Modiano | Im Café der verlorenen Jugend | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Modiano Im Café der verlorenen Jugend

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-446-23964-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-446-23964-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Paris in den 60er Jahren: Schon als Mädchen ist Louki aus der Wohnung der Mutter, einer Garderobiere im Moulin Rouge, immer wieder weggelaufen. Den Vater hat sie nie gesehen. Ihren Mann, einen reichen Immobilienmakler, verließ sie ein Jahr nach der Heirat wieder. Mit ihrem Geliebten, dem angehenden Schriftsteller Roland, der in einer zwielichtigen Buchhandlung arbeitet, streift sie tagelang durch die große Stadt. Im Café Condé, dem 'Café der verlorenen Jugend', glaubt Louki Zuflucht zu finden ... Mit wunderbarer Leichtigkeit erschafft Patrick Modiano, einer der großen zeitgenössischen Autoren aus Frankreich, eine unvergleichliche Atmosphäre. Eine Atmosphäre, die süchtig macht.

Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
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Ich hatte Glück, dass der junge Mann im Condé mein Tischnachbar war und wir auf so ungezwungene Art ins Gespräch kamen. Ich war zum ersten Mal in diesem Lokal und hätte vom Alter her sein Vater sein können. Das Heft, in dem er Tag für Tag, Nacht für Nacht seit drei Jahren die Gäste des Condé verzeichnete, hat mir die Arbeit erleichtert. Es tut mir leid, dass ich ihm verheimlicht habe, aus welchem Grund ich Einsicht nehmen wollte in dieses Dokument, das er mir so freundlicherweise geliehen hat. Aber habe ich ihn belogen, als ich sagte, ich sei Kunstbuchverleger?
Mir war schon klar, dass er mir glaubte. Das ist eben der Vorteil, zwanzig Jahre älter zu sein als die anderen: sie wissen nichts über deine Vergangenheit. Und selbst wenn sie dir ein paar zerstreute Fragen stellen über dein bisheriges Leben, kannst du alles erfinden. Ein neues Leben. Sie werden nichts überprüfen. Und während du erzählst von diesem ausgedachten Leben, weht ein Schwall frischer Luft durch einen engen Raum, wo du seit langem zu ersticken drohtest. Ein Fenster geht plötzlich auf, die Läden klappern im Seewind. Die Zukunft liegt wieder vor dir.
Kunstbuchverleger. Das ist mir so eingefallen, ohne langes Überlegen. Hätte mich jemand vor über zwanzig Jahren gefragt, was ich werden wollte, ich hätte gestammelt: Kunstbuchverleger. Na gut, heute habe ich’s gesagt. Nichts hat sich verändert. All die Jahre sind weggewischt.
Bloß dass ich nicht vollkommen reinen Tisch gemacht habe mit der Vergangenheit. Ein paar Zeugen sind noch da, ein paar Überlebende von all jenen, die unsere Zeitgenossen waren. Eines Abends, im Montana, habe ich Doktor Vala nach seinem Geburtsdatum gefragt. Wir sind im selben Jahr geboren. Ich habe ihn daran erinnert, dass wir uns vor langer Zeit in derselben Bar getroffen hatten, als das Viertel noch in vollem Glanz erstrahlte. Und übrigens hätte ich das Gefühl, ihm schon viel früher begegnet zu sein, in anderen Vierteln von Paris, am rechten Seineufer. Ich war mir sogar sicher. Vala bestellte in schroffem Ton ein Viertel Vittel und fiel mir ins Wort, bevor ich unangenehme Erinnerungen hätte wachrufen können. Ich habe geschwiegen. Unser Leben hängt immer wieder am seidenen Faden eines Schweigens. Wir wissen genau übereinander Bescheid. Also versuchen wir, uns aus dem Weg zu gehen. Am besten ist es natürlich, wenn man sich endgültig aus den Augen verliert.
