E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten
Reihe: Furien-Trilogie
Miles Im Herzen der Zorn
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7320-0086-9
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten
Reihe: Furien-Trilogie
ISBN: 978-3-7320-0086-9
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elizabeth Miles wuchs in der Nähe von New York auf. Nach ihrem Studium in Boston arbeitete sie als Journalistin für eine alternative Wochenzeitung. Sie spielt leidenschaftlich gern Theater, liebt Pizza über alles und eine kalte Winternacht in Maine ist für sie das Schönste, wenn auch Unheimlichste, was sie sich vorstellen kann. Sie lebt mit ihrem Freund und ihren zwei Katzen in einer chaotischen Wohnung in Portland, Maine.
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Kapitel 2
In dem verstaubten Türmchen des alten viktorianischen Hauses ihrer Tante Nora war Skylar McVoy gerade dabei, ihre letzten Sachen aus einer lila Reisetasche zu packen. Sie steckte das Ladegerät ihres iPods in die Steckdose, arrangierte eine kleine Sammlung Nagellack auf der wackeligen Kommode in der Ecke und drapierte anschließend ein paar Schals über den Spiegelrahmen. Sie musterte das Zimmer – die hölzernen Dielen, das Erkerfenster mit Blick auf die Straße, das große Bett mit dem geschwungenen Metallrahmen. Ihr neues Zuhause. Es würde eine Weile dauern, sich daran zu gewöhnen. Es war so … typisch Neuengland, hölzern, derb und kalt. Kein Vergleich mit ihrer alten Wohnung in Alabama, wo der Teppichboden und die billigen Kunststoffmöbel scheinbar vor Wärme gestrahlt hatten. Sie zitterte, klemmte sich ihr schulterlanges blondes Haar hinter die Ohren und zog sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf. Vielleicht würde sie Nora um einen kleinen Heizofen bitten.
Wie aufs Stichwort klopfte es in diesem Moment an die Zimmertür.
»Herein«, sagte sie und wunderte sich, wie sehr ihre Tante ihre Privatsphäre respektierte. Weder für ihre Mom noch für Lucy hatte es so etwas wie Anklopfen oder Grenzen gegeben.
»Na, fühlst du dich schon ein bisschen heimisch?« Nora warf einen Blick auf die Schals, die Palette von Skylars Schuhen am Fußende des Bettes und die leeren Koffer, die darauf warteten, im Schrank verstaut zu werden. Skylar war wieder einmal verblüfft, wie wenig Ähnlichkeit Nora mit ihrer Mom hatte. Während diese mager, knochig und blond gefärbt war, war Nora weich und rundlich und hatte wellige, von ein paar grauen Strähnen durchzogene Haare. Und sie roch nach Pflanzen. Auf angenehme Art. »Hast du in der Kommode genug Platz für deine Sachen? Ich hab dir die warme Bettwäsche aufgezogen – hier oben kann es ganz schön frisch werden.«
»Alles bestens, Tante Nora«, antwortete Skylar und lächelte. »Danke.«
Noch in derselben Nacht, in der ihre Mom im Gefängnis landete, weil sie zum dritten Mal betrunken Auto gefahren war, hatte Nora Skylar das Flugticket gekauft. »Den Rest des Schuljahres verbringst du hier«, hatte ihre Tante an jenem Abend am Telefon gesagt, »und danach sehen wir weiter.«
Aber Skylar und Nora hatten beide die Wahrheit gekannt: Skylar würde für immer nach Ascension ziehen. Schon vor Lucys Unfall war das Leben in Alabama schlimm gewesen, doch während des vergangenen Jahres war es unerträglich geworden. Ihre Mom hatte mehr getrunken als je zuvor und im Haus herumgetobt, wenn sie einmal nicht gerade teilnahmslos vor dem Fernseher saß und rauchte. Sie hatte irgendwelche Kerle mit nach Hause gebracht, die sich nicht einmal die Mühe machten, so zu tun, als wollten sie Skylars Namen lernen. Zu der emotionalen Distanz, die Skylar schon jahrelang empfunden hatte, war auch noch physische Distanz gekommen. Sie hatte ihre Mutter oft tagelang nicht gesehen und manchmal hatte sie sie noch nicht einmal vermisst. Ihr Leben war zu einem Albtraum geworden.
