Meier / Patzold | August 410 - Ein Kampf um Rom | Buch | 978-3-608-94646-8 | sack.de

Buch, Deutsch, 259 Seiten, Lesebändchen, Format (B × H): 136 mm x 212 mm, Gewicht: 430 g

Meier / Patzold

August 410 - Ein Kampf um Rom

Buch, Deutsch, 259 Seiten, Lesebändchen, Format (B × H): 136 mm x 212 mm, Gewicht: 430 g

ISBN: 978-3-608-94646-8
Verlag: Klett-Cotta Verlag


Vor 1600 Jahren: Wenn Rom fällt, fällt die Welt. Wie Katastrophenereignisse Geschichtsbilder prägen

Drei Tage lang plünderten Alarichs Soldaten die Ewige Stadt. Seither hat dieses Ereignis die Phantasie der Menschen bewegt. Die Autoren erzählen, wie zunächst die Zeitgenossen, dann Geschichtsschreiber und Historiker bis in die Gegenwart dieses epochale Ereignis deuteten, das sich nun zum 1600. Mal jährt.

Einzigartige Kombination aus Darstellung, Analyse und Reflexion

Diese einzigartige Kombination aus Darstellung, Analyse und Reflexion erhellt beispielhaft, wie Katastrophenereignisse in der Geschichte immer wieder neu verarbeitet und gedeutet werden.

So auch die Eroberung Roms durch Alarich im Jahr 410, die schon die Zeitgenossen und dann die Nachwelt bis hin zur modernen Geschichtsschreibung zu großen, historisch wirkmächtigen Geschichtsbildern angeregt hat. Das reicht von den Deutungen eines entsetzten Zeitgenossen wie Hieronymus bis zu der Verherrlichung Alarichs in der deutschen Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Autoren stellen die wichtigsten Interpretationen dieses epochalen Ereignisses vor und zeigen, wie wenig wir über das eigentliche Geschehen im Jahr 410 wissen.
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Weitere Infos & Material


VORWORT

PROLOG: EIN EREIGNIS – VIELE GESCHICHTEN

I. ZEITGENÖSSISCHE DEUTUNGEN
1 . Claudius Claudianus – Rom vor dem Fall
2 . Hieronymus – Ein 30 -jähriger Krieg
3 . Augustinus – Wen Gott liebt, den straft er
4 . Orosius – Von der Katastrophe zum Heilsereignis
5 . Rutilius Namatianus – Die Entfaltung der Romidee

II. HISTORIOGRAPHEN

1 . Sokrates, Zosimos, Prokop – Der Weg nach Byzanz
2 . Jordanes – Die Erfindung der Westgoten
3 . Isidor von Sevilla – Vergangenheitsbewältigung eines Vertriebenen
4 . Otto von Freising – Roms Fall als Offenbarung Gottes
5 . Flavio Biondo, Franciscus Irenicus und Johannes Magnus – Sind wir nicht alle Goten?

III. HISTORIKER
1 . Edward Gibbon – Distanzierte Ironie
2 . Ferdinand Gregorovius – Alarich erneuert Rom
3 . August W.Grube und Felix Dahn – Alarich erobert Deutschland
4 . Wilhelm Capelle – Entwurzelte Germanen fern der Heimat
5 . Herwig Wolfram und Michael Kulikowski – Ein neuer Kampf um Rom

EPILOG: VIELE GESCHICHTEN – WELCHES EREIGNIS?
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PROLOG

EIN EREIGNIS - VIELE GESCHICHTEN

A m 24 . August des Jahres 410 eroberte ein Heer unter der Führung eines Generals namens Alarich die Stadt Rom. Drei Tage lang plünderten Alarichs Soldaten die alte Hauptstadt des Römischen Imperium. Am 27 . August zogen sie wieder ab.

An den Machtverhältnissen in Italien änderte Roms Fall zunächst nichts: Der Kaiser Honorius, der die westliche Hälfte des Reiches regierte, residierte nicht in Rom, sondern in Mailand und Ravenna. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahr 423 im Amt. Das westliche Kaisertum sollte ihn noch mehr als ein halbes Jahrhundert lang überleben. Alarich dagegen starb bereits im Herbst des Jahres 410 , nur wenige Monate, nachdem er Rom niedergeworfen hatte. Die Führung des Heeres übernahm Alarichs Schwager, Athaulf. Der führte das Heer aus Italien fort nach Südgallien. Roma war gefallen, das Imperium Romanum aber lebte weiter, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen - vorerst jedenfalls.