Merkwürdiger Zufall … Ich bin wieder auf Vala gestoßen, als ich an jenem Tag zum ersten Mal die Schwelle des Condé überschritten habe. Er saß an einem Tisch ganz hinten, mit zwei oder drei jungen Leuten. Er hat mir einen bangen Blick zugeworfen, wie ein Bonvivant beim Auftritt eines Gespensts. Ich habe ihm zugelächelt. Ihm die Hand gedrückt, ohne ein Wort. Ich spürte, die kleinste Bemerkung meinerseits wäre ihm peinlich vor seinen neuen Freunden. Er wirkte erleichtert über mein Schweigen und meine Zurückhaltung, als ich mich auf die Moleskinbank setzte, am anderen Ende des Raums. Von hier konnte ich ihn beobachten, ohne dass er meinen Blick auffing. Er redete leise mit ihnen, vornübergebeugt. Hatte er Angst, ich könnte seine Äußerungen hören? Um mir die Zeit zu vertreiben, ersann ich all die Sätze, die ich in gespielt mondänem Ton hätte sagen können und die ihm Schweißperlen auf die Stirn getrieben hätten. »Sind Sie immer noch Arzt?« Und nach einer kleinen Pause: »Sagen Sie, praktizieren Sie weiterhin am Quai Louis-Blériot? Oder haben Sie noch Ihre Praxis in der Rue de Moscou … Und der Aufenthalt in Fresnes vor so langer Zeit, ich hoffe, der hatte keine allzu schwerwiegenden Folgen …« Fast hätte ich laut herausgelacht, ganz allein, da, in meiner Ecke. Man wird nicht älter. Mit den Jahren, die vergehen, kommen einem viele Menschen und Dinge am Ende so komisch vor und so lächerlich, dass man sie mit den Augen eines Kindes betrachtet.
Bei diesem ersten Besuch habe ich lange im Condé gewartet. Sie ist nicht gekommen. Ich musste Geduld haben. Ein andermal würde es klappen. Ich habe die Gäste beobachtet. Die meisten waren nicht älter als fünfundzwanzig, und ein Romancier des 19. Jahrhunderts hätte bei ihnen wohl von »studentischer Boheme« gesprochen. Aber meiner Meinung nach waren nur ganz wenige an der Sorbonne eingeschrieben oder an der École des Mines. Ich muss gestehen, während ich sie aus der Nähe beobachtete, machte ich mir Sorgen um ihre Zukunft.
Zwei Männer betraten kurz hintereinander das Lokal. Adamov und dieser Brünette mit dem geschmeidigen Gang, der ein paar Bücher veröffentlicht hat unter dem Namen Maurice Raphaël. Ich kannte Adamov vom Sehen. Früher einmal war er fast jeden Tag im Old Navy, und seinen Blick vergaß man nicht so leicht. Ich glaube, ich hatte ihm geholfen, seine Papiere in Ordnung zu bringen, damals, als ich noch Leute kannte beim Geheimdienst. Und Maurice Raphaël, der war ebenfalls Stammgast in den Bars jenes Viertels. Es hieß, er hätte Probleme gehabt nach dem Krieg, unter einem anderen Namen. Damals arbeitete ich für Blémant. Sie gingen alle beide an den Tresen. Maurice Raphaël blieb stehen, sehr gerade, und Adamov kletterte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Hocker. Er hatte meine Anwesenheit nicht bemerkt. Außerdem, würde mein Gesicht ihm noch irgendetwas sagen? Drei junge Leute, darunter ein blondes Mädchen, das einen abgeschabten Regenmantel trug und Stirnfransen, kamen zu ihnen an den Tresen. Maurice Raphaël hielt ihnen ein Päckchen Zigaretten hin und betrachtete sie mit amüsiertem Lächeln. Adamov hingegen zeigte sich weniger umgänglich. Aus seinem durchdringenden Blick hätte man schließen können, dass sie ihm irgendwie angst machten.
Ich hatte zwei Automatenbilder von dieser Jacqueline Delanque in der Tasche … Damals, als ich noch für Blémant arbeitete, hat es ihn immer erstaunt, mit welcher Leichtigkeit ich ganz gleich wen identifizierte. Es reichte, dass mir ein Gesicht ein einziges Mal begegnet war, und schon blieb es eingeprägt in mein Gedächtnis, und Blémant foppte mich mit dieser Begabung, einen Menschen sofort von weitem wiederzuerkennen, selbst im Halbprofil oder von hinten. Ich war also kein bisschen beunruhigt. Sobald sie das Condé betreten würde, wüsste ich, das ist sie.
