E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Matar Im Land der Männer
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-22734-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-22734-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Suleiman ist neun Jahre alt, als sich die Welt, wie er sie kennt, für immer verändert. Es ist der Sommer 1979, und Tripolis liegt im gleißenden Sonnenlicht. Die Maulbeeren sind so süß, als kämen sie direkt vom Himmel. Aber es geschehen Dinge, die Suleiman nicht versteht und die ihm niemand erklärt. Denn Suleiman soll nicht wissen, dass sein Vater im Untergrund gegen Revolutionsführer Gaddafi arbeitet - und muss doch erleben, wie sich das Netz des Sicherheitsapparates immer enger um die Familie legt.
Hisham Matar, Sohn libyscher Eltern, wurde 1970 in New York City geboren, wuchs in Tripolis und, nach der Emigration der Familie, in Kairo auf. Seit 1986 lebt Hisham Matar in England. Er hat zwei international vielbeachtete Romane verfasst, 'Im Land der Männer' und 'Geschichte eines Verschwindens', die mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Für seine Memoiren 'Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater' erhielt Hisham Matar u.a. den Geschwister-Scholl-Preis, den PEN/Jean Stein Book Award, den Folio Prize und den Pulitzerpreis. Zuletzt erschien bei Luchterhand 'Ein Monat in Siena'.
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1
Ich erinnere mich an jenen letzten Sommer, bevor ich weggeschickt wurde. Wir schrieben das Jahr 1979, und die Sonne war überall. Tripolis lag strahlend und still in sie gebettet. Mensch, Tier und Ameise suchten verzweifelt nach Schatten, jenen wenigen grauen Flecken des Erbarmens, die ins allumfassende Weiß geschnittenwaren.Wahre Erleichterung kam jedoch erst mit der Nacht, wenn eine von der Leere der Wüste gekühlte Brise heranwehte, angefeuchtet vom rauschenden Meer, ein zögernder Gast, der schweigend durch die leeren Straßen strich, unsicher, wie weit er sich in das Reich des großen Fixsterns wagen durfte. Und schon stieg er wieder auf, dieser Stern, verlässlich wie je, und vertrieb die gesegnete Brise. Es wurde Morgen.
Das Fenster ihres Zimmers war weit offen, der Gummibaum draußen still und starr, sein Grün verschämt im frühen Licht. Sie war erst in Schlaf gefallen, als die Dämmerung grau am Himmel heraufzog. Aber selbst da war ich noch zu verwirrt, um von ihrer Seite zu weichen, und fragte mich, ob sie nicht gleich wieder hochschrecken würde, wie eine Handpuppe, die sich totgestellt hatte, ob sie sich nicht eine weitere Zigarette anstecken und mich wie erst vor Minuten noch anflehen würde, bloß nichts zu verraten, bitte, bitte, nichts zu verraten. Baba erfuhr nie von Mamas Krankheit. Sie wurde nur krank, wenn er auf Geschäftsreise und die Welt ohne ihn war. Dann schienen wir als stumme Mahnungen zurückzubleiben, leere Seiten, die mit der Erinnerung gefüllt werden mussten, warum die beiden überhaupt geheiratet hatten.
Ich saß da und betrachtete ihr schönes Gesicht, sah, wie sich ihre Brust beim Atmen hob und senkte, und wich nicht von ihrer Seite.Wieder und wieder hörte ich, was sie mir eben erzählt hatte, die Worte schwammen in meinem Kopf herum. Endlich erhob ich mich und ging ins Bett.
Als sie aufwachte, kam sie zu mir. Ich spürte ihr Gewicht neben mich sinken, ihre Finger in meinem Haar. Das Geräusch ihrer Nägel auf meinem Kopf erinnerte mich an ein ungutes Ereignis. Ich hatte mir eine Dattel in den Mund gesteckt, und erst als die kleinen Körperpanzer zwischen meinen Zähnen knackten, wurde mir klar, dass sie voller Ameisen war. Still lag ich da, tat so, als schliefe ich, und lauschte ihrem Atem, in den sich Tränen mischten.
