McDermid Northanger Abbey
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95967-997-8
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: HarperCollins
ISBN: 978-3-95967-997-8
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Northanger Abbey war der erste Roman den Jane Austen fertiggestellt hat. Veröffentlicht wurde er erst postum im Dezember 1817. In Austens Zeit waren 'gothic novels' sehr beliebt. Northanger Abbey ist eine Parodie dieser Schauerromane, ein Entwicklungsroman und eine Liebesgeschichte. Die internationale Bestsellerautorin Val McDermid hat die Handlung liebevoll in die Neuzeit transferiert. Statt Pferdegespann fährt man nun Auto, Nachrichten kommen per SMS anstatt von Dienstboten gebracht zu werden ... und statt klassischen Schauerromanen liest die Heldin Twilight. Mit ihrem unverwechselbaren Schreibstil, einer Prise Humor und viel Spannung hat Val McDermid dem Klassiker Northanger Abbey einen ganz neuen Schliff verpasst, der beweist, dass die Romane von Jane Austen zeitlos sind.
'McDermids clevere und präzise Art zu schreiben, spiegelt Jane Austens Stil auf wunderschöne Art wieder.' New York Times
'McDermid hat einen ganz eigenen, süffigen, vorsichtig-ironischen Ton gefunden.' NDR Kultur
'McDermids beweist ihr großes Talent, weil sie es schafft, die Austen-Charaktere so frisch und modern darzustellen, dass man sich fühlt, als würde man es zum ersten Mal lesen. Jane Austen würde applaudieren.'
Sunday Express
Die schottische Bestsellerautorin Val McDermid arbeitete als Journalistin und Bühnenautorin. Ihre psychologischen Krimis, für die sie zahlreiche Auszeichnungen erhielt, dienten mehrfach als Filmvorlage. Val McDermid lebt mit ihrem Sohn und ihrer Lebensgefährtin im Nordosten Englands.
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Für Catherine Morland war es eine Quelle ständiger Enttäuschung, dass ihr eigenes Leben der Welt in ihren Büchern nicht ähnlicher war. Oder vielmehr, dass die Bücher, in denen sie Ähnlichkeiten fand, so wenig aufregend waren. Viele Romane spielten in kleinen Dörfern und Städtchen auf dem Land wie dem Nest in Dorset, in dem sie wohnte. Zugegebenermaßen hatten sie meist nicht so lächerliche Namen wie die Orte im Piddle Valley, wo die Gemeinden ihres Vaters lagen. Es wäre schwierig gewesen, einen Liebesroman glaubhaft zu machen, der in Farleigh Piddle, Middle Piddle, Nether Piddle und Piddle Dummer spielte. Aber in jeder anderen Hinsicht waren Bücher über das Landleben genau wie ihr Zuhause, nur noch langweiliger, wenn das überhaupt möglich war. Die Bücher, die ihr Herz höherschlagen ließen, spielten nie an Orten, die sie schon einmal besucht hatte.
Cat, wie sie lieber genannt wurde, weil schließlich niemand die Teenagerjahre unter dem Namen durchlaufen sollte, den die Eltern ausgewählt hatten, war, schon solange sie sich entsinnen konnte, von ihrem Leben enttäuscht. Ihre Familie war in ihren Augen absolut durchschnittlich und sterbenslangweilig. Ihr Vater betreute mit gutmütigem Charme und einem Talent für Predigten, die nicht unbedingt unterhaltsam, aber auch nicht wirklich einschläfernd waren, fünf Gemeinden der Anglikanischen Kirche. Ihre Mutter hatte ihren Beruf als Grundschullehrerin zugunsten des unbezahlten Jobs der Frau des Pfarrers aufgegeben und widmete sich ihren Aufgaben ohne viele Klagen und mit genug Einfallsreichtum, um die denkbare Trostlosigkeit dieser Tätigkeit aufzulockern. Hätte es für sie ein Mitarbeiterjahresgespräch gegeben, so hätte die Beurteilung gelautet: „Annie Morland ist ein freundliches und fleißiges Mitglied des Teams, das Probleme als Herausforderungen betrachtet. Ihre Legehennen sind im dritten Jahr in Folge die besten im Piddle Valley.“ Ihre Eltern zankten sich selten, hatten nie ernsthaft Streit. Die beiden hatten kein einziges dunkles Geheimnis.
