Buch, Deutsch, Band 63, 182 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 240 g
Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
Probleme der Theoriebildung und Methodologie
Buch, Deutsch, Band 63, 182 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 240 g
Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
ISBN: 978-3-593-38891-5
Verlag: Campus
Der Band versammelt zentrale, teilweise unveröffentlichte Aufsätze von Renate Mayntz zu den relevanten Fragen sozialwissenschaftlicher Methodologie und Theoriebildung. Die Themen reichen von Problemen der Kontextabhängigkeit über die Herausforderungen der Soziologie durch die moderne Biologie bis hin zu den Mikro-Makro-Beziehungen. Dabei werden auch die Konzepte Rationalität, Mechanismus und Emergenz beleuchtet.
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Inhalt
1 Sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteressen und
Erkenntnismöglichkeiten: Eine Einführung (2009). 7
2 Forschungsmethoden und Erkenntnispotenzial:
Natur- und Sozialwissenschaften im Vergleich (2005). 37
3 Einladung zum Schattenboxen: Die Soziologie und die
moderne Biologie (2008). 51
4 Rationalität in sozialwissenschaftlicher Perspektive (1999). 67
5 Kausale Rekonstruktion: Theoretische Aussagen im
akteurzentrierten Institutionalismus (2002). 83
6 Soziale Mechanismen in der Analyse gesellschaftlicher
Makrophänomene (2005). 97
7 Individuelles Handeln und gesellschaftliche Ereignisse: Zur
Mikro-Makro-Problematik in den Sozialwissenschaften (2000). 123
8 Emergence in Philosophy and Social Theory (2008). 133
9 Embedded Theorizing: Perspectives on Globalization
and Global Governance (2008). 157
Quellennachweise. 181
Wenn man als Sozialwissenschaftler, etwa durch die regelmäßige Lektüre von
Zeitschriften wie Nature, die jeweils neuesten Entwicklungen in den verschiedenen
Naturwissenschaften verfolgt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren,
dass es in Wissenschaften wie Genetik, Festkörperphysik, Astronomie
und Molekularbiologie alle paar Jahre einen deutlich erkennbaren Wissensfortschritt
gibt, während in den Sozialwissenschaften alle paar Jahre die Themen
und die Interpretationen wechseln. Natürlich gibt es auch in der Soziologie, der
Politikwissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft Wissensfortschritte, aber
im Großen und Ganzen scheint es, dass die wissenschaftliche Entwicklung in
den Naturwissenschaften kumulativ, in den Sozialwissenschaften dagegen eher
additiv ist. Zugleich kann man feststellen, dass der Wissensfortschritt in Naturwissenschaften
wie den eben genannten eng mit der Entwicklung neuer Forschungstechnik
- von Instrumenten, Apparaten und Verfahren - zusammenhängt,
während forschungstechnische Innovationen in den Sozialwissenschaften
keine nennenswerte Rolle zu spielen scheinen. Diesen Eindruck vermittelt unter
anderem das Heft Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft 2005 (Max-
Planck-Gesellschaft 2005). In den Abschnitten, in denen naturwissenschaftliche
Forschungslinien dargestellt werden, wird ständig ganz ausdrücklich vom
Erkenntnisgewinn durch neue Forschungstechnik gesprochen - durch noch
aufl ösungsstärkere Elektronenmikroskope, neue Detektoren, neue katalytische
Verfahren oder den Forschungsreaktor ITER. Dagegen werden forschungstechnische
Innovationen bei der Darstellung von Forschungsperspektiven, an denen
vor allem sozialwissenschaftliche Institute beteiligt sind, kein einziges Mal erwähnt.
Gibt es zwischen diesen beiden Beobachtungen einen Zusammenhang?
Oder anders gefragt: Wie ist der Zusammenhang zwischen Wissensfortschritt
und forschungstechnischer Entwicklung? Kann es sein, dass Technik in den
Naturwissenschaften, aber nur in den Naturwissenschaften eine zentrale Rolle
bei der kognitiven Innovation spielt?