Beim Frühstück versuchte ich, so wenig wie möglich zu sagen. Mein Schweigen machte sie nervös. Sie überlegte, was wir zu Mittag essen könnten. Sie fragte mich, ob ich gern Marmelade oder Honig hätte. Ich sagte nein, aber sie holte dennoch beides aus dem Kühlschrank. Und dann, wie immer morgens, wenn sie krank gewesen war, machte sie eine Spazierfahrt mit mir, um mich aus meinem Schweigen zu holen und wieder zu mir selbst zu bringen
Kurz bevor wir in die Gergarish-Straße bogen, die am Meer entlangführt, erschien wie aus dem Nichts Bahloul, der Bettler. Mama trat auf die Bremse und sagte: »Ya satir.« Er ging langsam hinüber auf ihre Seite, die schmutzigen Hände fest auf den Bauch gepresst, seine Lippen zitterten. »Hallo, Bahloul«, sagte Mama und wühlte in ihrem Portemonnaie herum. »Ich sehe dich, ich sehe dich«, sagte er, und obwohl er diese Worte fast immer murmelte, dachte ich diesmal, was für ein Idiot Bahloul doch sei und dass ich mir wünschte, er würde verschwinden. Ich sah ihn im Seitenspiegel, wie er mitten auf der Straße stand und das Geld, das Mama ihm gegeben hatte, an die Brust drückte, als hätte er einen Schmetterling gefangen.
Sie fuhr mit mir in die Stadt, zum Sesam-Mann auf dem Markt neben dem Märtyrerplatz, von dem man aufs Meer sieht, dem Platz mit der stolzen Statue von Septimius Severus, dem römischen Kaiser, der vor langer, langer Zeit in Leptis geboren wurde. Sie kaufte mir so viele Sesamstangen, wie ich nurwollte, die alle einzeln in weißes, an den Enden gedrehtes Wachspapier eingewickelt waren. Ich wollte nicht, dass sie die Stangen in ihre Tasche steckte. An solchen Tagen war ich stur. »Aber ich muss noch einkaufen«, sagte sie, »und so fallen sie dir gleich runter.« »Nein«, sagte ich und zog die Brauen zusammen, »ich warte draußen auf dich«, und marschierte zornig davon, ohne mich darum zu kümmern, ob ich sie verlieren und in der großen Stadt nicht wiederfinden würde. »Hör zu«, rief sie hinter mir her und zog damit die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. »Warte bei Septimius Severus auf mich.«
Auf der einen Seite des Marktes war ein großes Café, dessen Tische bis in die Passage reichten. Männer saßen dort und spielten Domino oder Karten. Ein paar der Gesichter kannte ich. Ihre Augen waren auf Mama gerichtet. Ich fragte mich, ob sie nicht ein weiteres Kleid tragen sollte.
Während ich mich von ihr entfernte, spürte ich, wie meine Macht über sie nachließ. Mitleid und Traurigkeit ergriffen mich, weil sie an diesen Morgen immer so großzügig und so verlegen war, als wäre sie nackt auf die Straße hinausgetreten. Ichwollte zu ihr laufen, ihre Hand halten und mich an ihrKleid klammern, während sie einkaufte und sich der Welt stellte, einer Welt voller Männer und Männergier. Ich zwang mich jedoch, nicht zurückzusehen, sondern konzentrierte mich auf die Läden unter den Bögen auf beiden Seiten der Passage. Schwarze Seidentücher bauschten sich sanft vor dem einen, vor dem anderen türmten sich mannshohe Stapel roter Kappen. Oben über den Durchgang spannten sich dunkle Stoffbahnen, zwischen denen hier und da weiße Lichtklingen hindurchstießen und den in der Luft schwimmenden Staub aufleuchten ließen. Reglos und schön beschienen sie Bögen und Boden, schossen jedoch wie Funken auf Köpfe und Körper der Passanten und ließen die Schattenweit dunkler erscheinen, als sie waren.
Der Platz draußen war sonnenüberflutet, die Erde fast weiß vor Helligkeit, und die dunklen Schuhe und Gestalten, die ihn überquerten, wirkten wieDinge, die über derWelt trieben. Ich wünschte, ich hätte Mama die Sesamstangen gegeben. Kleine Nadeln stachen mir in den Arm, und ich ärgerte mich, weil ich so stur gewesen war und mir so viele hatte kaufen lassen. Einen ganzen Armvoll trug ich herum, aber ich verspürte keinerlei Appetit.
