E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Milzner Archetypen in der Familie
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-647-99273-0
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wie unbewusste Bilder die hypnosystemische Arbeit bereichern
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-647-99273-0
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Georg Milzner ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut mit hypnotherapeutischem Schwerpunkt, Familienberater, arbeitet in eigener Praxis in Dangast, als Forschungsleiter und Therapeut am Institut für Hypnotherapie in Düsseldorf sowie als Dozent und Ausbilder für verschiedene Institute im deutschsprachigen Raum. (Foto: Rita Honrado)
Autoren/Hrsg.
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Worum geht es in diesem Buch und was habe ich davon, es zu lesen?
Die Welt der Archetypen, unserer seelischen Urbilder und Urmuster, kann uns für die hypnosystemische Familienberatung eine Menge anbieten. Mit dieser Behauptung möchte ich einsteigen. Vielleicht sind Sie jetzt erst einmal skeptisch, denn wenn wir an Archetypen denken, dann gehen Bilder in uns auf, die nicht unbedingt etwas mit Familientherapie zu tun haben. Wir sehen Krieger und Magierinnen, Königinnen und Heiler. Diese Archetypen gibt es und sie werden uns im Verlauf dieses Buchs an verschiedenen Stellen begegnen.
Es gibt aber auch eine andere Kategorie von Archetypen, die für die Arbeit mit Familien mindestens genauso wichtig ist. Diese Archetypen betreffen die Strukturen, in denen Menschen mit Kindern gelebt haben und die sich in großen Bildern wie in Verhaltensmustern abgeformt haben.
Zu ihnen gehören matriarchale Strukturen, die ins Bild der Großen Mutter eingeflossen sind, patriarchale Strukturen, die im Bild des Vater-Königs aufscheinen, sowie eine Vielzahl von Bildern, die sich Menschen immer wieder von Kindern gemacht haben und die in unsere kollektive Psyche eingesickert sind.
Archetypen können uns als Konstanten der Menschheitsgeschichte dabei helfen herauszufinden, warum Familie zu leben oft mit solchen Schwierigkeiten behaftet ist. Sie erlauben uns entlastende Erkenntnisse, indem wir finden, dass wir mit unseren heutigen Nöten in einer Reihe mit denen stehen, die vor uns waren, und dies weltweit.
Zugleich aber bieten Archetypen uns an, Wege der Veränderung, der Beziehungsheilung und der Familienharmonisierung zu gehen. Sie zeigen uns Muster auf, die nicht dem modernen Verstand entspringen, sondern einem alten Wissen, das sich beständig neu aktualisiert. In diesem Sinn sind sie Ressourcen, die es neu zu entdecken gilt, weil sie in ihrem Ausmaß die individuellen Ressourcen übersteigen.
Ich möchte als Hypnotherapeut und Begründer einer hypno-analytischen Arbeitsform (Milzner, 2000) aber auch zeigen, dass ein hypnosystemischer Betrachtungswinkel uns neue Erkenntnisse über Archetypen vermitteln kann. So werde ich den Versuch unternehmen, das kollektive Unbewusste, das vielfach selbst als eher mythische Vorstellung gilt, mithilfe von wissenschaftlichen Konzepten wie der Systemtheorie neu zu begründen.
Dies hat ganz praktische Konsequenzen und ist also mehr als Theoriebildung. Denn wenn wir zeigen könnten, dass wir in der hypnosystemischen Arbeit nicht nur mit einem Familiengedächtnis arbeiten, sondern mit einer Art Menschheitsgedächtnis, dann würden unsere Möglichkeiten gerade da größer werden, wo wir mit den steigenden Anforderungen durch Aufgaben der Integration zu tun haben.
Gegenwärtig können wir beobachten, dass Archetypen vor allem im Sinn von menschlichen Grundtypen betrachtet werden. Hierbei bekommen einige besondere Aufmerksamkeit, etwa der Krieger und die Kriegerin, die Magierin und der Magier, Königin und König sowie die Liebenden. Diese vier archetypischen Muster wurden Ende der 1980er Jahre vor allem zur Bestimmung archetypischer Verhaltensweisen des Mannes beschrieben (Moore u. Gillette, 1990) und fanden später Eingang in die hypnotherapeutische Arbeit Stephen Gilligans (2011), wo sie nicht mehr nur auf ein Geschlecht reduziert wurden.
Ein anderer bedeutender Archetypus, der viel Aufmerksamkeit erfährt, ist der der Helden- und Heldinnenreise, die als Weg der Selbstfindung beschrieben und mit jeweils unterschiedlichen archetypischen Konstellationen in Verbindung gebracht wird. So hat die Helden- und Heldinnenreise in Hypnotherapie und Neurolingistisches Programmieren (Gilligan u. Dilts, 2013) ebenso Eingang gefunden wie in die feministisch geprägte Psychotherapie (Murdock, 1999) und die systemische Beratung (Lindemann, 2023).
Die psychoanalytische Forschung hat uns gezeigt, dass da, wo Erziehung und Bildung gesellschaftlich konzeptioniert werden, immer auch etwas Unbewusstes im Spiel ist. Wie Erik Erikson fand, ist dies Unbewusste weniger am Kindeswohl orientiert als vielmehr an einer Vorstellung davon, wie der erwachsene Mensch sein soll (Erikson, 2005).