Um dieser Frage nachzugehen, muss man zunächst zwischen Forschungstechnik
und Forschungslogik unterscheiden. Unter Forschungstechnik verstehe
ich materielle Artefakte, mit deren Hilfe wir Gegenstände unserer wissenschaftlichen Neugier erfassen, das heißt, direkt oder indirekt beobachten und messen,
und gegebenenfalls experimentell manipulieren. Forschungslogik bezeichnet
dagegen den bei der Ermittlung wissenschaftlichen Wissens benutzten methodischen
Ansatz, der es erlauben soll, gültige ("wahre") - und nachprüfbare -
Aussagen über Wirklichkeit zu machen. Die empirischen Sozialwissenschaften
haben sich am Modell der Naturwissenschaften orientiert und damit auch die
Forschungslogik der Naturwissenschaften übernommen. Sie suchten damit in
einer Zeit, in der Physik mehr galt als Metaphysik, den Status von Wissenschaften
zu reklamieren - was ihnen im englischen Sprachbereich, wo the sciences die Naturwissenschaften
meint, semantisch bis heute nicht ganz geglückt ist. Gewiss
ist der Königsweg der wissenschaftlichen Methode, das Experiment, für die
Sozialwissenschaften nur in engen Grenzen begehbar. Sozialwissenschaftliche
Laborstudien, wie sie unter anderem im Max-Planck-Institut zur Erforschung
von Wirtschaftssystemen durchgeführt werden (Jahresbericht 2004: 4-6), gibt
es allenfalls im Bereich individuellen Verhaltens, insbesondere von Entscheidungsverhalten,
und der Kleingruppendynamik. Aber auch die Naturwissenschaften
sind nicht alle Laborwissenschaften, sondern zum Teil sogenannte
"Feld wissenschaften", die ihre Objekte - Eisberge etwa, Ozonlöcher, Neutronensterne
oder Vulkanausbrüche - nicht zu Versuchszwecken manipulieren
können. Auf jeden Fall wollen die empirischen Sozialwissenschaften ebenso
wie die Naturwissenschaften ihre Gegenstände durch direkte Beobachtung
oder indirekt über Indikatoren erfassen, und für beide besteht wissenschaftlicher
Fortschritt zum einen darin, bislang unbekannte Phänomene zu ent decken
beziehungsweise bekannte genauer zu beschreiben, zum anderen aber in der
Feststellung bislang nicht bekannter beziehungsweise der Korrektur bislang
falsch interpretierter kausaler, genetischer und funktionaler Zusammenhänge.
Dabei kann man grob die Phase der Datenerhebung von der Phase der Datenanalyse
und Interpretation unterscheiden. Praktisch sind beide Phasen oft
eng verbunden, zumal wenn die Datenerhebung bereits von der Suche nach
Zusammenhängen gesteuert wird.
Wenn sich Natur- und Sozialwissenschaften in ihrer Forschungslogik nicht
unterscheiden, wie steht es dann mit dem Gebrauch technischer Hilfsmittel?