Selbst ihr Haus war für Cat eine Enttäuschung. Zehn Jahre vor ihrer Geburt hatte die Anglikanische Kirche das zugige neugotische Pfarrhaus an einen Werbemanager aus London verkauft und für den Pfarrer und seine Familie ein gut ausgestattetes modernes Haus gebaut, das jedoch den ästhetischen Reiz einer Cornflakes-Packung hatte. Obwohl es erst vor relativ kurzer Zeit errichtet worden war, hatte es schon genauso viele zugige Ecken entwickelt wie sein Vorgänger, ohne aber dessen Charme zu besitzen. Es war keine Kulisse, die ihre Fantasie auch nur im Geringsten anregte.
Als Kind war Cat ein Wildfang, geprägt von dem Wunsch, die Heldin ihres eigenen Abenteuers zu sein. Die Geschichten, die sie zuerst gehört und später selbst gelesen hatte, hatten ihre Vorstellungskraft beflügelt und ihr eine Fantasiewelt geschenkt, mit der sie spielen konnte. Ihre Freude darüber, dass sie Geschwister hatte – den älteren Bruder James und ihre jüngeren Schwestern Sarah und Emily –, war vor allem den Rollen geschuldet, die sie ihnen in ihren komplizierten Geschichten zuteilen konnte. Darin wurden Ungeheuer bekämpft, Gefangene befreit und ferne Planeten erobert.
Für die meisten Kinder, denen der Segen – oder der Fluch – einer so lebhaften Fantasie zuteilwurde, ist das natürliche Ventil die Schule. Aber Annie Morland hatte Erfahrungen aus erster Hand mit den „Erziehungsfabriken“, wie sie die Schulen nannte, und war nun fest davon überzeugt, dass ihre Kinder sich am besten in ihrem eigenen Unterricht entwickeln würden. Deshalb blieb Cat und ihren Geschwistern die Teilnahme am Alltag in der Schule und auf Spielplätzen verwehrt, der sie vielleicht mit den härteren Seiten der Wirklichkeit konfrontiert hätte. Niemals wurde ihnen das Geld fürs Schulessen geklaut, niemand demütigte sie vor der gesamten Klasse. Stattdessen waren sie ständig der genauen Kontrolle durch eine Mutter und einen Vater ausgesetzt, die nur das Beste für sie wollten.
James, der von der Natur mit einem wachen Geist und Intelligenz gesegnet war, hätte in jedem Bildungssystem, in das man ihn gesteckt hätte, Erfolg gehabt. Und Cat, der Geschichten wichtiger waren als Fakten, hätte sich nirgends besser geschlagen, wo immer man sie unterrichtet hätte. Sicherlich wären sie welterfahrener geworden, hätten sie sich vom Rockzipfel ihrer Mutter lösen können, aber wäre das der Fall gewesen, dann wäre ihre Geschichte zu alltäglich, um für den passionierten Leser von Interesse zu sein.
Eigentlich hatten sie wirklichen Kontakt mit Gleichaltrigen nur in dem kleinen Park, zu dem man eine Flussaue umgestaltet hatte, die dem Dorf aus Anlass des silbernen Thronjubiläums der Queen überlassen worden war. Das Geschenk war von einem internationalen Agrarunternehmen gekommen, das sich beim Prinzen von Wales beliebt machen wollte. Und außerdem hatte die Ackerfläche keinen wesentlichen landwirtschaftlichen Wert, da sie innerhalb eines Flussbogens des Piddle lag und deshalb nicht an eine der in der industriellen Landwirtschaft so geschätzten Großflächen angegliedert werden konnte. Im Park gab es einen Fußball- und einen Tennisplatz, einen Abenteuerspielplatz und, dank eines amerikanischen Ehepaars, das in das alte Schulhaus eingezogen war, ein rudimentäres Baseballfeld. Wenn die Schule aus war, wurde der Park zum Anziehungspunkt für die Kinder. Es wurde wenig offiziell organisiert, aber es gab immer irgendwelche spontanen Spiele, an denen die kleinen Morlands nur zu gerne teilnahmen. Besonders Cat mochte alle Arten von Ballspielen, bei denen man im Dreck rollte oder herumrutschte.
