. Wütend. Laut. Mit gebrochenem Herzen. Ihre Haut war durchsichtig und kalt. Ich sah keinen Sinn mehr im Leben. Weder in dem, was gewesen war, noch in dem, was da noch kam. Ich war verloren. Ich küsste ihr Gesicht. Ihre kalten Lippen.
Aber nichts brachte sie zurück.
Das Seil um ihren Knöchel war mit einem Messer durchgeschnitten worden. Also hatte sie irgendwo in der Dunkelheit dort unten ihre Meinung geändert. Sie war tot, aber selbst jetzt sprach sie noch mit mir. Krallte sich am Leben fest. Wir lagen da und die Wellen überspülten uns. Ich drückte meine Wange an ihre.
»Erinnerst du dich an den Abend, als ich dich fand? Alle suchten nach dir, aber niemand suchte so weit draußen. Und doch warst du dort. Schwammst zehn Kilometer weit draußen im Wasser. Du warst so kalt. Du zittertest. Dann ging uns anderthalb Kilometer vom Festland entfernt der Sprit aus, und ich musste uns nach Hause rudern. Du hattest Angst, dass wir es nicht schaffen. Aber ich hatte dich gefunden. Ich wäre die ganze Küste Floridas entlanggepaddelt, wenn ich nur in diesem Boot bleiben konnte. Dann machten wir ein Feuer und du kuscheltest dich an mich. Ich weiß noch, wie mir der Wind ins Gesicht blies. Das Feuer wärmte mir die Beine und dein Duft umwehte mich. Ich wollte nur noch dasitzen und atmen. Die Sonne anhalten. Sie bitten, noch ein paar Stunden zu warten. Da legtest du deine Hand in meine und gabst mir einen Kuss auf die Wange. ›Danke‹, hast du geflüstert, und ich spürte deinen Atem am Ohr.
Ich war ein Niemand. Ein sechzehnjähriger Schatten, der durch die Flure schlich. Ein Typ mit einer kleinen Nussschale von Boot, aber du machtest aus mir jemanden. Diese Nacht war unser Geheimnis, und von da an sahen wir uns fast jeden Tag. Irgendwie fandest du immer einen Weg, zu mir zu kommen. Im letzten Schuljahr warst du die Einzige, die daran glaubte, dass ich einen neuen Rekord aufstellen würde. Unter achtundvierzig Sekunden. Ich überquerte die Linie, die Uhr zeigte ›siebenundvierzig Komma irgendwas‹ und ich brach zusammen. Wir hatten es geschafft. Ich weiß noch, wie die Startpistole knallte, aber an das Laufen erinnere ich mich nicht. Nur ans Fliegen. Schweben. Eintausend Menschen kreischten, aber ich hörte nur deine Stimme.
Ich weiß nicht, wie ich diesen Strand verlassen soll. Wie ich von hier weggehen soll. Fingers hat gesagt, ich solle dir vergeben, aber ich kann nicht. Es gibt nichts zu vergeben. Nicht das Geringste. Nicht einmal dieser eine Satz. Du sollst wissen, wie leid es mir tut, dass ich nicht früher da war. Es tut mir so leid. Ich habe alles gegeben. Aber das Böse ist real und manchmal sind wir schwerhörig. Ich wünschte, du hättest mich gehört. Bevor du gehst, bevor ... ich will nur, dass du weißt, das ich dich geliebt habe von dem Moment an, als ich dich zum ersten Mal sah, und du hast nie etwas getan – nie –, was diese Liebe hätte schmälern können.
Mein Kopf tut weh. Sehr sogar. Er zerbricht genau in der Mitte, und wenn ich aufstehe und dich von hier wegtrage, wird es noch schlimmer werden. Aber egal wohin ich gehe, dich werde ich bei mir tragen. Tief in meinem Inneren. Und jedes Mal, wenn ich baden gehe oder schwimmen, wenn ich etwas trinke oder durchs Wasser wate, wenn ich ein Boot steuere oder nur im Regen stehe, wird das Wasser mich an dich erinnern. Marie, solange es Wasser gibt, wirst du bei mir sein.«

Die Sonne ging auf und ich rief die Küstenwache. Der Helikopter landete direkt am Strand. Als die Besatzung anbot, Marie zu nehmen, lehnte ich ab. Ich trug sie selbst in den Vogel, verschränkte ihre Arme und drückte ihren Kopf an meine Brust. Und dann öffnete ich ihre Hand und legte meine hinein.
Mein Wehklagen war noch lauter als das Rattern der Rotoren.