Auch die neueren Erziehungsmodelle und pädagogischen Konzepte basieren vor diesem Hintergrund nicht auf Forschungen allein, sondern werden von unbewussten Motivationen und Weltbildern mitbestimmt. Diese Weltbilder aber sind von alten, mitunter sehr alten Mustern geprägt und wir können finden, dass diese durch die Geschichte hindurch immer wiederkehren.
Es lohnt sich daher, diese Muster zu kennen und die Möglichkeiten der Arbeit mit ihnen auszuloten. In der hypnosystemischen Beratung tun wir dies durch individuelle oder die ganze Familie einbeziehende Trance-Erkundungen sowie durch das Ausloten suggestiv erzeugter innerer Wirklichkeiten, die archetypisch durchströmt sind.
Ich bin gewiss, dass die Arbeit mit Archetypen in der Familienberatung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten immer wichtiger werden wird. Archetypen sind das, was uns interkulturell zu verbinden vermag. Sie sind zumeist Jahrhunderte, manche Jahrtausende alt und haben sich in der Menschheitsgeschichte als bedeutsam erwiesen. Das macht sie zu Bildern, die zu Brücken werden können, wenn beispielsweise Befunde moderner Bindungsforschung oder aktuelle erziehungswissenschaftliche Entwürfe Menschen aus traditionellen Kulturen fragwürdig erscheinen.
Ich arbeite mit Archetypen seit etwa der Mitte der 1990er Jahre. In dieser Zeit war ich als junger Psychotherapeut nach Abschluss einer verhaltenstherapeutischen und einer Hypnoseausbildung in eine Reihe von Weiterbildungen in Analytischer Psychologie nach C. G. Jung gegangen. Die Verbindung von archetypischem Material mit meinem Trance-orientierten Hintergrund brachte eine Vielzahl an Selbsterfahrungen und therapeutischen Interventionen hervor, die mich bis heute begleiten.
Seitdem Jung in den 1930er Jahren die Welt der Archetypen erstmals erkundete, haben seine Erkenntnisse nicht nur Analytikerinnen und Therapeuten, sondern auch Forschende in den Kulturwissenschaften und in der Bewusstseinsforschung beschäftigt. Hierbei kam es immer wieder zu neuen Erkenntnissen, die darauf hindeuten, dass Archetypen keinesfalls Fantasien sind (Grof, 2007), sondern dass sie das moderne Leben in weit umfassenderer Weise beeinflussen, als viele von uns im Zeitalter der modernen Hirnforschung und der Digitalisierung annehmen.
So stellte ich als Forschender zum Beispiel fest, dass sich archetypische Muster sogar in verstörenden Phänomenen wie dem modernen Amoklauf finden (Milzner, 2010a). Beeindruckt registrierte ich, dass anscheinend uralte Muster auch im therapeutischen Geschehen wirken und dass die therapeutische und die künstlerische Welt, so weit sie heute auseinander liegen, demselben archetypischen Hintergrund verpflichtet sind, nämlich der Kunst der Verwandlung.
Endlich begegne ich archetypischen Mustern auch da, wo ich mit Familien oder als Bildungsreferent über die digitale Entwicklung, über Social Media und insbesondere über Computerspiele spreche. Letztere thematisieren ebenso wie Fantasy-Bücher und -Filme eine Fülle archetypischer Themen und sind in Hinsicht auf die Vermittlung von mythologischem Wissen eine weithin unterschätzte Ressource.
Archetypisches Wissen ist altes Wissen. Wissen bedeutet, es sind keine Vermutungen, keine Spekulationen. Sondern Archetypen geben wieder, was sich an Urbildern in der Psyche eingravierte und was an Urmustern in der menschlichen Psyche entstand.
Archetypen zeigen also nichts, was so oder anders sein könnte, sondern sie zeigen, wie etwas ursprünglich und dann immer wieder war. Archetypen sind keine Blickwinkel, sondern sie sprechen von dem, was der Menschheit – nicht einzelnen Kulturen, nicht einzelnen Völkern – immer wieder geschah.
Archetypen können in der hypnosystemischen Familienberatung auf vielfältige Weise vorkommen: Einmal können wir erkunden, inwieweit in Familienmitgliedern ein archetypisches Geschehen zu wirken scheint. Sodann können wir uns fragen, inwieweit in einer Familie archetypische Bilder vom Kind wirken. Überdies können wir erkunden, ob Einzelne in der Familie sich mit einem Archetyp übermäßig identifizieren. Und endlich können wir in Trancen und Imaginationen individuell und kollektiv erkunden, inwieweit die Einführung alternativer archetypischer Bilder und Muster dem familiären Geschehen möglicherweise guttut.
Die Beschäftigung mit Archetypen kann uns aber auch dahin bringen, allzu sentimentale Klischees mit Blick auf Abstammung und Geschwisterschaft zu relativieren. Sie macht offenbar, dass Familie etwas sehr anderes ist als bloß eine bürgerliche Lebensform und dass in ihr Kräfte wirken, die archaisch sind und viele Varianten des Zusammenlebens ermöglichen.
Eine wichtige Frage betrifft die Geschlechterdifferenzierungen hinsichtlich der Archetypen. Die uns allmählich vertrauter werdende Art, männliche, weibliche und diverse Identitäten sprachlich abzubilden, indem wir etwa von Krieger:innen sprechen, würde im Fall der Archetypen zu Verzerrungen führen. Diese sind ja sehr alt und entsprechen daher dem...