Und doch hat die Eroberung der Stadt im Jahr 410 die Zeitgenossen schockiert: Seit fast acht Jahrhunderten hatte niemand Rom einzunehmen vermocht; nun war die Ewige Stadt gefallen und geplündert. Die Mitlebenden suchten nach Erklärungen für das unerhörte Ereignis. Bald schon bemühten sich die ersten, das Geschehen zu deuten. Die besten Köpfe beteiligten sich an der hitzigen Debatte, unter ihnen Geistesgrößen wie Hieronymus und Augustinus. Dann bemächtigten sich die Geschichtsschreiber des Geschehens, auch sie bestrebt, der Katastrophe einen Sinn abzugewinnen. Im Laufe der Zeit wurden die Argumente, die die Zeitzeugen in ihren Diskussionen über das Ereignis vorgebracht hatten, zu historischen Quellen; aus ihnen schöpften Historiographen im Rückblick ihr Bild von dem Ereignis. In den 16 Jahrhunderten, die auf den Fall der Stadt folgten, schufen auf diese Weise immer neue Generationen ihre je eigene Geschichte von der Eroberung und Plünderung Roms. Seit dem 18 . Jahrhundert deutete auch die sich entfaltende Geschichtswissenschaft eifrig mit. Jenseits von Gelehrsamkeit und Wissenschaft konnte sich die Figur Alarichs sogar aus ihrem realgeschichtlichen Kontext lösen: In Theater, Oper und schöner Literatur war Alarich im 17 . und 18 . Jahrhundert als Hurenbock, Trunkenbold, Vandale oder Slawenfürst beliebt.

Dieses Buch ist ein weiteres Glied der jahrhundertelangen Kette von Geschichten über Alarich und den Fall Roms 410 ; und selbstverständlich können auch seine Autoren ihrer Zeit nicht entfliehen. Vielleicht werden Nachlebende einmal mit Staunen zur Kennt nis nehmen, wie skeptisch Historiker zu Beginn des 21 . Jahrhunderts ihre Chancen beurteilten, ein Geschehen wie den Fall Roms objektiv und allgemeingültig zu rekonstruieren. Und vielleicht werden Spätere auch einmal kopfschüttelnd bestaunen, wie groß zu Beginn des 21 . Jahrhunderts das Bedürfnis geworden war, Geschichte nicht mehr länger in Strukturen, Normen und Ordnungen stillzustellen, sondern ernstzunehmen in ihrer Schnell lebigkeit, als ein Produkt, gemacht von Menschen aus Fleisch und Blut, die Entscheidungen fällten, demgemäß handelten und dabei ihre sehr eigenen Ziele und Interessen verfolgten. In beidem ist dieses Buch ein Kind seiner Zeit. Es will Geschichte als Ergebnis menschlichen Handelns erzählen; und es will sich darum drücken, dem Leser eine einzige, allein seligmachende Geschichte vorzusetzen.

Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt auf der Hand: Die folgenden Seiten erzählen vom Erzählen. Sie berichten, wie sich Menschen im Laufe von 1600 Jahren die Eroberung Roms im Jahr 410 immer wieder neu sinnstiftend angeeignet haben - von Zeitgenossen wie Hieronymus und Augustinus bis hin zu Historikern des frühen 21 . Jahrhunderts.

In seinem Film »Lola rennt« hat der Regisseur Tom Tykwer 1999 dreimal hintereinander die Geschichte des Liebespaares Lola und Manni erzählt. Die beiden versuchen verzweifelt, 100000 Mark aufzutreiben, nachdem Manni dieses Geld, das er als Kurier für einen Hehler abliefern soll, versehentlich in der U-Bahn liegengelassen hat. Bei jedem Durchlauf ändert sich die Handlung ein klein wenig - mit dramatischen Folgen für den Ausgang der Geschichte und ihren Sinn. Zweimal endet die Handlung als Tragödie, einer der beiden Protagonisten stirbt. Erst beim dritten Mal wird die Geschichte zur Komödie: Das Liebespaar überlebt nicht nur, es ist am Ende sogar selbst um 100000 Mark reicher. In gewisser Weise funktioniert dieses Buch über den Fall Roms 410 ähnlich wie der Film: Immer wieder wird Alarich gegen Rom anrennen, immer wieder wird Rom fallen - aber der Sinn, den die Zeitgenossen, dann die Historiographen, schließlich professionelle Historiker dem Geschehen zuschrieben, wird sich von Mal zu Mal ändern (und bisweilen sogar das Ereignis selbst).