Kapitel 1

Eine Woche verging. Ich aß fast nichts. Schlief kaum. Meistens saß ich den ganzen Nachmittag da und starrte aufs Meer. Die Tage vergingen. Sowohl Maries als auch Fingers’ letzter Wille sahen vor, dass sie eingeäschert werden sollten. Ich ließ es geschehen.
Fingers hatte mich gebeten, seine Asche ans Ende der Welt zu bringen; Marie hatte einen Ort gewählt, der etwas näher an zu Hause lag. In ihrem letzten Brief hatte sie mir aufgetragen, ihre Asche im flachen Wasser vor der Insel zu verstreuen, wo wir als Kinder gespielt hatten. Eine Woche lang stand ich mit der Urne am Strand und sah den Gezeiten zu. Flut, Ebbe. Flut. Ebbe. Aber ich konnte meine Beine nicht dazu bringen, ins Wasser hinauszuwaten. Trotz Maries letztem Wunsch kehrte ich letzten Endes nach Hause zurück und stellte die Urne auf den Küchentisch neben Fingers’ sterbliche Überreste, die ich in seine berühmte orangefarbene Kiste getan hatte. Ein ungleiches Paar und ein seltsamer Anblick. Eine violette Urne und eine hellorangefarbene Box. Ich starrte sie an. Sie starrten zurück.
Eine weitere Woche umkreiste ich sie wie der Mond. Tageslicht. Dunkelheit. Tag. Nacht.
Fingers hatte mir alles beigebracht, was ich wusste. Er hatte mich gefunden. Hatte mich zusammengeflickt, als Hopfen und Malz verloren schienen. In meiner dunkelsten Stunde war ich irgendwo am Strand aufgewacht, ein Schiffbrüchiger mit Algenschaum und Winkerkrabben, die mich in die Nase zwickten. Fingers hatte mich aufgehoben, sauber gemacht, mir zu essen gegeben und mir wieder das Laufen beigebracht. Er hatte mich gerettet, als ich eigentlich nicht mehr zu retten gewesen war. Sein Einfluss auf mein Leben war kaum zu ermessen. Die Stille und Abwesenheit seiner Stimme waren ohrenbetäubend.
Und das Leben ohne Marie war, wie in einer Welt aufzuwachen, der man die Sonne vom Himmel gestohlen hatte. Ich hatte ihren Brief immer bei mir. Las ihn unzählige Male. Ich legte ihn mir im Bett neben das Gesicht, damit ich vielleicht noch ihre Hand riechen konnte, die ihn geschrieben hatte, aber es half kaum. Ich konnte die Uhr nicht zurückdrehen. Aber genauso wenig konnte ich, sosehr ich mich auch mühte, die Endgültigkeit akzeptieren. Es schien unmöglich. Es ging nicht. Wie konnte sie tot sein? Der Gedanke daran, wie sie allein, in Todesangst, mit einem Strick um den Knöchel diese Welt verlassen musste und dabei von Scham und Reue verzehrt wurde, war kaum zu ertragen. Ich hatte bis zur Erschöpfung nach ihr gesucht. Hatte alles gegeben. Ich war so kurz davor gewesen und hatte doch auf ganzer Linie versagt. Als sie mich brauchte, war ich nicht da gewesen.
Vielleicht tat das am meisten weh. Ich hatte mein Leben damit verbracht, Verletzte zu retten, aber bei dem Menschen, den ich am meisten liebte, war es mir nicht gelungen.

