Meyer-Eckhardt | Das Vergehen des Paul Wendelin | Buch | 978-3-920743-90-5 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 11, 116 Seiten, GB, Format (B × H): 128 mm x 230 mm, Gewicht: 304 g

Reihe: Die Nettetaler Bibliothek

Meyer-Eckhardt

Das Vergehen des Paul Wendelin

Aus den letzten Tagen eines Soldaten. Novelle.
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-920743-90-5
Verlag: Matussek, H K

Aus den letzten Tagen eines Soldaten. Novelle.

Buch, Deutsch, Band 11, 116 Seiten, GB, Format (B × H): 128 mm x 230 mm, Gewicht: 304 g

Reihe: Die Nettetaler Bibliothek

ISBN: 978-3-920743-90-5
Verlag: Matussek, H K


Die Novelle 'Das Vergehen des Paul Wendelin' ist eine Abrechnung mit der Unfähigkeit der Offiziere, er schildert schonungslos Korruption, Arroganz und Borniertheit in den Stäben. Dass er die Kriegsniederlage dem Versagen der Offiziere anlastet, brachte Meyer-Eckhardts Buch 1933 auf die 'Schwarze Liste' der 'Deutschen Studentenschaft' und wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
'Das Vergehen des Paul Wendelin' ist nach der Erstausgabe im Jahre 1922 nie wieder aufgelegt worden – bis heute, als Jahresgabe der 'Nettetaler Literaturtage'.