Die Auswahl der Geschichten und der Erzähler, die zu Wort kommen werden, ist subjektiv und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Doch haben alle diejenigen, die wir vorstellen, ihrerseits wieder spätere Deutungen und nachfolgende Geschichten vom Fall Roms mitgeprägt. Eröffnen soll den Erzähler-Reigen ein Dichter namens Claudius Claudianus, der seine Werke um die Wende zum 5 . Jahrhundert schuf.

wider standen, sondern offen blieb auch für die Schwachen und Sünder dieser Welt. Hier und jetzt, in der civitas terrena , blieben Heil und Übel gemischt, wie Öl und Trester in der Olivenpresse; gleichwohl war die Kirche, die Gemeinschaft der Christen, für alle Menschen offen, sogar für reuige Donatisten. Noch war sie unterwegs, war sie eine civitas peregrinans . Noch hatte Gott Anlass, seine Kirche zu züchtigen, wie 410 in Rom. Aber ihr Ziel stand bereits klar vor Augen. Gott hatte sie verheißen, und sie würde kommen - Seine Stadt, die civitas Dei .

4 . OROSIUS

Von der Katastrophe zum Heilsereignis

ugustin hatte sich redlich und mit kraftvoller Verve darum bemüht, seine Zeitgenossen von der relativen Bedeutungslosigkeit der Ereignisse des Jahres 410 zu überzeugen. Gegenüber christlichen Zweiflern, die angesichts der gegenwärtigen Katastrophen vom Glauben abzufallen drohten, hatte er wiederholt die Einnahme Roms herunterzuspielen versucht; den Vorwürfen der Altgläubigen - und nicht nur ihnen - trat er mit seinem Konzept von den zwei civitates entgegen. Einem zentralen Einwand jedoch vermochte er mit seiner Argumentationsstrategie nicht entscheidend beizukommen: der Behauptung, dass früher alles besser war. Sicherlich, er hatte im 3 . Buch seiner Gottesstadt mit Nachdruck auf die unheilvollen Widerfahrnisse während der vorchristlichen römischen Geschichte hingewiesen, doch dies war nicht mehr als ein erster Ansatz geblieben. Das eigentliche historische Argument harrte noch einer systematischen Entwicklung und wirkungsvollen Darlegung, eine Aufgabe, die der Kirchenvater, da er in seiner Gottesstadt andere Akzente zu setzen gedachte, nicht selbst übernehmen wollte.

Dafür bot sich ein anderer an: der spanische Priester Orosius, ein beflissener Kirchenmann aus Bracara (Braga in Nordportu gal) in der Provinz Gallaecia, der 414 seine von barbarischen Horden überrannte und geplünderte Heimat verlassen und in Afrika Augustinus seine Dienste angetragen hatte. Für Augustinus hatte er schon bald danach eine beschwerliche Reise nach Bethlehem zu Hieronymus unternommen und war 415 in Jerusalem als Ankläger gegen den damals ebenso bekannten wie umstrittenen Mönch Pelagius aufgetreten. Wie häufig in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen der Spätantike geriet kurz darauf aber auch Orosius selbst unter Häresieverdacht, musste sich in einer Verteidigungsschrift rechtfertigen und kehrte 416 wieder in den Westen zurück. Damals hatte Augustinus gerade die ersten 10 Bücher seiner Gottesstadt beendet und beauftragte Orosius nunmehr damit, dieses monumentale Gedankengebäude durch eine Darlegung aus historischer Perspektive zu flankieren, die vor allem deutlich machen sollte, dass die Ereignisse des Jahres 410 keineswegs als formidables Gegenargument gegen die christliche Fortschrittsidee taugten. Der spanische Priester sollte nicht weniger leisten, als zu beweisen, »dass die vergangenen Tage nicht nur gleich schwer waren, sondern um so viel elender, je weiter sie vom Heilmittel der wahren Religion entfernt lagen«; nicht die Gegenwart sollte die Zeitgenossen also tief erschauern lassen, sondern ein Blick in eine noch weitaus entsetzlichere Vergangenheit.

