Mínervudóttir Der Schöpfer
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-641-06981-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-06981-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sveinn hat sich der Kunst verschrieben, lebensgroße Sexpuppen aus Silikon herzustellen. Die Kunsthochschule hat er vor Jahren abgebrochen, nun widmet er seine gesamte Zeit seinen Geschöpfen und dem Ziel, sie möglichst perfekt zu gestalten. Da bleibt eines Tages Lóa mit einer Reifenpanne direkt vor seiner Haustür liegen. Er bietet ihr seine Hilfe an und bittet sie herein. Lóa ist alleinerziehende Mutter zweier Töchter und hat eigentlich nur einen Gedanken: möglichst schnell wieder nach Hause zu kommen. Vorher höchstens noch ein Gläschen Wein. Völlig erschöpft schläft sie wenig später auf Sveinns Sofa ein. Als sie am nächsten Morgen aufwacht, stößt sie zufällig auf Sveinns Werkstatt und die Puppen. Seltsam fasziniert, packt sie eine davon in ihr Auto und setzt damit eine Kette unvorhergesehener Ereignisse in Gang ...
Gudrún Eva Mínervudóttir, geboren 1976, studierte in Reykjavík Philosophie. Ihr Roman 'Der Schöpfer' fand international Beachtung. Für 'Alles beginnt mit einem Kuss' ist sie mit dem isländischen Literaturpreis ausgezeichnet worden. Sie zählt zu den bekanntesten jungen Autorinnen Islands.
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" (S. 186-187)
Es war kurz vor Mitternacht, und Sveinn schlurfte an der Wohnungstür vorbei in die Küche, wo er feststellte, dass es im Kühlschrank ziemlich dürftig aussah. Er versuchte, gelassen zu bleiben, aber wie sehr er sich auch bemühte, er zitterte am ganzen Körper, hatte einen sauren Geschmack im Mund, verspannte Kiefer und brennend heiße Wangen. Das Mindeste, was man von den Leuten erwarten konnte, war, dass sie sich darüber klar wurden, was sie wollten und was nicht. Aber Lóa verhielt sich wie das Zerrbild einer Frau: Fahr zur Hölle – hilf mir. Geh weg – bleib hier. Sveinn wollte schnell etwas essen, zwei Schmerztabletten schlucken und dann nach Hause fahren – mit oder ohne der Schwarzhaarigen.
Vielleicht konnte er Lárus anrufen und ihn bitten, ihm zu helfen, die Puppe ins Auto zu tragen. Aber nein, das ging nicht. Er konnte Lóa in diesem Zustand nicht alleine lassen. Wahrscheinlich war sie eine Gefahr für sich selbst und andere. Machte man sich nicht strafbar, wenn man jemanden ignorierte, der in Gefahr war? Warum fühlte er sich eigentlich für diese Frau verantwortlich? Wo waren ihre Mutter, ihre Familie, ihre Freundinnen? Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Entscheidung zu verschieben. Ins Wohnzimmer zu gehen und noch ein paar Wissenschaftsmagazine zu holen.
Den Kühlschrank näher in Augenschein zu nehmen. Er fand ein Glas mit eingelegtem Hering, scharfen Senf, Schimmelkäse, Ananassaft. Sveinn schaltete das Licht ein und suchte nach Keksen oder Knäckebrot, wobei sein Blick auf ein paar alte Fotoalben in dem Regal mit den Kochbüchern fiel. Er schlug eins auf und sah blonde Kinder in weiten Latzhosen und maschinegestrickten Wollpullovern. Mit Lämmern auf dem Arm, auf Rechen gestützt, die doppelt so lang waren wie sie, und ohne Sattel zwischen verrosteten Wellblechplatten und schiefen Zäunen umherreitend. Kinder mit Milchbärten, Kinder in der Badewanne und vereinzelte Erwachsene mit starrem Lächeln und steifen Schultern, weil sie sich der Kamera bewusst waren. Männer, die sich vorbeugten, als trauten sie der Kamera nicht zu, bis zu ihnen hinzureichen.
Frauen, meist mit etwas Essbarem in der Hand oder mit vor der Brust verschränkten Armen. Sveinn schob die Zeitschriften ans andere Ende des Tisches, stapelte die Alben neben dem Glas und der Saftpackung auf, piekste drei süße Heringshappen auf die Gabel, steckte sie in den Mund und begann zu blättern. Doch, das musste Lóa sein, vielleicht mit sechs Jahren, mit weißblondem, lockigem Haar und einem tiefen Grübchen. Gut, dass sie zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, was als Erwachsene auf sie zukam. Und da trug irgendein Hüne sie auf dem Arm, wahrscheinlich ihr Vater. Hatte sie nicht erzählt, er sei Europameister im Bankdrücken gewesen? Was für breite Schultern, und Arme wie die Schenkel einer Riesin. War das Hans Sigurjónsson aus Hlíd im Svarfadardalur?
Wie hatte er noch mal auf dem Foto in der Todesanzeige ausgesehen? Grauhaarig, rundlich, nicht besonders eindrucksvoll. Keinesfalls so muskulös wie der auf dem Bild. Wahrscheinlich hatte er im Alter etwas abgebaut. Obwohl Lóa doch erzählt hatte, er hätte fast bis zu seinem letzten Atemzug Gewichte gestemmt. Sveinn musterte das Gesicht des Mannes und versuchte, die Züge eines Selbstmörders darin zu erkennen – aber es gelang ihm nicht. Da war nichts zu sehen als angeschlagene Gesundheit und maskuline Einfalt. Da saßen sie, der Hüne und Lóa, auf der Motorhaube eines dunkelblauen Benz. Das heißt, sie saß, während er sich mit dem Rücken an den Wagen lehnte. Sie war ein bisschen älter, trug kurze Haare und einen kleinen Geldbeutel um den Hals."