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Leutnant Freiherr von Kolding verzichtete nun doch darauf, das saubere Hemd, das ihm sein Bursche in den Buchenlaubmasken des Betonhauses mit aufgeknöpften Ärmeln bereitgehängt hatte, anzuziehen, er schloß ruhig das alte — das er erst einen Tag trug — über der breiten, etwas zartfarbigen Brust und überlegte sich, wo er in Deckung gehen könnte, wenn die zweite 'schwere' einschlüge. Die Arme in den Gelenken rollend — denn seine gymnastischen Übungen hatte er draußen niemals ausgesetzt — kam er hinter dem Bunker hervor. Kaum zehn Schritte von diesem entfernt war der Kommunalweg, der von Roeselaere nach Wildemann führt, einfach in zwei Teile zerrissen, die zerwanderte Wiese war von den schönen hellbraunen Schollen wie mit lauter großen und kleinen Maulwurfshügeln gesprenkelt, und die helle Mittagsluft flimmerte noch von dem feinen Staubsand, den das aufschlagende Geschoß von der Pflasterung der Straße abgerieben hatte. Er wußte, daß die zweite Granate nun bald da sein mußte — um alles in der Welt wäre er aber nicht, ohne seine Toilette, die er stets en plein air mit aller ihm in der Kinderstube und Kriegsschule anerzogenen Sorgfalt vornahm, genau wie sonst vollendet zu haben, in den Beton zurückgekehrt. Um so lieber hätte er mit irgendeinem Menschen, und wenn es eine Ordonnanz oder sein Bursche gewesen wäre, ein belangloses Gespräch angeknüpft, aber niemand von der zahlreichen Bewohnerschaft des Bunkers ließ sich blicken, und ein Wagen mit Feldbahnschienen, der etwa fünfhundert Meter östlich auf Oostnieuwkerke zu hinter einigen Pappeln Sichtdeckung genommen hatte, stand still wie ein Gerät aus einer Spielzeugschachtel. Er trollte sich daher in seinen Winkel zurück, ergriff Kamm und Bürste, die auf einem Ziegelstein lagen, und begann etwas eiliger wie sonst, nach Aufträufelung des Birkenwassers, sich die Kopfhaut zu massieren. Ein leises Surren, dem fernen Geräusch einer Getreideschwinge nicht unähnlich, ließ ihn nach oben schauen: gerade über dem Gefechtsstand kreiste ein Geschwader von mindestens zwölf feindlichen Flugzeugen in der lichtblauen Luft, zuweilen aus den breiten Tragflächen silberhelle Reflexe nach unten werfend. Die Engländer hatten also offenbar die Befehlsstelle erkannt, wie es ja eigentlich jedesmal geschah, wenn sich der Regimentsstab irgendwo eingerichtet hatte: wer hätte auch, um einige graue oder weiße Rauchwölkchen zu vermeiden, auf die vorzügliche Küche verzichten mögen? Er legte Kamm und Bürste wieder nieder und führte den kleinen runden Spiegel vor dem Gesicht hin und her: der Scheitel, der das goldene Haar durchschnitt, war tadellos genau, und die Zähne unter der aufgezogenen Oberlippe glänzten so weiß, als ob sie ihm heute erst gewachsen wären. Gerade als er den Tenniskragen vom Telephondraht herunterholen wollte, kam die zweite. Sie kam herbeigerauscht wie etwa ein Wagen der Untergrundbahn, nur viel lauter, gewaltsamer, unhöflicher und total unsichtbar. Im roten Ziegelgeröll daliegend, hörte er den Aufschlag, den alten wohlbekannten, sonoren vollsaftigen Ton der schweren Kaliber. In die Höhe blinzelnd sah er ein langes schmales Tannenbrett hoch über sich in propellerartigen Drehungen und blitzend eine ungeheuere Parabel zur Seite beschreiben, er hörte die Sprengstücke der Granate in den Boden klatschen und wartete noch ab, bis das Brett niedergefallen sein würde. Dann stand er wieder auf, klopfte den Staub von Hemd und Hose und zog sich in größerer Ruhe weiter an: bis zur nächsten Sendung mußten immerhin noch einige Minuten vergehen. Als er ein Getrappel von Schritten hörte, bog er wiederum aus seinem Versteck hervor: die Leute des Unterstabes, des 'Stäbchens', wie man gewöhnlich sagte, eilten mit ihren Geräten dem Eingangsloch des Bunkers zu. Voran ging der Zeichner Rabe, ein Mann in den vierziger Jahren mit etwas sorgenvollen gutmütigen Zügen und schmutzigmeliertem Nikolaus–bart. Sorgfältig preßte er die Kartenrollen und Farbetuis an sich und reckte trotz des beschleunigten und dazu ungeeigneten Ganges den Kopf und Oberkörper zu der wünschenswerten Ehrenbezeugung. 