Forschungstechnik hilft uns zu "sehen", was für uns nicht sichtbar ist, hilft Frequenzen,
Strahlen und Partikel zu erfassen, die unsere Sinne nicht registrieren
können, und sie hilft zu manipulieren, was für unsere Hände zu klein ist. In den Naturwissenschaften wird Forschungstechnik in Form von Instrumenten, Apparaten und technisch basierten Verfahren dementsprechend beim Erfassen
von Gegenständen und bei ihrer experimentellen Manipulation genutzt. Es
war die Forschungstechnik, die es uns erlaubt hat, immer tiefer in die direkter
menschlicher Wahrnehmung unzugänglichen Bereiche des ganz Kleinen und
des ganz Großen einzudringen. Schon am Beginn der kognitiven Neurowissenschaften
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte ein Apparat, das zum
Präzisionsinstrument zur Zeiterfassung entwickelte Chronoskop eine wichtige
Rolle (Rötger 2004). Damit konnte man aber lediglich menschliche Reaktionsgeschwindigkeiten
messen. Heute erlauben es Positronenemissionstomografie und
Magnetresonanztomografi e, Vorgänge im lebenden Gehirn anhand messbarer
Indikatoren (zum Beispiel Stoffwechsel) zu beobachten. In der Astrophysik
haben die neuen Teleskope, Raumsonden und Forschungssatelliten die rasante
Entwicklung der letzten Jahrzehnte ermöglicht, während die neue Fluoreszenz-
Mikroskopie es im Nanobereich erlaubt, durch nichtinvasive Verfahren noch unverstandene
Prozesse in der Physiologie der Zelle aufzuklären. In den Laborwissenschaften
basieren auch Fortschritte in der experimentellen Manipulation
auf moderner Forschungstechnik; die Genforschung ist hierfür ein geläufi ges
Beispiel. Selbst bei der Erforschung von Vergangenem, das sich allenfalls aufgrund
von Spuren untersuchen lässt, die es hinterlassen hat und die wir erfassen
können, spielt moderne Technik eine entscheidende Rolle. Erst Satellitenaufnahmen
von einer Raumfähre aus erlaubten es, den Krater zu lokalisieren, der an
der Wende zwischen Kreidezeit und Tertiär durch den Einschlag eines circa 10
Kilometer großen Himmelskörpers entstand und unter anderem das lange Zeit
rätselhaft gebliebene Aussterben der Dinosaurier verursachte (Lausch 2004).
Und es brauchte moderne Bohrtechnik und chemische Analysetechnik, ehe es
gelang, durch die Analyse meterlanger Eisbohrkerne längst vergangenes Klima
zu rekonstruieren.
In allen diesen Fällen sind technische und theoretische Entwicklung in
einer Art von Ko-Evolution miteinander verbunden. Zwar scheint sich die
Entwicklung von Forschungstechnik, je voraussetzungsvoller sie wird, vom
substanziellen Forschungsprozess zu lösen und sich zu verselbstständigen, so
bei der Entwicklung von Teilchenbeschleunigern, Detektoren, Tomographen
oder hochempfi ndlichen Sensorchips, wie im Münchener Halbleiterlabor der
Max-Planck-Gesellschaft (Röhlein 2004). Aber als es zum Beispiel darum ging, die komplexe Struktur von Eiweißmolekülen mit den Methoden der Röntgen-
Kristallographie zu bestimmen, wussten die Forscher, was sie sehen und tun
können müssten, um ihre Fragen beantworten zu können; dieses Wissen stimulierte
dann die Entwicklung spezieller Apparate und Verfahren (Law 1976). Die
verfügbare Forschungstechnik bestimmt, was untersucht werden kann, aber es
sind die offenen Fragen der Wissenschaftler, die umgekehrt die Entwicklung
von Forschungstechnik anregen.
Ohne Zweifel wurde also die naturwissenschaftliche Entwicklung der Neuzeit
ganz wesentlich von der Verfügung über immer leistungsfähigere Instrumente
zur Beobachtung, Messung und experimentellen Manipulation in Bereichen
bestimmt, die dem Forscher nicht unmittelbar zugänglich sind. Die empirischen
Sozialwissenschaften brauchen dagegen keine technischen Krücken, um sich
ihrem Gegenstand zu nähern. Ihre Gegenstände sind menschlicher Erfahrung
direkt zugänglich. Menschen erfahren unmittelbar nicht nur das Tun und Lassen
anderer Menschen, sondern auch Ereignisse wie die Wiedervereinigung und
soziale Gebilde wie das Unternehmen Siemens oder den deutschen Staat. Dennoch
haben die Sozialwissenschaften beim Erfassen ihrer Gegenstände, beim
Beobachten, Messen und experimentellen Manipulieren Probleme. Die Gründe
dafür sind oft erörtert worden.
Da ist zum einen die Tatsache der Historizität sozialer Phänomene. Traditionen,
Familienformen, Produktionsweisen und Staaten haben sich ständig verändert;
sie sind gewissermaßen "moving targets", und die sind notorisch schwer
zu erfassen. Aber auch HIV-Viren sind ein "moving target", und auch die Erde
und die Gattung Homo sapiens haben Geschichte. Historische Wandelbarkeit
ist insofern keine prinzipielle Grenze der Erfassbarkeit. Sie zwingt allerdings
dazu, eher nach Wandlungsprozessen und ihren Ursachen als nach zeitlos gültigen
Eigenschaften von Phänomenen zu fragen.