Fort George Island liegt nördlich von Jacksonville in Florida und wird von Little Talbot Island vorm Atlantik geschützt. Wer die Wasserwege kennt, kann auf dem Fort George River vom Atlantik durch die Sandbänke und das Flachwasser rund um Little Talbot bis ins ruhige Gewässer um Fort George fahren. Fort George Island ist zwar geschützt, aber keineswegs versteckt. Die Küstenwasserstraße – die die Einheimischen als Clapboard Creek kennen – führt nördlich vom St. Johns River und dem Becken der Naval Station Mayport zum Nassau Sound und nach Amelia Island. Zwischen den beiden verbindet der Fort George River Clapboard Creek mit dem Atlantik.
Das bedeutet, dass man den Fort George River bequem sowohl von der Küstenwasserstraße als auch vom Atlantik her erreichen kann. Daher hat sich die ganze Bootskultur Nordfloridas hier versammelt – inklusive der Reichen, die entweder übers Wochenende auf Amelia, St. Simons oder Sea Island sind oder gleich hier überwintern. Bei Flut sieht der Fort George River aus wie jeder andere Fluss. Wasser überall. Aber nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche wartet eine andere Welt. Wenn sich das Wasser zurückzieht, steigen die Sandbänke um Fort George wie Atlantis empor und werden zu einem Spielplatz von der Größe von zwanzig oder dreißig Football-Feldern. An stark frequentierten Wochenenden sieht man hundert Boote vor Anker oder in einer langen Kette miteinander verbunden, alles, von einem Dreimeterkahn bis zu Sportbooten, Mittelkonsolenbooten, Geschossen mit drei Motoren, Schnellbooten und allem dazwischen. Hin und wieder liegt sogar eine 18 oder 23-Meter-Jacht im tieferen Wasser verankert und schickt ihre Beiboote auf den Spielplatz.
Die Wochenenden sind ein Kaleidoskop aus Farben und eine Geräuschexplosion. Die Bootskapitäne erregen auf drei Arten Aufmerksamkeit: durch die Farbe und das Design ihrer Boote, die Bikinifrauen an Bord und die Musik aus den Lautsprechern. Glasflaschen in Kühlbehältern, Campingstühle im Wasser, Kinder auf Flößen, Hunde, die Köderfischen nachjagen, Jungen, die Wurfnetze auswerfen, Jugendliche auf Jetskis, halb zerfallene Sandburgen, Strohhüte in allen Größen und Formen, alte Männer mit Drachen, Einmalgrills und Generatoren, sie alle bestimmen das Geschehen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sind die Sandbänke von Fort George eine Stadt für sich, die mit den Gezeiten kommt und geht.

Meine Insel ist eine der vielen kleinen Inseln, die Fort George umgeben. Der Zugang zum Tiefwasser über die Küstenwasserstraße im Westen und die flacheren Gewässer des Flusses im Süden und Osten sorgen dafür, dass auch ich von Wasser eingeschlossen bin. Aber anders als Fort George Island ist meine Insel klein und nur mit dem Boot erreichbar. Auf Fort George gibt es Häuser, Kirchen, Klubs, Touristen und eine alte Plantage; auf meiner Insel lebe nur ich.
Und so mag ich es auch.
Ich saß am Küchentisch, schlürfte meinen Kaffee und versuchte, die Urnen nicht mehr anzustarren. Um meinen Händen irgendetwas zu tun zu geben, säuberte ich Fingers’ Pistole. Und dann noch einmal. Und noch einmal. Es gefiel mir, wie abgenutzt sie sich anfühlte. Sie erinnerte mich an ihn und an die unzähligen Male, wie er sie in meiner Gegenwart aus dem Holster zog oder wieder hineinsteckte. Ich versuchte den Klang seiner Stimme oder den von Marie wieder zu hören und stellte mir ihre Gesichter vor, aber beide waren dumpf und verwaschen. Ich konnte sie nicht richtig erkennen. Mit jedem Tag wuchs mein Bedauern, und ich hörte mich immer wieder viele Worte sagen, die ich viel früher hätte sagen sollen.
Fingers’ Abschied war plötzlich gekommen, und obwohl ich immer wusste, dass es so kommen konnte, allein schon aufgrund unserer Berufswahl, war ich doch nicht darauf vorbereitet. Erst war er da, so groß wie das Leben selbst, und mein Herz und Kopf waren voll von ihm – und dann war er fort. Ich ging diesen letzten Tag mit ihm tausend Mal durch. »Wir können mehr Gebiet abdecken, wenn du dir die Küste vornimmst und ich den Horizont«, hatte er gesagt. Wir hätten uns nie aufteilen sollen. Ich hatte es doch eigentlich gewusst: Wenn er Victors Jacht zuerst fand, würde er nicht auf mich warten. Er war älter und vielleicht schon ein Stück langsamer, also wählte er die Holzhammermethode. Der Elefant im Porzellanladen. Mit der Sig Sauer voraus. Er war ziemlich dickköpfig, was das betraf. In dem Augenblick, als er nach der Schwimmleiter der Gone to Market gegriffen hatte, musste er gewusst haben, dass es eine Reise ohne Rückfahrschein war.
Aber deswegen vertrauten die Leute ihm und ließen sich von ihm retten. Und deswegen schwärmten so viele in höchsten Tönen von ihm.
Geschichten waren Fingers’ Ventil, um mit den Erinnerungen umzugehen. Sie sprudelten nur so aus ihm heraus – eine Geschichte hörte auf und die nächste begann. Natürlich musste man erst einmal dafür sorgen, dass er lange genug still saß, aber schon ein Glas mit dem »Saft der Erde« genügte, und die Tore öffneten sich. Und wenn sie es taten, dann setzte ich mich hin, hörte zu, lachte und weinte. Uns allen ging es so.
Ich stand vor der orangefarbenen Box und betrauerte die Stille. Ich musste allmählich in die Gänge kommen, aber ich zögerte es hinaus. Der Verlust eines geliebten Menschen war niederschmetternd. Der Verlust von zweien war ... Egal, wie sehr ich es versuchte oder wie lange ich dasaß und auf den Tisch starrte – es passte nicht in meinen Kopf, dass alles, was ich über sie wusste und mit ihnen erlebt hatte, nun in zwei Behältern in einem Meter Entfernung vor mir stand. Wenn ich aus der Küche ging und wieder hereinkam, wunderte ich mich, dass sie sich nicht bewegt hatten. Violett und Orange glotzten mich noch immer an.
Es war wie ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.