'Na, wohin denn, Herrschaften, wohin denn?' unterbrach nun Kolding die Flucht der ganzen Kavalkade, die plötzlich mit all ihren Utensilien wie aus Erz gegossen dastand. 'Nach unten, Herr Leutnant,' gab Rabe zurück, 'der Gefechtsstand wird anscheinend beschossen und unsere Hütte —' 'Ist denn gar kein anderer Unterschlupf da, als ausgesucht der Unterstand, in dem man sich sowieso nicht umdrehen kann? Die Engländer beschießen überhaupt nicht die Straße: ihr könnt ruhig in eurer Hütte bleiben.' Rabe wollte etwas sagen — aber er sah das Stirnrunzeln über den Augenbrauen des Adjutanten, und das wußte jeder zu deuten. Schon wollte er Kehrt machen, Kolding schickte sich an, zum Orte seiner Toilette zurückzueilen, da trat aus der Reihe ein jüngerer Mann vor, ein langaufgeschossener Vizefeldwebel, der unter dem einen Arm einen Stoß Akten, über dem anderen Mantel und Decken und ein mit vielen notwendigen Dingen behangenes Koppel trug. Mit einer halb nachlässigen, halb gewaltsamen Bewegung nahm er drei Schritte vor dem Adjutanten Haltung an und blickte ihm mit einer so zornigen Eindringlichkeit in die Augen, daß dieser blinzelnd zur Seite schaute und mit harmlos, fast gutmütig klingender Stimme fragte: 'Na, Wendelin, was gibt’s?' 'Herr Leutnant gestatten die Meldung, daß die Bretterhütte des Unterstabes nicht mehr existiert. Obwohl die Engländer nur die Straße beschießen' — dieses 'nur' sprach er mit fast bebendem Accent —, 'ist von den Granatsplittern unsere Behausung radikal weggefegt: es müssen Bretter über Herrn Leutnant weggeflogen sein.' Kolding bezwang sich: Wendelin, so gut man ihn gebrauchen konnte, durfte sich nur zeigen und ihn anschauen, so fühlte er sich wie gemaßregelt. 'Ach so, Wendelin, das hat mir Rabe nicht gesagt, daß Ihre Bude kaput ist, dann scheren Sie sich mit Ihrer Kohorte wohin Sie wollen.' 'Jawohl, Herr Leutnant.' Wendelin nahm nochmals Haltung an, drehte sich zu den Leuten um und sagte: 'Kommt!' Kaum war Wendelin in dem mit Trümmerstücken verdeckten Eingang untergetaucht, da wurde sich Kolding, noch ehe der erste Ärger überwunden war, bewußt, daß er sich vor Wendelin eine neue Blöße gegeben habe: denn die Frage, ob bei der Zerstörung der Hütte einer zu Schaden gekommen sei, wäre doch sehr passend gewesen. Wütend mit dem Fuß aufstampfend warf er sich den Waffenrock über, setzte sich die Mütze auf und kroch nun auch seinerseits in das Innere des gestaltlosen Trümmerhaufens. Ein Lied vor sich hinträllernd und mit einem letzten Blick seine Fingernägel musternd, betrat er den großen Raum, in dem sich die Offiziere gewöhnlich zum Mittagessen zusammenfanden. Oberst von Stotz, an der Spitze der weißgedeckten Tafel sitzend, legte gerade eine Meldung aus der Hand und hob seinen mächtigen Oberkörper aus der gebückten Haltung hoch über den Rand des Tisches. Er nahm das Monokel aus dem linken Auge und drehte es zwischen den mageren, nervösen, überlangen Fingern. 'Na, Kolding, wenn Sie etwas eher Toilette gemacht hätten, wären Sie dem Segen da draußen entgangen. Natürlich hatten Sie mal wieder Schwein. Wir werden wohl über kurz oder lang hier ausziehen müssen, was?' 'Nun, ich denke, Herr Oberst, wir warten mal ab, ob die Tommies nur die Straße oder ausgesucht den Gefechtsstand beschießen — wenn’s nur der Straße gilt, könnte uns höchstens ein Zufallstreffer erreichen.' 'Wieviel Meter Deckung ist über uns?' 'Kann ich nicht sagen, Herr Oberst. 'Sage ich Ihnen nicht immer, daß man nur zu fragen braucht, um keine Antwort zu erhalten?' Er stieß jetzt scharf mit der Zunge an, was immer besonders deutlich wurde, wenn er aufgeregt war, und wandte sich zugleich zum entgegengesetzten Ende des Tisches, wo ziemlich unbeachtet ein anderer junger Offizier aus rund umrahmten Hornbrillengläsern halb scheu, halb interessiert herüberlugte. 'Können Sie mir’s sagen, Foerster?' 