McNally Infinity Drake 1 - Scarlattis Söhne
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7320-0251-1
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Infinity Drake
ISBN: 978-3-7320-0251-1
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John McNally wuchs in einem Hotel in Pembroke, West Wales, auf. Nach der Universität reiste er durch die Welt. Schließlich landete er in Australien, wo er auf einer Baustelle jobbte und William Goldmans Klassiker Das Hollywood Geschäft las. So wurde er Drehbuchautor und arbeitete an Drehbüchern für Aardman, Sony und die BBC, bevor er mit Infinity Drake sein erstes Jugendbuch verfasste. Auch wenn er gerne actionreiche Szenen schreibt, wäre er selbst bei einem Zweikampf völlig aufgeschmissen. Er ist viel zu groß und zu dünn und lässt sich zu leicht ablenken. John McNally lebt mit seiner Familie und einer Katze in London.
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1
»Genau das ist Liz und Lionel auch passiert, als Kismet während ihrer einjährigen Auszeit nach der Schule plötzlich verschwunden ist und …«
Finns Oma stand vor dem Abfluggate und veranstaltete einen Riesenwirbel.
»Oma! Er ist schon im Gebäude. Er wird jeden Moment hier sein«, unterbrach Finn sie.
Sie warteten darauf, dass Onkel Al auftauchte. Der sollte nämlich Oma vertreten, während sie ihren wohlverdienten Erholungsurlaub antrat. Eine Kreuzfahrt ab Oslo rund um Skandinavien, Häkel- und Strick-Powerworkshops inklusive, zusammen mit rund hundert weiteren grauhaarigen Handarbeitsenthusiastinnen.
Eigentlich hatte Al versprochen, sich schon gestern Abend bei Oma blicken zu lassen.
Dann hatte Al versprochen, sie auf dem Flughafen zu treffen, natürlich als Allererstes.
Dann – eben am Telefon – hatte Al versprochen, gleich direkt zum Gate zu kommen.
Aber Al … na ja, Al war eben Al, und man konnte nie wissen, woran man mit ihm war. Großmutters Art, mit dem Kummer umzugehen, den Al ihr bereitete – ob nun vor zweiunddreißig Jahren als Baby in ihren Armen oder heute –, bestand darin, die Welt mit einem pausen- und atemlosen Strom besorgten Geplappers zu erfüllen.
»… Kismet ihre Älteste die mit den ganzen Tattoos die mussten sie doch glatt aus Kinshasa ausfliegen lassen hat sie fünftausend Pfund gekostet hatte das dumme Ding doch glatt ihr Handy verloren das Schlimme war nicht zu wissen ob sie tot oder noch am Leben war du kannst dir nicht vorstellen was das mit Eltern macht – Wo bleibt er nur? – hab übrigens auf ihre Katze aufgepasst ob du’s glaubst oder nicht die hat dieselben Blasenprobleme wie unser kleiner Tiger …«
»Letzter Aufruf für Passagier Violet Allenby, nach Oslo, Flug 103. Bitte begeben Sie sich sofort zu Gate 15«, verkündete eine Stimme über Lautsprecher.
»… John war so überaus nett mich auf der Straße mit Wokings junger Tierärztin bekannt zu machen entzückendes Mädel aus Neuseeland hat Nassfutter und Kräuterbehandlungen als …«
»Oma! Bitte!«
»Ich kann immer noch das nächste Flugzeug neh…«
»NEIIIIN, Oma!« Vor Frust wand Finn sich auf der Stelle.
»Infinity!«, schimpfte sie. »Ich rühr mich keinen Millimeter von hier weg.«
(Infinity … Unendlichkeit. Alles, was Finn über seinen Vater wusste – alles, was er wissen musste –, war in seinem Vornamen enthalten. Denn wer würde sein Kind schon nach einem mathematischen Konzept benennen? »Genau die Sorte Mann, die man sich dabei vorstellt«, pflegte Finns Mutter stets mit wehmütiger Stimme auf solche Fragen zu antworten. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan hatte, um Finn davor zu bewahren, E = mc2 getauft zu werden.)