Am Sonntagnachmittag hatte sich der größte Teil der Partymeute von den Sandbänken zurückgezogen, aber ein Boot kam aus der Küstenwasserstraße und schob eine Bugwelle gegen das ablaufende Wasser vor sich her. Ein 8-Meter-Sportboot mit Doppelmotor, das als Beiboot zu einer der großen Jachten im Kanal gehörte. Zwei Kerle und zehn Mädels. Ohrenbetäubend laute Musik. Sie landeten auf einer Sandbank an, und die jungen Frauen und einer der Jungs stiegen von Bord. Der andere machte das Boot mit zwei Ankern fest, damit es nicht durch den Wind gedreht wurde und im Flachwasser auf Grund lief und er gute acht Stunden warten musste, bis er es wieder flottbekam. Offensichtlich wusste er, was er tat.
Seine Gäste verteilten sich auf der Sandbank und bauten ein Volleyballnetz auf. Die beiden Kerle waren nichts Besonderes. Tätowiert. Muskelbepackt. Ketten und Ohrringe. Wie alle anderen Möchtegerns auch. Aber die jungen Frauen waren bemerkenswert. Genau wie die Knappheit ihrer Bikinis. Das Bier und die Schirmchendrinks flossen, der Sonnenuntergang näherte sich und die Sandbank wurde bald zur Bühne eines Oben-ohne-Tanzwettbewerbs.
Das alles hatte ich schon so oft gesehen.
Ich ließ den Partylärm hinter mir und watete mehrere Hundert Meter durch das hüfthohe Wasser. Dann holte ich die Krabbenfalle ein, hob eine wütende Blaukrabbe heraus, steckte sie auf einen mittelgroßen Kreishaken und warf ein Carolina Rig in die tiefe Wasserstraße aus. Zwanzig Minuten später fing die Bremse meiner Rute an zu singen. Ein großer Roter Trommler blinkte, durch die Gerbstoffe im St. Johns und St. Marys River bronzen gefärbt, im Wasser. Sauber am Haken.
Ein Roter Trommler ist eine ordentliche Mahlzeit. Das Essen war also geklärt.
Fingers’ wasserdichte Box hatte den Erdball vermutlich ein halbes Dutzend Mal umrundet. Ein letzter Trip machte den Kohl also auch nicht fett. Ich schätze, es würde Fingers sogar gefallen. Außerdem würde die Box, falls das Boot voll Wasser lief, als eine Art Rettungsboje fungieren und womöglich mein Leben retten – Fingers’ Spezialität. Auf der Fahrt gen Süden erwarteten mich mehrere Hundert Meilen launisches und streckenweise unerbittliches Gewässer. Also plante ich genauso wie Fluggesellschaften – »Im unwahrscheinlichen Fall von Druckverlust in der Kabine«. Unwahrscheinlich, aber möglich. Ich machte Fingers’ Box auf dem Bug fest, weil ich wusste, dass ihm der Fahrtwind gefallen würde.
Eigentlich wollte ich den Whaler am Nachmittag für meine Fahrt an der Küste entlang vorbereiten, aber immer wieder blieb mein Blick an der Box hängen. Ich dachte an die vielen Male, als Fingers getan hatte, was er besonders gut konnte – alles besser machen. Vor Jahren hatte ich dem Whaler den Namen Gone Fiction gegeben aus Gründen, die nur mich etwas angingen. Fingers meinte, das sei ein bescheuerter Name. Ich erwiderte, er solle sich doch ein eigenes Boot kaufen, denn der Name würde nicht mehr geändert. Er wusste, wieso, und beließ es dabei.