Doktor Vala hat sich zum Tresen umgewandt, und unsere Blicke kreuzten einander. Er hat mir freundlich zugewinkt. Plötzlich bekam ich Lust, an seinen Tisch zu gehen und zu sagen, ich hätte ihm eine vertrauliche Frage zu stellen. Ich hätte ihn beiseite gezogen und ihm die Automatenbilder gezeigt: »Kennen Sie die?« Wirklich, es hätte mir sehr genützt, von einem der Gäste des Condé etwas mehr über dieses Mädchen zu erfahren.
Als ich die Adresse ihres Hotels herausbekommen hatte, war ich sofort hingegangen. Ich hatte mich für die flaue Nachmittagszeit entschieden. Mit ziemlicher Sicherheit war sie da nicht im Haus. Zumindest hoffte ich es. Auf diese Weise könnte ich an der Rezeption ein paar Fragen über sie stellen. Es war ein sonniger Herbsttag, und ich hatte beschlossen, mich zu Fuß auf den Weg zu machen. Ich war an den Quais losmarschiert und wollte langsam ins Landesinnere vordringen. Auf der Rue du Cherche-Midi blendete mich die Sonne. Ich ging in den Chien qui fume und bestellte mir einen Cognac. Ich war unruhig. Hinter der Glasfront sitzend, beobachtete ich die Avenue du Maine. Ich musste nur auf die linke Straßenseite wechseln, und schon wäre ich am Ziel. Kein Anlass zur Unruhe. Je länger ich der Avenue folgte, desto gelassener wurde ich. Ich war mir fast sicher, dass sie nicht im Haus sein würde, und außerdem wollte ich diesmal noch nicht ins Hotel gehen und Fragen stellen. Ich würde mich draußen herumtreiben, wie bei verdeckten Ermittlungen. Ich hatte alle Zeit der Welt. Ich wurde ja dafür bezahlt.
Als ich in die Rue Cels kam, beschloss ich, mir Gewissheit zu verschaffen. Eine ruhige, graue Straße, die mich nicht an ein Dorf erinnerte oder eine Banlieue, sondern an jene geheimnisvollen Zonen, die man »Hinterland« nennt. Ich bin schnurstracks auf die Hotelrezeption zugesteuert. Niemand. Ich habe etwa zehn Minuten gewartet in der Hoffnung, sie werde nicht plötzlich erscheinen. Eine Tür ging auf, eine Frau mit kurzem brünetten Haar, ganz in Schwarz, trat hinter das Rezeptionspult. Ich sagte mit liebenswürdiger Stimme:
»Ich komme wegen Jacqueline Delanque.«
Ich dachte, sie habe sich bestimmt unter ihrem Mädchennamen hier eingetragen.
Sie lächelte und nahm einen Umschlag aus einem der Postfächer hinter ihr.
»Sind Sie Monsieur Roland?«
Wer war dieser Mensch? Auf gut Glück nickte ich kurz. Sie reichte mir den Umschlag, auf dem in blauer Tinte geschrieben stand: Für Roland. Der Umschlag war nicht zugeklebt. Auf einem großen Blatt Papier las ich:
Roland, bitte komm ab 5 ins Condé. Oder ruf an unter AUTEUIL 15–28 und hinterlass mir eine Nachricht.
Unterschrieben war mit Louki. Die Koseform von Jacqueline?
Ich faltete das Blatt wieder zusammen, steckte es in den Umschlag und reichte ihn der Brünetten.
»Entschuldigen Sie … Da muss eine Verwechslung vorliegen … Das ist nicht für mich.«
Sie hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt und den Brief gleichgültig zurück ins Postfach gelegt.
»Wohnt Jacqueline Delanque schon lange hier?«
Sie zögerte kurz, dann antwortete sie in freundlichem Ton:
»Seit ungefähr einem Monat.«
»Allein?«
»Ja.«
Ich spürte, dass sie gleichgültig war und bereit, auf alle Fragen zu antworten. Aus ihrem Blick sprach großer Überdruss.
»Ich danke Ihnen«, sagte ich.
»Gern geschehen.«
Ich wollte nicht länger bleiben....


Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis und dem Romain Rolland-Preis ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.

Modiano, Patrick
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014) und Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015).



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