'Ich denke, zwei Meter Deckung sind da, die den 28 ZentimeterGeschossen — die vor den 28 ZentimeterGeschossen uns kaum schützen können,' preßte er eilig hervor, wobei ihm wegen des Versprechens die Röte in den Kopf stieg. Er hatte noch etwas hinzufügen wollen über die Unmöglichkeit, die Mannschaften hier unterzubringen, und daß es auch darum besser sei, eine andere Unterkunft zu beziehen, aber nun war er schon froh, daß sein höchster Vorgesetzter die soeben ihm widerfahrene Sprechungeschicklichkeit nicht rügte, und deshalb schwieg er, wie er ja fast immer schwieg, wenn er doch lieber reden wollte. Der Oberst schob aufgebracht den Ring über der vor ihm liegenden Serviette hin und her. 'Lauter Ansichten, die sich widersprechen — und kein Vorschlag! Der einzige vernünftige Mann, der wirklich organisieren kann: Kuntze, sitzt hinten in der Etappe und baut Kinos.' Es entstand eine Pause. Kolding lächelte zufrieden vor sich hin und zeigte einen Ausdruck auf seinem Gesicht, der fast kindlich zu nennen war. Foerster suchte sich einen Satz zusammen, der wie ein wirklicher Vorschlag klingen sollte, aber im gleichen Augenblick schaukelte der Unterstand wie eine Wiege: die Servietten rollten vom Tisch, und Hauptmann von Ronsard, der in eine Duftwolke von Eau de Cologne gehüllt, soeben den Speiseraum betrat, hielt sich mit beiden Händen an den Eingangsecken des dunklen Korridors fest. 'Das waren aber mindestens vier Einschläge auf einmal,' sagte er, indem er lachend seine breiten Zähne zeigte. Dann zog er die Luft durch die Nase hoch, wodurch er den Eindruck, äußerst unempfindlich zu sein, noch verstärkte, wenngleich er dies auch sonst wegen eines chronischen Rachenkatarrhs nicht immer unterlassen konnte. Der Oberst war aufgesprungen, wodurch er nicht so viel größer wurde, wie man bei der Länge seines Oberkörpers erwarten durfte. Aber eine gewisse Kurzbeinigkeit war im Geschlechte derer von Stotz erblich, so daß sich die Offiziere aus diesem Hause bei weitem am besten zu Pferde ausnahmen. Der Kopf des Burschen Hillbrecht zeigte sich in diesem Augenblick im Unterstand. Sich von der Ehrenbezeugung dispensierend, neigte er sich nur ein wenig vor und schrie in ausgeprägt thüringischem Dialekt: 'Ich wollte den Herren nur sagen, daß die eine Wand vom Unterstand jetzt auf unseren Ofen gefallen ist, Essen is nich.' Kolding wieherte wie ein junges Pferd, alles Unerwartete machte ihm immer Freude, besonders wenn er andere schwerfälligere Naturen dadurch verblüfft sah. Er hatte sich jetzt ebenfalls langsam erhoben. 'Nu aber los, meine Herren, es wird ungemütlich. Die Straße ist doch nicht gemeint. Wir warten die nächste Lage ab und dann Kehrt marsch!' Jeder freute sich, daß das erlösende Wort gesprochen war, wenn auch der Rückweg nach Oostnieuwkerke noch manche Ueberraschungen bringen konnte. 'Ich werde eben die Brigade informieren, Herr Oberst,' sagte Kolding und ging in sein Arbeitszimmer.
Die Nachricht, daß umgezogen werden sollte, verbreitete sich rasch im ganzen Bunker. Die Burschen packten die Offizierssachen und was von der umfangreichen Kücheneinrichtung noch zu gebrauchen war. Ronsard beaufsichtigte seinen Burschen beim Zusammenraffen der Utensilien seines Necessaires, und Foerster nahm seufzend die 'Kritik der reinen Vernunft' von seinem kleinen Bücherbord und steckte sie in die Tasche. Dann ging er in die Küche, wo die Mannschaften schon am Boden knieten, um ihre Tornister zu schließen. 'Ist eigentlich vorhin was passiert, Wendelin?' wandte er sich an den Vizefeldwebel, der mit furchtbar ernsten Augen dem Gewimmel zu seinen Füßen zusah. Der blickte ihn aber an wie einer, der aus dem Schlafe erwacht. 'Nein, Herr Leutnant, aber das Schlimmste kommt wohl erst noch.' 'Ach, es wird schon gut gehn, Wendelin, sorgen Sie einstweilen dafür, daß die Mannschaften vorläufig nur das Nötigste mitnehmen, das andere kann dann heute abend, wenn’s ruhiger ist, geholt werden.' 'Ich habe das den Leuten schon gesagt, Herr Leutnant.' 'Na, schön, also auch einmal ein praktischer Gedanke bei Ihnen.' Foerster wollte dem Vizefeldwebel freundlich zulächeln, als der Adjutant in der Türfüllung erschien. Sogleich erstarrte sein Gesicht und er zog die Lippen über die Zähne, welche Veränderung Wendelin nun seinerseits mit einem kaum merklichen Lächeln quittierte.