Orosius machte sich mit erkennbarem Eifer an die Arbeit und konnte bereits 417 / 18 ein universalhistorisch angelegtes, der christlichen Apologetik verpflichtetes Geschichtswerk in 7 Büchern - analog der Zahl der Wochentage - vorlegen, die erste christliche Weltgeschichte überhaupt. Nach der Vollendung seiner Gegen die Heiden gerichteten Historien in 7 Büchern (Historiarum adversum paganos libri VII) verschwindet der Autor allerdings ebenso abrupt aus unserer Überlieferung, wie er 414 aufgetaucht war, so dass über sein weiteres Schicksal nichts bekannt ist. Sein Geschichtswerk hingegen wurde zu einem der wichtigsten und einflussreichsten historiographischen Texte des europäischen Mittelalters, der nicht nur in zahlreichen Handschriften überliefert ist, sondern vor allem auch auf bedeutende spätere Autoren, wie Jordanes, Isidor von Sevilla, Otto von Freising oder Flavio Biondo, nachhaltige Wirkung ausüben sollte.

Mit der Weltgeschichte des Orosius erreichte die Verarbeitung der Geschehnisse des Jahres 410 eine neue Qualität: Die Geschichtsschreibung beginnt sich nun erstmals mit den Zusammenhängen zu befassen, was ganz neue Spielräume der Ausdeutung und narrativen Präsentation schafft. Die Ereignisse können jetzt in historische Geflechte eingewoben und damit in komplexeren Perspektivierungen erzählt werden, die Erinnerung der Mitlebenden erfährt eine Kodifizierung aufgrund der Erinnerungswürdigkeit des Berichteten. Das Tor für neue Zugänge und Deutungsansätze wird weit geöffnet.

Die Weltgeschichte des Orosius, also gleich das erste Geschichtswerk, das um die Ereignisse 410 herum komponiert wurde, bietet eine aus dem apologetischen Anliegen heraus entwickelte umfassende Geschichtsdeutung und entfaltet dabei eine Geschichtstheologie, deren äußerer Anlass und innerer Angel punkt die Eroberung Roms im Jahr 410 ist. Wie Augustin setzt Orosius sich gegen Vorwürfe seitens der Altgläubigen zur Wehr, wonach die Etablierung des Christentums und die Vernachlässigung der alten Kulte für das gegenwärtige Unheil verantwortlich seien, und ebenso wie Augustin stellt Orosius bereits die Grundlage entsprechender Vorhaltungen infrage, wenn er bestreitet, dass die Ereignisse des Jahres 410 tatsächlich ein Unheil besonderer Dimension dargestellt hätten. Seine Argumentation ist einfach, sie wurde vielfach gar als banal bezeichnet: In früheren, insbesondere heidnischen Zeiten hätten viel schlimmere und zahlreichere Schicksalsschläge die Menschen heimgesucht. Erst als die Geschichte sich auf die Geburt Christi zubewegt habe, hätten sich allmählich zaghafte Lichtblicke gezeigt; danach aber habe sich die Situation dann grundlegend verbessert, und zwar stets parallel zur fortschreitenden Christianisierung des Römischen Reiches.

Orosius, dessen Heimat von barbarischen Raubscharen verwüstet war und der den Fall der Ewigen Stadt hatte miterleben müssen, entwickelte aus seiner persönlichen Unheilserfahrung ein erstaunliches und - wie die Rezeptionsgeschichte seines Werkes illustriert - ungemein wirkmächtiges Konzept historischen Fortschritts, das am Ende über die Wohltaten einer seligmachenden Gegenwart jubiliert und mit größtem Optimismus in eine Zukunft blickt, deren Signum das Aufgehen von Geschichte in Geschichtslosigkeit ist. Die dezidierte Verklammerung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Vorstellung eines linearen, sich seit der Inkarnation Christi gar potenzierenden Fortschritts ist denn auch charakteristisch für das gesamte Werk, sie findet sich bereits im Prolog explizit ausformuliert und manifestiert sich insbesondere in jenen zahlreichen Passagen, in denen der Autor die furchtbaren Katastrophen der Vergangenheit mit Blick auf die eigene Gegenwart kommentiert. Für Orosius folgt der gesamte Geschichtsverlauf einem feststehenden göttlichen Plan und erhebt sich gleichsam aus düsterster Unheilsvergangenheit allmählich zu den christlichen Zeiten (tempora Christiana) der Gegenwart und Zukunft empor, in denen das irdische Leben immer leichter und angenehmer, ja sogar glücklich wird, um schließlich in das Reich Gottes einzumünden.