Cat entwickelte sich vom kleinen Wildfang zum Teenager, ohne sich in einem Schulfach oder einer sportlichen Disziplin durch außerordentliche Leistungen auszuzeichnen. Ihre Begeisterung hielt selten lange genug an, um solide Ergebnisse hervorzubringen. Oft verzweifelte ihre Mutter fast an der Aufgabe, dem Gehirn ihrer Tochter ein unregelmäßiges französisches Verb oder eine einfache algebraische Gleichung aufzuzwingen. Nach einem Spaziergang in der Natur saß Cat lieber am Feuer und erzählte Gespenstergeschichten, als über die Pflanzen und Tiere zu sprechen, die sie in Feld und Wald gesehen hatten. Wenn ihre Mutter darauf bestand, machte sie sich Notizen, verlegte sie aber umgehend. Wann immer sich die Möglichkeit bot, schweifte sie vom Unterrichtsstoff ab. Annie bemerkte dann plötzlich, dass ihre Tochter Gründe für die vielen Ehen Heinrichs VIII. aufzählte, statt etwas über die Außenpolitik der Tudors zu lernen.
Angesichts ihres ständigen Scheiterns versuchte Annie, eine Erklärung zu finden. Vielleicht gehörte Cat zu diesen Menschen, deren rechte Gehirnhälfte dominierte, was sie kreativ, musikalisch und fantasiebegabt machte. „Heißt das auch, dass man völlig unfähig ist, sich länger als zwei Minuten auf etwas zu konzentrieren?“, fragte ihr Mann leicht verbittert, als sie ihm diese Theorie erläuterte, während sie zu Bett gingen. „Wer weiß, ob sie musikalisch oder kreativ ist? Sie sagt, sie liebt Musik, aber sie übt nie auf dem Klavier. Sie sagt, sie mag Geschichten, aber sie bringt nie eine zu Ende, die sie angefangen hat. Sie hat keine Lust, sich Taschengeld zu verdienen, weil es nichts gibt, wofür sie es ausgeben will. Alles, was sie will, sind Romane, und von denen kann sie genug in unseren Bücherregalen oder im Bücherbus finden. Ehrlich, Annie, soweit ich erkennen kann, lebt sie in einem vollkommen anderen Universum als wir. Sie ist wirklich eine Transuse.“
„Und was für eine Zukunft steht ihr da bevor?“ Annie wollte in keinen Bereich ihres Lebens Pessimismus eindringen lassen, aber was ihre älteste Tochter betraf, war es schwierig, zu verhindern, dass er doch durch die kleinen Risse in ihrer Abwehr schlüpfte.
„Eine, die keine Qualifikationen erfordert außer ein gutes Herz“, sagte Richard Morland, rollte sich auf die andere Seite und schlug auf sein Kissen, bis es sich gehorsam an ihn schmiegte. „Schau dir doch an, wie gut sie mit den Kleinen umgehen kann. Catherine wird schon zurechtkommen“, fügte er mit größerer Zuversicht hinzu, als seine Frau für berechtigt hielt. Da, dachte sie, hilft einem dann der Glaube.
Cat schlief inzwischen den Schlaf der Unbekümmerten und verlor sich in glücklichen Träumen von Abenteuern und Liebeserlebnissen. Niemals erschütterten Fragen nach ihrer Zukunft ihr Seelenleben. Sie war absolut sicher, dass aus ihr eine Heldin werden würde. Für sie war klar, dass ihr bisheriges Leben nichts weiter als die Vorbereitung auf diese Rolle war. Das hieß nicht, dass sie nicht auf Hindernisse treffen würde. Jeder, der etwas von Abenteuern verstand, wusste schließlich, dass es unzählige Stolpersteine gab auf dem Weg zur wahren Liebe und dem echten Glück. Ihre Familien würden sich bekriegen, ihr Liebster würde sich als Vampir herausstellen, oder sie würden durch ein Meer oder eine scheinbar unheilbare Krankheit getrennt sein. Aber sie würde triumphieren, alle Schranken überwinden und am Ende Glück und Zufriedenheit finden.
Das einzige Problem war, wie diese Abenteuer in Gang gesetzt werden sollten. Nachdem sie jahrelang unter dem Deckmantel kindischer Spiele und des Zeitvertreibs durch die Gärten und Wohnzimmer von Piddle Wallop gestreift war, war sie überzeugt, dass sie alles über ihre Nachbarn wusste, was es zu wissen gab. Natürlich täuschte sie sich mit dieser Vermutung gewaltig, aber es war unwahrscheinlich, dass sie ihre selige Gewissheit aufgeben würde, solange sie den Gedanken in ihrem Kopf mehr Aufmerksamkeit widmete als den Geheimnissen ihrer Mitmenschen. Soweit Cat wusste, kannte sie niemanden, dem es zuzutrauen war, dass er irgendein Abenteuer heraufbeschwören...