Die neue Lage war inzwischen gekommen: sie ging einige zwanzig Meter weiter östlich nieder und richtete weiter keinen Schaden an. 'Jetzt müssen wir gehen,' meinte Rabe, der Zeichner, und Wendelin nickte mit dem Kopfe. 'Aber rechts der Straße,' fügte er hinzu, 'in der Nähe der Gräben und Hecken, zwanzig Meter Abstand, und so schnell, wie jeden seine Beine tragen. Los!' Während einer nach dem andern den Unterstand verließ, schlug Wendelin schnell seinen Goethe auf. Er liebte es, so das Schicksal zu befragen, klappte aber, da ihm die Stelle nichts zu sagen schien, das Buch eilig wieder zu. Seinen Tornister, den er am Tragriemen durch den Gang schleifte, hockte er draußen auf, prüfte noch schnell die Festigkeit des Bindfadens, der das Regimentskriegstagebuch und die Erkundungsergebnisse umschlang, und folgte dann den anderen im befohlenen Abstand. Die Offiziere, die sich leichter bewegen konnten, waren der schlimmsten Gefahrzone schon entrückt — nun, drei Minuten später würde er ebenso weit sein. Er legte einige Schritte im Laufschritt zurück, soweit ihm das unter der Last des hochgetürmten Gepäcks möglich war, und da kamen auch schon gurgelnd und fauchend die apokalyptischen Reiter angeritten. Ein polternd voller Krach, der ihm einen Augenblick die Empfindung des Grauens eingab, schloß ihm den Gehörgang wie mit einer harten Masse; hinzuwerfen brauchte er sich nicht, denn der Luftdruck preßte ihn nieder. Wie er so hingebreitet in dem zerpflügten Boden lag und ihm der Atem der frischen würzigen Erde in die Nase stieg, überkam ihn, mitten in der blitzartigen Berechnung, wo die Granate eingeschlagen und wie weit die über ihm brummenden Sprengstücke und der wie ein Raubvogel hinflatternde Zünder wohl von ihm entfernt wären, ein Gefühl der Zärtlichkeit für die Erde, die er umfaßt hielt. Zugleich überlegte er sich, daß vielleicht schon im nächsten Sekundenbruchteil all seine Reflexionen und auch dieses Gefühl der Zärtlichkeit ganz unvermittelt und für immer abreißen könnten: das war ihm ganz unbegreiflich.
Obwohl nun diese hastig sich verwebenden Empfindungen wie ein feinmaschiger Schleier sich beruhigend um seine Sinne legten, erwachte er doch ganz zur Wirklichkeit, als zu gleicher Zeit zwei Schreie sehr verschiedener Art die Luft um ihn durchschnitten. Der eine, in seiner nächsten Nähe, war von einem dumpfen kurzen Fall begleitet, er klang rauh und schwingend wie das rasche Zerreißen eines Trommelfelles unter einem Paukenschlag, der andere mochte zwei Häuser breit vor ihm ausgestoßen worden sein und war mehr der gewohnte Wehlaut des Schmerzes, der alsbald in ein schreckliches gellendes Hilferufen und Jammern überging. Daß dieses Rufen gar nicht nachließ, brachte ihn aus der Fassung, und die Augen aufschlagend erhob er sich mühsam vom Boden. Um ihn war zunächst noch bleigraue Dämmerung des Pulverdampfes und aufgejagten Staubes, nur allmählich erkannte er kaum einen Schritt von seiner Linken den Rand eines ungeheueren Trichters, während die andere Seite der Peripherie sich im Nebel verlor. Da bemerkte er Tropfen frischen Blutes an seiner Hose, einen ganzen Streifen sogar von solchen Tropfen, als ob man ihn aus der Öffnung einer Gießkanne damit besprengt hätte. Er blickte nach rechts und sah dicht neben sich den Körper des zweiten Stenotypisten, nein: nur den oberen Teil des Rumpfes mit Kopf und Armen. Der Waffenrock selbst war nur wenig zerfetzt, am Taillenhaken hing sogar noch das Kochgeschirr, das seinen bräunlichen Inhalt halb über den schmutziggrünen, vom Blut durchronnenen Stoff und halb unter die heraushängenden Eingeweide ergossen hatte. Die Lungenflügel waren deutlich zu unterscheiden: einer hing glatt