In diesen christlichen Providentialismus hat Orosius verschiedene Konzepte eingearbeitet, die auch für das Verständnis seiner eigenwilligen Deutung der Ereignisse des Jahres 410 von hoher Bedeutung sind: Da ist zum einen die besondere Betonung der zeitlichen Koinzidenz der Friedensherrschaft des Augustus und der Geburt Christi, die eine zentrale Scharnierstelle seines Geschichtswerks darstellt, insofern nunmehr die tempora Christiana mit ihren segenbringenden Auswirkungen angebrochen seien und den Menschen zunehmend Glück und Wohlstand bescherten. Die zeitgleiche Herrschaft des Friedenskaisers Augus-tus und die Inkarnation Christi bilden damit eine regelrechte Achse, die es dem Autor ermöglicht, Ereignisse davor und danach symmetrisch miteinander in Beziehung zu setzen, um dadurch den von Gott sinnvoll geplanten Fortgang der Weltgeschichte zu illustrieren; so lässt Orosius z. B. die 10 ägyptischen Plagen mit den in seiner Zeit kanonisierten 10 Christenverfolgungen durch römische Kaiser korrespondieren oder konstatiert, dass Babylon fast 1164 Jahre nach seiner Gründung durch die Meder überwunden worden sei, während Alarich Rom im Jahr 410 , fast 1164 Jahre nach seiner Gründung, geplündert habe.

Ein anderes, damit eng verknüpftes Konzept findet sich in der Lehre von der Abfolge der vier Weltreiche, ein sehr altes, ansatzweise schon bei dem griechischen Historiographen Herodot ( 5 . Jh. v.Chr.) und dann vor allem im alttestamentlichen Buch Daniel greifbares Gliederungsprinzip der Geschichte, das bereits vor Orosius vereinzelt Eingang in die römische Universalgeschichtsschreibung gefunden hatte. In christlicher Perspektive war die Weltreichslehre jedoch mehr als lediglich ein Instrument zur Unterteilung historischer Epochen: Für die Christen war klar, dass nach dem Untergang des letzten Reiches die irdische Welt zu ihrem Ende gelangen musste, wodurch das Konzept eine nachhaltige eschatologische Konnotation erfuhr. Orosius' Zeitgenosse Hieronymus interpretierte die Weltreiche als die Herrschaften der Babylonier, der Meder bzw. Perser, der Makedonen und der Römer - und bestätigte damit die unter den Christen schon seit längerem verbreitete Auffassung, dass der Fortbestand Roms die Fortexistenz der irdischen Welt sicherte. Auch Orosius hing dieser christlichen Romtheologie an, identifizierte die vier Reiche allerdings leicht abweichend von Hieronymus mit jenen der Babylonier, Karthager, Makedonen und Römer, um dadurch einen Bezug zu den vier Himmelsrichtungen herzustellen. Wirkliche Bedeutung besaßen für ihn allerdings nur die besonders langlebigen Reiche des Ostens und des Westens - Babylon und Rom -, die er in seinem Geschichtswerk in vielfältige Bezüge zueinander setzt: In dem Maße, in dem Babylon seine Herrschaft verlor, vollzog sich in der Sicht unseres Historiographen der Aufstieg Roms.

Vergegenwärtigt man sich die besondere Bedeutung der sich seit Augustus entfaltenden tempora Christiana im Werk des Orosius und setzt diese zu seinem Schema der vier Weltreiche in Bezie hung, so leuchtet unmittelbar ein, dass das Imperium Romanum für den spanischen Historiographen mehr darstellte als lediglich den aktuellen Bezugsrahmen des irdischen Alltags. Für Orosius kam dem Römischen Reich eine gewichtige Funktion inner halb des göttlichen Heilsplans zu: Seit der Herrschaft des Augus tus bereitete es den Boden für die sich allmählich vollziehende Christianisierung der Menschen und bot den Rahmen, in dem die tempora Christiana zur Vollendung gelangen sollten. Anders als Augustin, der das Römische Reich, vor allem aber die Stadt Rom, tendenziell in die Bedeutungslosigkeit verwies, identifizierte sich Orosius also ganz mit dem Imperium und musste daher zumindest implizit auch seinem symbolischen Zentrum eine andere Rolle zuweisen als Augustin. Diese Inkompatibilität der Ansätze des Orosius und Augustins, der eher diesseitig orientierten Perspektive des Historiographen und des auf das Jenseits ausgerichteten Blicks des Kirchenvaters, mag ein Grund dafür sein, dass letzterer das Geschichtswerk seines gelehrigen Schülers später einfach totschwieg.