»Al ist hier! Ich komme schon klar.«
»Ist er nicht! Das Einzige, auf das man sich verlassen kann, ist, dass man sich auf Al nicht verlassen kann. Er sagt, er ist ›im Gebäude‹. Aber das könnte alles Mögliche bedeuten. Er könnte ein Fantasiegebäude meinen, ein Gebäude auf einem anderen Kontinent, einem anderen Planeten oder …«
»Oma, sieh zu, dass du ins Flugzeug kommst!«
»Ich habe die Aufsichtspflicht. Du bist ein Kind …«
»Ich bin fast dreizehn.«
»… und wenn du wirklich denkst, wenn er wirklich denkt, ich werde dich auf einem Flughafen voller Bakterien, herrenlosem Gepäck und internationaler Terroristen deinem Schicksal überlassen …«
Und dann, dem Himmel sei Dank, kam Al – seinem Aussehen nach zu schließen, wohl gerade erst aus dem Bett gefallen – um die Ecke spaziert. Er war etwa ein Meter achtzig groß, hatte eine gertenschlanke, drahtige Statur und trug eine Wildlederjacke in Kombination mit völlig abgetragenen Cordhosen. Verdutzt fuhr er sich durch sein dunkles Haar, blinzelte hinter der mit Klebeband zusammengehaltenen Designerbrille mit den noch dunkleren Augen und hob den Arm zum überraschten Gruß – so als wäre er ihnen gerade zufällig über den Weg gelaufen.
»Alan! Wo zum Teufel bist du gewesen?«
»Ach, ich war da gerade mitten in so ’ner Sache.« Damit war es seiner Meinung nach getan. »Warum bist du denn immer noch da?«
Wäff!
Neben Al hüpfte eine etwa kniehohe Promenadenmischung aufgeregt an einer Hundeleine herum (eine Art Kreuzung aus Spaniel und hyperaktivem Känguru, wie Finn immer fand).
»Was machst du da mit Jo-Jo? Du kannst doch keine Hunde hier mit reinbringen!«
»Ich hab ihn draußen gefunden. Alleine. Angebunden. Und er hat geheult!«
Die Flughafenangestellten in der Halle wurden langsam auf sie aufmerksam.
»Na fantastisch! Jetzt werden wir alle verhaftet …«, klagte Oma.
»Wir müssen sie von hier wegkriegen«, sagte Finn zu Al.
Mit diesen Worten hob Al Oma schwungvoll in die Höhe, als wäre sie ein kleines Kind, drückte ihr einen Kuss auf die Wange, setzte sie wieder ab und drehte sie in Richtung Abfluggate.
»Um Himmels willen! Ich bin dreiundsechzig!«
Finn zog Omas Rollkoffer hinter ihr her und zusammen trieben Al und er sie wie ein störrisches Farmtier durch das Gate.
»Hast du mit MrsJennings gesprochen? Sie hat sich netterweise bereit erklärt, Finn zur Schule zu bringen und wieder abzuholen.«
»MrsJennings und ich sprechen ständig miteinander«, bekräftigte Al.
»Los, geh schon, Oma!«
»Du lügst!«, protestierte sie. »Alle Mahlzeiten sind im Gefrierschrank und markiert mit …«
»Alle Mahlzeiten sind im Gefrierschrank, alle Messer und Gabeln in ihren Schubladen, und es gibt sogar Türen und Fenster, die den Zugang zum Haus erlauben«, unterbrach Al sie.
»Die Schlüssel!«
»… die Schlüssel sind in Finns Tasche, bei der es sich um einen kleinen Stoffbeutel handelt, der etwa in Hüfthöhe in seine Hose eingenäht ist. Nun mach schon, Mutter! Ich bin durchaus in der Lage, eine Lasagne aufzuwärmen und für eine Woche deinen moralischen Erziehungsstandard aufrechtzuerhalten.«
»Das bezweifle ich doch sehr!«
Ein rotgesichtiger Fluggesellschaftsangestellter forderte sie nachdrücklich auf, weiter durch die Absperrung zu gehen.