Dann ist da zweitens die große Rolle schwer erfassbarer immaterieller Faktoren,
von Ideen, Glaubensinhalten und Werten für soziales Verhalten und soziales
Geschehen. Auch dies ist jedoch keine unüberwindbare Grenze; Ideologien,
Werthaltungen oder kulturelle Leitbilder lassen sich empirisch durchaus ermitteln.
Wo aber liegt dann das Problem? Das zentrale Problem ist der Konstruktcharakter
sozialer Makrophänomene. Das Verhalten von Individuen und die
Vorgänge in Kleingruppen wie Schulklassen oder Familien lassen sich grundsätzlich
direkt erfassen, auch wenn der Zugang etwa bei kriminellem Verhalten
oder zu den Zellen von Al Qaeda praktisch eingeschränkt ist. Die Sozialwissenschaften
haben sogar eine Zugangsmöglichkeit, die den Naturwissenschaften
fehlt: Sie können mit ihrem Gegenstand, mit Menschen sprechen. Der großen
Bedeutung sprachlicher Kommunikation bei der Datenerhebung entsprechend
ist vor allem das Befragen in den Sozialwissenschaften zu einer ausgefeilten Methodik entwickelt worden. Technische Artefakte spielen dabei abgesehen von Aufnahmegeräten keine Rolle. Soziale Makrophänomene jedoch, soziale Gebilde
wie Märkte oder Parteiensysteme existieren nicht als wahrnehmbare Ganze;
sie haben keine physische Realität. Moleküle, Mikroben und ferne Galaxien sind
prinzipiell sichtbar, auch wenn wir sie mit unbewaffnetem Auge nicht sehen
können. Aber das deutsche Parteiensystem, der Staat oder das Unternehmen
Siemens existieren nur als Strom von Aktionen, Interaktionen und Transaktionen;
sie sind nur greifbar in ihren Elementen und Produkten. Unternehmen,
so Gabel und Bruner (2003, X, 28-33), existieren weniger im geographischen
Raum als innerhalb von Märkten; aber auch ein Markt ist nichts weiter als ein
Strom von Transaktionen, die zwischen Zulieferern, Herstellern, Verkäufern
und Abnehmern stattfinden.
Nun hat uns schon Max Weber eingeschärft, dass "Verband" oder "Staat"
theoretische Konstrukte sind. Das gilt allerdings auch für manche naturwissenschaftliche
Kategorien etwa in der theoretischen Physik: Das "Atom" und
der "Urknall" sind ebenfalls theoretische Konstrukte. Phänomene wie Verbände
und Staaten (und wohl auch das Atom) sind aber, ontologisch gesprochen,
auch reale Konstrukte. Soziale Makrophänomene wie das Internet, die Deutsche
Bank oder die SPD jedenfalls sind in einem sehr direkten Sinn tatsächlich konstruiert,
das heißt, von realen Menschen handelnd erzeugt. Diese sozialen Konstrukte
lassen sich wissenschaftlich erfassen, indem man ihre Elemente, das Handeln
von Menschen, und ihre individuellen und kollektiven Hervorbringungen (zum
Beispiel Gesetze, Entscheidungen) erfasst. Dabei hilft es, dass Menschen nicht
nur über ihr eigenes Tun und Denken, sondern auch über Ereignisse Auskunft
geben können, die sie miterlebt haben oder an denen sie aktiv beteiligt waren.
Menschliche Tätigkeiten hinterlassen außerdem vielfältige schriftliche Spuren;
derartige prozessproduzierte Daten - Akten, Pläne, Berichte - erlauben es uns,
viele Arten von Transaktionen zu registrieren und zu zählen; zumal wo Geld
involviert ist, hinterlassen Transaktionen messbare Spuren. Gespräche und
schriftlich Festgehaltenes sind die wichtigsten sozialwissenschaftlichen Datenquellen,
auch für die Untersuchung von Makrophänomenen.