Im Grunde genommen hatte Nora Skylar gerettet. Und deshalb hatte Skylar sich auch vorgenommen, über all die Eigentümlichkeiten ihrer Tante hinwegzusehen und sich daran zu gewöhnen. An ihr unheimliches enzyklopädisches Wissen über Ascensions Geschichte zum Beispiel und an ihr drolliges Kichern. Abgesehen davon hatte Nora, im Gegensatz zu Skylars Mom, einen festen Job – sie war Zahnpflegerin in einer örtlichen Klinik – und deshalb ein regelmäßiges Einkommen und einen festen Tagesablauf. An nichts von alldem war Skylar in irgendeiner Weise gewöhnt.
Bevor sie sich zum Gehen wandte, fragte Nora: »Möchtest du vielleicht etwas Tee? Ich mache unten gerade welchen.«
»Nein, danke«, erwiderte Skylar. »Tee ist nicht so mein Ding. Aber danke für das Angebot.«
Da war sie wieder, ihre ewige Dankbarkeit. Für so viel. Denn Nora hatte sie nicht nur aus Alabama geholt. Sie ermöglichte es Skylar auch, noch einmal ganz von vorn anzufangen, gab ihr die Chance, ein neuer Mensch zu sein.
»Ich fahre dich morgen früh zur Schule«, sagte Nora, »für den Fall, dass ich wegen der Ummeldung noch etwas ausfüllen muss. Wir sollten so gegen sieben das Haus verlassen, ja? Schlaf ein wenig und lass es mich wissen, wenn du noch etwas brauchst.« Als sie das Zimmer verließ, zog sie sich ihren terrakottafarbenen Schal enger um die Schultern. »Brrr«, hörte Skylar sie noch sagen, während sie wieder die Treppe hinuntertappte. »Was für ein schrecklicher Winter.«
Skylar wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Reisetasche zu, die fast schon leer war. Ganz unten lag noch die große Ausgabe von Aesops Fabeln, die sie bereits als Kind besessen hatte. Sie liebte diese Geschichten schon immer und hatte ihrer Mutter einmal vorgeschlagen, eine davon in der Kategorie »Besonderes Talent« bei einem Schönheitswettbewerb vorzutragen. »Glaubst du ernsthaft, irgendwer will sich dein Gequassel anhören?«, hatte ihre Mom gelästert. Da hatte Skylar stattdessen einen Stepptanz vorgeführt.
Sie schlug das Buch auf und blätterte es durch, betrachtete die altbekannten Bilder. Der Fuchs und die Trauben. Die Ameise und die Heuschrecke. Sie lächelte und blätterte weiter. Schon immer hatte sie Trost in Geschichten gefunden.
Plötzlich ließ sie den Band erschrocken mit einem lauten Knall zu Boden fallen. Ein Foto, das zwischen den Seiten gesteckt hatte, rutschte heraus. Es war ein Bild von ihr und Lucy kurz vor dem landesweiten Schönheitswettbewerb im vorigen Jahr, dem Abend, an dem alles schiefgegangen war. Sie: klein, pummelig und flachbrüstig, wandte sich zur Seite ab. Lucy: groß, schlank und wunderschön, strahlte mit ihren rot geschminkten Lippen in die Kamera und hatte den Arm um Skylars Hals gelegt.
Skylar staunte wie immer über Lucys naturgegebene Schönheit. »Wirklich Pech, dass Lucy das meiste von meinem Aussehen geerbt hat«, hatte ihre Mom sich mehr als einmal lustig gemacht. Ihre Mutter war auch einmal Schönheitskönigin gewesen, bevor das Rauchen ihre Haut stumpf und der viele Alkohol ihren Blick hatte ausdruckslos werden lassen. Sie hatte beide ihrer Töchter dazu angetrieben, die Träume zu verwirklichen, die sie für sich selbst hatte begraben müssen, indem sie sie bei Schönheitswettbewerben und Talentshows anmeldete, kaum dass sie laufen konnten. Für Skylar hatte das wiederholte Demütigung und Zurückweisung bedeutet. Doch Lucy hatte sich selbst übertroffen, bei den Preisrichtern mit ihrer natürlichen Anmut gepunktet, mit ihrem stolzen Gang und ihren Wahnsinns-Tanzschritten. Lucy hatte alle davon überzeugt, dass sie perfekt war.