»Ich hab dich lieb, Oma. Ich wünsch dir eine tolle Zeit!«
»Ich dich auch, Darling, aber sei vorsichtig. Al? Alan?«
»Du brauchst dir keine Sorgen um ihn machen, versprochen. Nun geh schon!«
Als Großmutter schließlich durch die Passkontrolle verschwand, ließ Finn sich erleichtert auf die Knie sinken, was Jo-Jo zum Anlass nahm, ihm begeistert über das Gesicht zu lecken.
Verdutzt blickte Al auf Finn und sagte: »Hat sie vorhin etwa Schule gesagt?«
Fünfzehn Minuten später war Großmutter in der Luft, und Finn und Al düsten in Als silbergrauem 1969er De Tomaso Mangusta aus Heathrow hinaus zur M25. Der Mangusta war das erstaunlichste, jemals in italienischer Handfertigung produzierte Automobil: tiefe Straßenlage, laut, ein Monster von einem perfekt gestylten V8-Coupé, das volle 300 PS Motorleistung auf die Straße brachte.
Jo-Jo jaulte begeistert. Der Wagen gefiel ihm. Finn jedoch vergötterte ihn regelrecht. Was Oma anbelangte, so war das Auto einfach nur lächerlich und ein Paradebeispiel für Als Verantwortungslosigkeit in finanziellen Dingen.
»Ich hab eben schicke Klamotten satt und kann mir nichts Besseres vorstellen, um mein Geld zu verplempern«, sagte Al immer zu Oma. Was, wie Finn wusste, nur zum Teil der Wahrheit entsprach. Denn schon mehr als einmal hatte er Schecks von Al in Omas Handtasche gefunden. Schecks mit Summen, die ihm riesig vorkamen. Ganz gleich, wie ungewöhnlich Al sich benahm, so schienen die Leute doch trotzdem etwas von ihm zu wollen: Unternehmen, die in einer technischen Klemme steckten, pharmazeutische Firmen, die irgendwelche versehentlich zerschredderten Moleküle wieder herstellen mussten, und Regierungen, die ein auswegloses Atommüllproblem am Hals hatten. Sie alle kamen zu Al.
Er leitete ein kleines Labor im Herzen von London und war »so eine Art Wissenschaftler«: ein Atomchemiker mit wirrem Geist, dem es schwerfiel, sich in Kategorien einzuordnen – sowohl im Leben als auch in der Wissenschaft.
Er war der einzige Mensch, jedenfalls behauptete er das, der in ein und demselben Semester aus dem Lehrkörper der Universitäten von Cambridge in England und Cambridge in Massachusetts geflogen war (weil er das Standardmodell der Teilchenphysik über das Tau-Neutrino-Paradoxon infrage gestellt hatte – beziehungsweise einem konservativen Volkswirt in der Mensa einen dampfend heißen Heilbutt übergebraten hatte).
Für Al war das ein Beleg von Charakterstärke. Für Oma war es ein Beleg von Irrsinn, und sie betete, dass dieser nicht in der Familie liegen möge. Nachdem sie zwei völlig draufgängerische und unbesonnene Kinder großgezogen hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, ihr einziges Enkelkind besser in 16Tonnen Watte zu packen.
Finn besaß bereits die gleiche knochig-schlaksige Gestalt wie Al. Doch im Gegensatz zu seinem Onkel hatte er sandfarbene Haare, die ihm wirr zu allen Seiten abstanden (»ganz wie bei deinem Vater«) und tolle tiefblaue Augen (»ganz wie bei deiner Mutter«). Und nun machte sich Oma Sorgen darum, dass er auch die Neigung, eine »ganz eigene Meinung« zu den Dingen zu haben, geerbt hatte (unter anderem weil er sämtliche gelben Nahrungsmittel mit Ausnahme von Vanillepudding ablehnte, kürzlich anlässlich eines Elternabends die...