Wie aber fügte sich zu Orosius' optimistischem Geschichtsbild die Katastrophe, die Rom im Jahr 410 getroffen hatte? Das Geschichtswerk des Spaniers lässt sich in den ersten Büchern als regelrechte Kette entsetzlicher Unglücksfälle lesen, Orosius selbst charakterisiert es im Vorwort sogar explizit als Unglücksgeschichte. Immer und immer wieder wird in düstersten Farben ausgemalt, welch grauenhafte Leiden durch Kriege, Katastrophen und sonstige Unbill die Menschen zu erdulden hatten, und häufig schließen sich belehrende Kommentare mit Blick auf die viel glück-lichere Gegenwart an. Eine Blutspur, gesäumt von mitunter gigantischen Leichenbergen, zieht sich durch Orosius' Historien - mit dem Ziel zu beweisen, dass vor allem seit der Herrschaft des Augustus alles zunehmend besser geworden sei. Die Katastrophen sind, so der Historiograph, im Verlauf der Geschichte nicht nur milder, sondern auch seltener geworden; die sich allmählich entfaltenden tempora Christiana haben sich bereits jetzt segenspendend ausgewirkt, alles steuert auf herrliche Zeiten zu, die Orosius aktuell nahezu verwirklicht sieht. Ausgerechnet in seinem Kapitel über Alarichs Eroberung Roms spricht er daher vom »gegenwärtigen Heil«, das sich gerade im Moment des Falls der Stadt manifestiert habe.

Damit aber mutiert die Katastrophe Roms zu einem zentralen Ereignis des heilsgeschichtlichen Prozesses, und so verwundert es nicht, dass Alarich und seine Soldaten weniger als autonom handelnde Individuen erscheinen, sondern als Werkzeuge eines strafenden Gottes, der das »Sündervolk« Roms zur Ordnung ruft. Hatte Orosius schon zuvor die von ihm geschilderten Katastrophen in einen Tun-Ergehen-Zusammenhang gestellt und als Folge sündhaften Verhaltens interpretiert, so greift er angesichts des »Untergangs Roms« (excidium urbis) gar zur Parallele der Vernichtung des Sündenpfuhls Sodom im Alten Testament - und unterläuft damit Augustins Argumentationsstrategie, die zu verdeutlichen suchte, dass man den Fall Roms gerade nicht mit dem Ende Sodoms vergleichen könne, da die Ewige Stadt ja nur gestraft, jedoch keinesfalls vernichtet worden sei.

Eigenwillig ist Orosius' Deutung der Geschehnisse des Jahres 410 vom ersten Wort an: Bereits das einleitende, fanfarenartige adest Alaricus (»Alarich ist da!«) ist mehrdeutig, denn das lateinische adesse konnte durchaus auch »hilfreich zur Seite stehen« bedeuten - für zeitgenössische Leser sicherlich eine auffällige Anmutung: Der Barbarenführer soll der Stadt zur Hilfe geeilt sein?! Von Alarichs Befehl, die christlichen Kirchen zu schonen, wird sodann berichtet und von der Empörung Gottes über die Sünden der Römer - allein ihr, nicht etwa der Tapferkeit des Feindes, seien die Geschehnisse geschuldet gewesen. Und dann folgt eine merkwürdige Geschichte:

Während der Eroberung Roms sei ein starker, christlicher Gote zufällig auf eine ältliche Nonne getroffen und habe sie »auf anständige Weise« um Gold und Silber gebeten. Jene habe daraufhin gleich größere Mengen wertvollen liturgischen Geräts präsentiert und behauptet, sie könne sogar noch mehr zur Verfügung stellen. Der Barbar sei von der Größe, dem Wert und der Schönheit der Objekte derartig »angedonnert« gewesen, dass er in seiner Gottesfurcht und angesichts des tiefen Glaubens der Nonne zunächst einmal Alarich unterrichtet habe. Jener wiederum habe sofort angeordnet, alle Geräte zur Kirche des Apostels Petrus zu schaffen; auch die Nonne und ein jeder, der sich dem Zug habe anschließen wollen, sollte mitgenommen werden, und zwar unter militärischem Geleitschutz (cum defensione) . Daraufhin sei es zu einem einmaligen Schauspiel gekommen: Quer durch die ganze Stadt sei eine fromme Prozession gezogen und habe die liturgischen Geräte über den Häuptern getragen. Gotische Soldaten hätten den Zug mit gezückten Schwertern bewacht, und »von allen Seiten strömten zu den Gefäßen Petri die Gefäße Christi zusammen«. Wer sich zuvor versteckt hatte, schloss sich jetzt der Menge an, ja sogar Altgläubige suchten Schutz unter dem Banner der christlichen Prozession, um dadurch die Erstürmung der Stadt zu überleben. Hymnensingend zogen alle gemeinsam durch Rom, »wobei Römer und Barbaren gemeinsam sangen«. Ein wahrhaft einzigartiges Spektakel bot sich dabei: die auf der Flucht befindlichen Römer (Romani confugientes) unter dem Schutz ihrer barbarischen Verteidiger (barbari defensores)!