Ich lehnte mich gegen den kühlen Marmorsockel von Septimius Severus. Der römischeKaiser stand über mir und streckte den Arm Richtung Meer, sein silberbeschlagener Gürtel wand sich unter dem Bauch um seinen Leib. »Libyen drängend, nach Rom zu sehen«, so beschrieb Ustaz Raschid diese Haltung. Ustaz Raschid lehrte Kunstgeschichte in der Al- Fateh-Universität und war der Vater meines besten Freundes Karim. Ich erinnerte mich, dass unser Führer in einer seiner Militäruniformen genauso dastand und mit dem Arm winkte, als am Revolutionstag die Panzer vor ihm vorbeifuhren. Ich wandte mich dem Meer zu, dem türkis leuchtenden Meer jenseits des Platzes. Es kam mir vor wie ein riesiges blaues Ungeheuer, das sich über den Rand der Welt schob. »Grrr …«, knurrte ich und fragte mich gleich, ob mich jemand gehört hatte. Mehrmals trat ich mit der Hacke gegen den Sokkel. Ich starrte auf den Boden, in die Hitze und das Gleißen und verspürte den Wunsch, mit offenen Augen einzuschlafen. Und dann, ohne dass ich nach ihm Ausschau gehalten hätte, fiel mein Blick direkt auf ihn: Da war Baba.
Er stand am Rand des Bürgersteigs in einer Straße auf der anderen Seite des Platzes und sah nach links und rechts, ob Autos kamen, so weit vorgebeugt, dass man glauben konnte, er würde gleich vornüberfallen. Bevor er auf die Straße trat, wedelte er mit der Hand und schnippte zweimal mit den Fingern. Ich kannte diese Geste. Manchmal machte er sie zu mir hin, als wollte er sagen: »Komm schon, komm schon«, dazu das Fingerschnippen: »He, wach auf.« Hinter ihm kam Nasser, Babas Büroangestellter. Er trug eine kleine, schwarz glänzende Schreibmaschine unter dem Arm und bemühte sich, mit Baba Schritt zu halten. Baba war bereits auf der Straße und kam in meine Richtung. Einen Moment lang fragte ich mich, ob er Nasser zu Septimius Severus brachte, um ihm all die Dinge zu erzählen, die er mir über den römischen Kaiser, Leptis Magna und Rom beigebracht hatte. Baba betrachteteNasser wie einen jüngeren Bruder, das sagte er immer wieder.
»Baba?« flüsterte ich.
Zwei dunkle Gläser wölbten sich wie Schildkrötenbuckel vor seinen Augen. Himmel, Sonne und Meer waren von Gott in Farben getaucht, auf die wir zeigen und sagen konnten, das Meer ist türkis, die Sonne bananengelb, der Himmel blau. Sonnenbrillen sind schrecklich, dachte ich, weil sie das alles verändern und ihre Träger so fern von uns halten. Erst vor wenigen Tagen hatte Baba uns zum Abschied geküsst. »Möge Gott dich sicher zu uns zurückbringen«, hatte Mama gesagt, »und möge die Reise sich lohnen.« Ich küsste seine Hand so, wie er es mir beigebracht hat. Er beugte sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr: »Pass auf deine Mutter auf, du bist jetzt der Herr im Haus«, und dabei grinste er mich an, wie es Leute tun, die denken, sie hätten dir ein Kompliment gemacht. Aber jetzt sieh, sieh doch nur: Hier geht er, ich könnte ihn berühren, hier, wo wir zusammensein sollten. Mein Herz schlug schneller. Er kam näher. Vielleicht meint er mich? dachte ich. Seine Augen waren nicht zu erkennen.
Ich sah seinen so vertrauten Gang – den Kopf leicht angehoben, die sauber geputzten Lederschuhe, wie sie mit jedem Schritt vor ihm auf den Boden klackten – und hoffte, dass er meinen Namen rufen, winken, mit den Fingern schnippen würde. Ich schwöre, wenn er das getan hätte, wäre ich ihm in die Arme geflogen. Als er ganz nah war, so nah, dass ich den Arm hätte ausstrecken können, um ihn zu berühren, hielt ich den Atem an, und meine Ohren füllten sich mit Stille. Ich betrachtete seinen ernsten Gesichtsausdruck –...