Fast alle.
Skylar schauderte. Wie war dieses Foto unter ihre Sachen gelangt? Sie blickte auf und musterte sich im Spiegel. An ihr war nichts Strahlendes. Ihre Stirn lag in konzentrierten Falten, ihre Schultern waren angespannt, ihr Haar hing schlaff herunter. Sie konnte nicht die Spur von Lucys Selbstvertrauen in ihrem Spiegelbild entdecken.
Nein. Die Erinnerung an dieses Leben würde sie nicht bis nach Maine verfolgen. Lucy konnte keinen Schatten mehr auf sie werfen – nicht auf diese Entfernung.
Hier würde es anders sein.
Skylar ging zu dem Papierkorb in der Ecke ihres neuen Zimmers. Ruhig und entschlossen begann sie, das Foto zu zerfetzen. Sie riss es in ganz kleine Stücke und zerpflückte diese anschließend weiter, so lange, bis sie nur noch ein Häufchen buntglänzendes Konfetti in Händen hielt.
Es fühlte sich unglaublich gut an, das Foto zu zerstören, genauso wie es sich gut angefühlt hatte, im Verlauf des letzten Jahres mühevoll zehn Kilo abzunehmen, genauso wie der Flug von Alabama nach Maine ihr ein heimliches Gefühl der Erleichterung gegeben hatte. Während sie durch die Luft flog, saß ihre Mutter bereits hinter Gittern.
Skylar schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, während sie anfing, ihr Outfit für den nächsten Morgen herauszulegen: eine hippe weiße Carmenbluse, eine pinkfarbene Strickjacke, ihre dunkelblaue Lieblingsjeans und graue Ankleboots.
Sie hatte die Chance, ihr Leben wieder aufzubauen – nein, sich überhaupt ein Leben aufzubauen. Akzeptiert zu werden. Geliebt. Ihr Blick fiel auf eine lange Silberkette und sie legte sie lächelnd neben die weiße Bluse. Ja. An der Ascension Highschool würde sie strahlen.
Nicht, dass Skylar noch nie eine Treppe hinaufgestiegen wäre. Doch am nächsten Morgen stimmte irgendetwas mit ihrer Körperkoordination nicht und um 9.18Uhr, zwischen der ersten und der zweiten Stunde, beging sie ihren ersten großen Fehler. Sie stolperte eine Treppe hinauf. Bumm.
Sie schoss nach vorn, fing sich noch mit den Handflächen ab, landete jedoch um ein Haar mit dem Gesicht auf dem Boden. Sie blickte sich um – nur ein Meer von namenlosen Gesichtern, die sich gemeinsam zur nächsten Unterrichtsstunde bewegten. Der Stiefel von jemandem stieß ihre Tasche weg und sie kroch schnell hinterher, um sie aufzuheben, bevor sie die Stufen herunterpurzelte. Das Gesicht brennend heiß vor Scham, stand sie auf und klopfte sich ab, wobei sie versuchte, mit niemandem in Blickkontakt zu geraten.
Dabei war es vorher auch nicht gerade super gelaufen. Das kurze Treffen zwischen ihr, Tante Nora und der Leiterin der Ascension High war alles andere als beruhigend gewesen. Direktorin Noyes schien daran zu zweifeln, dass Skylar in der Lage sein würde, in allen Fächern mitzukommen, und hatte ihr deshalb dringend empfohlen, in den Sommerferien Nachhilfe zu nehmen. Anschließend hatte Skylar sich auf der Suche nach dem Mathematikraum verlaufen. Und nun diese Blamage auf der Treppe. Sie hätte einen Tarnumhang tragen können und trotzdem noch das Gefühl gehabt, mitten im...