Orosius gerät angesichts dieser Vorstellung in regelrechte Verzückung und stimmt seinerseits hymnenartige Preisgesänge an: »Wer könnte dies gegenüber vollgültigen Wundern abwägen, wer könnte es in würdigen Lobliedern preisen?«

Ganz seiner Intention entsprechend, die Erstürmung Roms als heilsgeschichtliches Ereignis in positivem Licht erscheinen zu lassen, verzichtet der Historiograph auf eine Darstellung des eigentlichen Geschehnishergangs, also der Vertreibungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, der Mordtaten und anderer Greuel, wie man sie in einem antiken Eroberungsbericht zunächst einmal erwarten würde. Stattdessen merkt er nach der Beschreibung der außergewöhnlichen Prozession durch die Stadt nunmehr wieder recht nüchtern an, dass die Barbaren nach (nur) drei Tagen abgezogen seien. Zugegeben, sie hätten zahlreiche Häuser in Brand gesetzt, aber: Kaiser Nero habe seinerzeit viel größeren Schaden angerichtet, als er Rom angezündet habe, und die Gallier hätten 387 v.Chr. sogar fast ein ganzes Jahr in Rom gehaust. Dass Alarich sich ohnehin noch viel milder verhalten habe, als Gott es angesichts der strafwürdigen Zuchtlosigkeit der Römer geplant hatte, sei zudem daran ersichtlich geworden, dass einige Gebäude, die der Gote verschont hatte, später Opfer von Blitzeinschlägen geworden seien. Alles in allem könne man jetzt, wenige Jahre nach dem Ereignis, kaum noch Spuren des Überfalls im Stadtbild Roms erkennen.

Man staunt. Orosius gelingt es, die Eroberung Roms so geschickt innerhalb des heilsgeschichtlichen Gesamtrahmens seiner Historien zu verankern, dass das für die meisten Zeitgenossen wohl eher traumatisierende Geschehen in eine höchst erbauliche Wundergeschichte gerinnt, die man sonst eher in hagiographischen Texten vermuten würde, die Darlegung einer kollektiven religiösen Erfahrung, an der die geschundenen Opfer sich möglicherweise aufrichten sollten und die der nachträglichen Herstellung einer neuen gemeinsamen Identität diente. Und dabei verschoben sich gegenüber den traditionellen Zuordnungsmustern ganz erheblich die Grenzen: Zwar werden die Goten durchgängig als Barbaren bezeichnet und auch antithetisch den Römern gegenübergestellt, aber unter dem gemeinsamen Dach des Christentums kommt es nun zu einer ganz neuartigen Symbiose: Römer und Goten ziehen gemeinsam durch die brennende Stadt, Hand in Hand verbunden, miteinander singend und Gott preisend - das homöische, arianische Bekenntnis, das Alarich und sein engeres Gefolge zwar zu Christen, in römischer Sichtweise aber zu ausgemachten Häretikern machte, spielt bemerkenswerterweise überhaupt keine Rolle. Die kollektive religiöse Erfahrung, das Moment gemeinsamen Zusammenhalts in einer von Gott herbeigeführten Extremsituation, überdeckte für Orosius selbst solche gravierenden Differenzen. Dass derart massive Verschiebungen der Perspektive und Umformungen bestehender Identitätsmuster nicht ohne innere Widersprüche funktionieren konnten, geht freilich schon aus Orosius' Darstellung selbst hervor. Zwar bemüht sich der Autor darum, die Eindringlinge immer wieder als Verteidiger bzw. Beschützer der Römer zu präsentieren, aber sie bleiben für ihn letztlich doch Barbaren und Feinde - jeden falls rutscht ihm das verräterische Wort hostis (Feind) nicht nur einmal heraus. An anderer Stelle merkt man dem Historiographen deutlich sein Unbehagen an, dass Stilicho vor der Schlacht bei Pollentia im Jahr 402 gegen Alarich ausgerechnet dem heidnischen Barbaren Saulus das Kommando über die römischen Truppen anvertraute und dass dieser dann auch noch just am Ostertag die Goten angriff, als diese gerade die Messe zelebrierten. Römer verhielten sich jetzt wie Barbaren, die Grenzen begannen sich aufzulösen, und dennoch zeigen gerade die Schwierigkeiten, die Orosius selbst hatte: Die Goten waren in seiner Sichtweise auch weiterhin Barbaren, trotz ihres demonstrativen Bündnisses mit den Römern, das ausgerechnet beim Brand der Stadt 410 seine eindrucksvollste Manifestation erfuhr. Immerhin hatte der Historiograph ja schon in seiner Heimat keine sonderlich positiven Erfahrungen mit plündernden Raubscharen gemacht. Dies mag ein Grund für seinen Jubel darüber gewesen sein, dass Kaiser Theodosius I. im Jahr 394 , als er den Usurpator Eugenius besiegte, 10000 gotische Soldaten (unter dem Kommando Alarichs) verlor, und der optimistische Blick in die Zukunft, mit dem sein Werk endet, gründet sich u. a. auf der Tatsache, dass die Barbaren sich in Spanien nun endlich gegenseitig totschlügen.