Ich machte einen Ölwechsel. Dann tauschte ich den Propeller gegen einen mit mehr Steigung aus, der auf lange Strecken die Drehzahl des Motors bei höheren Geschwindigkeiten etwas reduzierte. Ich wollte Sprit sparen und zugleich die Höchstgeschwindigkeit auf über fünfundvierzig Knoten bringen, damit das Boot optimal im Wasser lag.
Ich räumte die Rechnungen von meinem Schreibtisch und setzte mich an die eine Sache, vor der es mir gegraut hatte. Ich verfasste die E-Mail, die ich niemals schreiben wollte. Und dann noch eine. Wie sagt man jemandem, dass ein geliebter Mensch gestorben ist? Ich weiß nicht, ob ich darauf eine Antwort geben kann. Als ich fertig war, starrte ich auf den Bildschirm. Eine geschlagene Stunde. Ein Anruf wäre besser gewesen – sie hätten es in jedem Fall verdient –, aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich hätte meine Gefühle nicht unter Kontrolle halten können. Also drückte ich auf Absenden, fuhr den Rechner herunter, schaltete das Mobiltelefon aus und wollte gerade überall das Licht löschen, als es klopfte. Das Klopfen hallte von der schweren Tür durch den Regen über die Wiese und bis hinein in das Fenster im ersten Stock der Scheune, wo mein Arbeitszimmer lag. Weil ich von Wasser umgeben lebe, sind Besucher sehr selten. Ich wartete, aber da war es wieder, dieses Mal begleitet von einer gedämpften Frauenstimme.
Einer jungen Frauenstimme.
Ich zog mir ein Hemd über, kletterte die Leiter hinunter, überquerte den Hof im Regen und schlich barfuß durch die Dunkelheit, bis ich ihren Rücken sehen konnte. Selbst von hinten war sie hübsch.
»Hallo«, sagte ich.
Sie machte einen Satz, fiel in die Hocke und schrie. Dann lachte sie erleichtert und zugleich verunsichert auf, als ich an ihr vorbei ins Licht trat.
Sie stand auf und richtete den Zeigefinger auf mich, aber sie zeigte knapp daneben und ihre Worte waren etwas undeutlich, fast lallend. »Man soll sich nich’ so an Leute anschleichen. Jetzt muss ich wirklich pinkeln. Haben Sie offen?«
Ich klappte den Riegel hoch und schwang die massive Eichentür auf. Unsere Bewegung löste die Bewegungslichter aus, und ich konnte sie besser sehen. Sie war wirklich eine schöne junge Frau. Modelgesicht. Laufstegbeine. Pilatesfigur. Barfuß, mit schlammigen Rändern. Sie hielt sich eine Regenjacke über den Kopf, um sich vor dem Nieselregen zu schützen, und lachte peinlich berührt. »Sie haben mir vielleicht einen Riesen...« Auf einmal nahm sie ihre Umgebung wahr und schlug eine Hand vor den Mund.

»Ich, äh ... mit Ihnen habe ich nicht gerechnet. Entschuldigung.«
Ich hatte sie schon auf der Sandbank gesehen.


Martin, Charles
Charles Martin ist New York Times-Bestsellerautor und hat bereits zwölf Romane verfasst. Er lebt mit seiner Frau Christy in Jacksonville in Florida.



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