und schieferfarbig aus den umgebenden Häuten und Fettwulsten, der andere war völlig zerrissen und fast wie eine schaumige Himbeercreme anzusehen. Ein starkriechender Dampf kräuselte sich aus dem Gewirre von Netzen und Gefäßen und Muskulaturen nach oben, so daß Wendelin ein plötzlicher Schwindel überkam. Gewaltsam raffte er sich zusammen: 'Auch er hatte die Erde lieb und wer weiß was sonst noch, und du selbst siehst drinnen auch nicht anders aus als der arme Kerl.' Er zwang sich, das Gesicht zu betrachten, das ganz unverletzt war. Der Rachen war weit aufgerissen, die Lippen fast verschwunden und zum Innern des Mundes hinaufgewickelt, die Augen, noch nicht einmal gebrochen, blickten mit einem ganz lebendigen und unsäglichen Entsetzen rund und mit scharfumrissenen übergroßen Pupillen nach oben. War der schon tot? Er konnte keinerlei Bewegung mehr wahrnehmen, auch sah er die breite und rote Pfütze, die der Körper ins Gras ergossen hatte: hier war also nicht mehr zu helfen. Paul Wendelin wandte sich ab. Er erstickte einen Fluch in seiner Kehle, den er als eine Lästerung empfand, zugleich durcheilte ihn eine mehr associative als empfundene Reminiszenz: der Gedanke an die Seelenwanderung. Was wäre besser für ein Geschöpf dieser Erde, fragte er sich: aus der Natur eines Tigers in einen Menschenleib überzugehen oder aus einem Menschenleib in die Wesenheit eines Tigers? Was wäre ein Aufstieg, eine Läuterung zu nennen: das erste oder das zweite? Er stieß ein krampfhaftes Lachen aus. 'Sippschaft,' dachte er bei sich, ohne mit dem offenstehenden zitternden Munde die Worte zu verlautbaren, 'wer gab dir das Recht, von blutdürstigen Tigern zu reden? Muß nicht der Tiger das warme Blut haben, um satt zu werden? Trinkt er dann noch weiter, wenn er satt ist? Ihr aber vergießt Blut in Strömen nun schon jahrelang, und laßt es fließen, wohin es mag: und bedürft seiner nicht. Wenn es wahr ist, daß die Seelen wandern: ihr verdient wahrlich nicht, Tiger zu werden. Nach soviel Verworfenheit solch ein Aufstieg? Nein!' Sein Mund verschloß sich, er legte die linke Hand wie beschwichtigend auf die Brust. Der Rauch hatte sich verzogen, wie vorher blaute der Himmel und zeigte von neuem die feindlichen Flieger, die, ohne im geringsten beschossen zu werden, hoch oben behaglich im reinen Lichte sich sonnten und wiegten. Mit einem Ton tiefsten Ingrimms den blonden Kopf nach unten werfend, erhaschte er im brennenden Auge das hochgespannte Bildnis eines Kruzifixes, an dem er auch, als man den nun aufgegebenen Gefechtsstand bezog, vorübergekommen war. Heil und unberührbar reckte sich der buntbemalte Körper unter dem umwölbenden Blechstreifen, auf dem Erlösungssprüche in frechen Farben prangten. Sein Mund tat sich wieder auf. 'Ihr Götter allzumal,' stieß er hervor und schluchzte auf, 'wozu kamt ihr auf die Erde? Nur einmal hat einer, der sich Jehovah nannte, etwas Treffliches unternommen: als er die Sintflut schickte. Aber sie ist ihm nicht gelungen: die Feigsten von allen haben sich eine Arche gebaut, und die Hölle blieb.' Da hörte er wieder das Klagen des Verwundeten, das seine gelle Schärfe nun verloren hatte und zu einem dumpfen, fast wie aus einem Kerker heraufhallenden Ächzen geworden war. Fast scheute er sich, dieses neue Grausen in seine gequälten Augen einzulassen, aber schon packte ihn heiße Scham: er warf den Kopf in den Nacken und ging auf den stöhnenden Menschen zu, der mit den Armen abenteuerliche Kreise und Verrenkungen in die Luft schlug.


Victor Meyer-Eckhardt, geboren am
22. September 1889 in Neheim-Hüsten/Westfalen, lebte von 1940 bis zu seinem Tod am 2. September 1952 in Leutherheide.
Er war Bibliothekar in Düsseldorf. Er bereiste Griechenland, Italien und den Vorderen Orient und schrieb Romane, Reiseberichte, Erzählungen und Gedichte.
'Das Vergehen des Paul Wendelin' wurde am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz von den Nationalsozialisten verbrannt.



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