Orosius' Haltung gegenüber den Barbaren ist also durchaus ambivalent, aber es gibt für ihn klare Kriterien: Radagaisus, der im Jahr 405 in Italien einfiel und nur unter Aufbietung aller zur Verfügung stehender Kräfte geschlagen werden konnte, ist für ihn der Inbegriff des grausamen, mordgierigen Barbaren - weil er Heide war. Alarich hingegen, der Christ, war »aus Furcht vor Gott mild beim Morden«. Nicht auszudenken, wenn nicht der zivili sierte Alarich, sondern der blutrünstige Radagaisus in Rom eingefallen wäre! Aber Gott »wollte, dass der heidnische Feind unterging, und erlaubte, dass der Christ das Übergewicht behielt« - vor allem auch als warnendes Signal gegenüber den altgläubigen Römern.

Das Barbarenproblem ist also in den Augen des Orosius letztlich lösbar, und Alarich kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Als fromme Christen ließen sich die Eindringlinge ohne größere Schwierigkeiten in das Imperium Romanum integrieren, ja könnten sogar als Beschützer der Römer auftreten. Ausmerzen müsse man hingegen die heidnischen Barbaren, ganz so, wie der Kampf gegen die altgläubigen Römer weiter auszufechten sei. Doch die Geschichte schreitet weiter voran, gelenkt vom Plan des gerechten Gottes. Das Römische Reich ist spätestens seit den Zeiten des Augustus auf dem Weg zum christlichen Imperium und vermag dabei auch die Barbaren mitzunehmen. Wie groß die Fortschritte im frühen 5 . Jahrhundert schon waren, zeigt sich in den Ereignissen des Jahres 410 : die Eroberung Roms als Sinnbild einer fortschreitenden christlichen Symbiose von Römern und Barbaren - tempora Christiana!


Meier, Mischa
Mischa Meier, geboren 1971, Studium der Klassischen Philologie und der Geschichte an der Universität Bochum. 1998 Promotion über das frühe Sparta; 1999 bis 2004 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Bielefeld. Seit 2004 Professor für Alte Geschichte in Tübingen. Wichtige Veröffentlichungen: »Das andere Zeitalter Justinians«, 2004; »Justinian. Herrschaft, Reich und Religion«, 2004.

Patzold, Steffen
Steffen Patzold, geboren 1972, Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Journalistik an der Universität Hamburg. 1999 Promotion über »Konflikt im Kloster« im ottonisch-salischen Reich. Seit 2007 Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften in Tübingen.

Steffen Patzold, geboren 1972, Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Journalistik an der Universität Hamburg. 1999 Promotion über »Konflikt im Kloster« im ottonisch-salischen Reich. Seit 2007 Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften in Tübingen.

Mischa Meier, geboren 1971, Studium der Klassischen Philologie und der Geschichte an der Universität Bochum. 1998 Promotion über das frühe Sparta; 1999 bis 2004 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Bielefeld. Seit 2004 Professor für Alte Geschichte in Tübingen.
Wichtige Veröffentlichungen: »Das andere Zeitalter Justinians«, 2004; »Justinian. Herrschaft, Reich und Religion«, 2004.


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