Müller / Engler | Vorglühen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Müller / Engler Vorglühen

Roman
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8437-2849-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-8437-2849-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Aus der Provinz nach St. Pauli. Ein Roman, so intensiv wie eine durchfeierte Nacht. Albert hatte kaum das geleerte Schnapsglas auf den Tresen gestellt, als Gernot mit schiefer Brille auf ihn zu stob und rief: »Weiter, weiter! Wir müssen weiter!« Gerade aus der oberbergischen Provinz nach Hamburg gezogen, findet sich Albert Bremer mitten im Irrsinn einer Nacht auf St. Pauli wieder. Er trinkt Großmutters Aprikosengeist und Unmengen von Bier, trifft die tollste Frau und die skurrilsten Typen, die er je gesehen hat. Und im Laufe weniger Stunden findet er Freunde, ein WG-Zimmer und eine Band. Vorglühen erzählt von?Hamburg 1994 und von der Musik, die nach diesem Sommer ganz Deutschland begeistern wird. Vom Aufbruch aus der Provinz?in die Großstadt, von alkoholgeschwängerten Nächten und Tagen, von Rausch und Begeisterung, von?Freundschaft, Liebe, Verrat und Enttäuschung. Vom elektrisierenden Gefühl, an dem Ort zu sein, an dem gerade etwas?ganz Großes entsteht.
Müller / Engler Vorglühen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1


Vor dem Werk B standen schon reichlich Leute, und es regnete einen typischen Hamburger Kackregen. Ebenjenen Regen, der sich anschleicht und über Tage bleibt, kein Platzregen mit absehbarem Ende und auch kein Nieseln, das einfach zu verdrängen wäre, sondern der nervende Hamburger Dauerregen. Alles in ihm wurde grau, angedüstert. Es schien Albert Bremer absurd, einfach in die S-Bahn zu steigen, um zu einem Konzert zu fahren. In seiner Heimat Wehl, in der kulturellen Wüste des Oberbergischen Lands, waren Konzertbesuche unvermeidlich mit endlosen Autofahrten verbunden gewesen. Diesen Reisen waren lange und komplizierte Losverfahren vorausgegangen, wer das Fahrzeug lenken und demzufolge nüchtern bleiben musste. Eine undankbare Aufgabe, doch eigentlich hatte er die Konzerte nur dann wirklich miterlebt, wenn das Los auf ihn gefallen war.

Er war das erste Mal allein auf einem Konzert. Damals waren sie immer mindestens zu viert gewesen, weil sonst das Spritgeld für jeden Einzelnen zu hoch gewesen wäre, und wenn sich nur drei Leute interessiert gezeigt hatten, waren sie halt kurzerhand in Wehl geblieben und zu irgendeinem Besäufnis in irgendeinem Partykeller gegangen oder in irgendeinem Garten, immerhin hatte man da immer gewusst, was einen erwartete. Ob Skrei und er irgendwen hätten überzeugen können, zu einem Konzert der mitzukommen? Skrei hatte eigentlich als Einziger einen belastbaren Musikgeschmack gehabt, deswegen war er auch Alberts bester Freund. Albert musste kurz schlucken, als er an Skrei dachte, doch nur kurz, denn er war ausgesprochen aufgeregt. Die Typen um ihn herum waren eindeutig älter als er, kippten Dosenbier in sich hinein, trugen Shirts von ziemlich coolen oder ihm völlig unbekannten Bands und schienen sich genauso auf das Konzert zu freuen wie er selbst. Vereinzelt kam es zu Tumulten, erwachsene Männer tanzten Ringelreihen, warfen mit leeren Dosen oder brüllten einfach nur herum. Ein Typ, dessen Hemd die mit Fingerfarbe aufgetragenen Wörter »NON FUCKERS CLUB« zierte, segelte an Albert vorbei und warf ihn fast zu Boden.

»Pardon, pardon!«, rief er grinsend, und Albert grinste zurück. Kein Problem, alles richtig gemacht, dachte er.

»Zwanzig Mark«, sagte der Typ an der Kasse. Nicht unbedingt günstig, dachte Albert. Egal, das waren Legenden, Geiz galt jetzt nicht, und außerdem war das Hamburg und nicht die NoiseBox in Attendorn.

Mit der Karte in der Hand stand er kurz unschlüssig vor dem Eingang, als ihm jemand auf die Schulter tippte: »Albert! Na, guten Abend!«

Albert drehte sich um und blickte in ein freundliches Gesicht unter wirren Haaren, ein angedeutetes Schielen.

»Claus mit C!«

Sie waren sich vor einigen Tagen in der S-Bahn begegnet. Im letzten Moment war Claus durch die sich schließende Tür gehüpft, und Albert hatte zuerst gedacht: Was für ein Idiot. Dann, im nächsten Moment: Hochinteressanter Stil. Claus hatte eine rosa Skijacke getragen, Gummistiefel zu einer Jeans, die ähnlich zerfetzt war wie Alberts, und auf der Skijacke hatte der gleiche Button geprangt, den auch Albert an seiner Jacke trug, vier Buchstaben, weiß auf schwarzem Grund: »WÜRM«. Erkennungszeichen der Liebhaber der obskuren Ami-Band. Sie hatten Blicke gewechselt, und Claus hatte »Würm!« gesagt. Sehr richtig, hatte Albert gedacht, Würm.

»Claus Würm. Claus mit C.«

»Albert Würm. Albert mit A.«

Und schon war das Gespräch beendet: »Die Fahrkarten bitte!«

»Scheiße«, hatte Claus gezischt und sich clownesk verrenkt, um sich irgendwie in der Sitzgruppe zu verstecken. Das klappt nie, hatte Albert gedacht, doch zwei der Kontrolleure waren genau in diesem Moment von einem besoffenen Penner drei Sitzgruppen entfernt aufgehalten worden. Der Typ hatte bis zu Albert gestunken.

»Ihr seid doch Betrüger!«, hatte der Penner gebrüllt, die Kontrolleure waren ruhig geblieben.

»Ich bin ein Ehrenmann, ihr Kommunisten. Stasi raus!« Dann war ihm seine Rotweinflasche auf den Boden gefallen und durch den Mittelgang fast bis zu Alberts Füßen gerollt. Als die Bahn die nächste Station erreicht hatte, war ihnen einer der Kontrolleure bedrohlich nahe gekommen, doch als sich die Türen geöffnet hatten, war Claus wie angestochen aufgesprungen und entwischt.

»Wir sehn uns!«, hatte er gebrüllt, und Albert hatte gedacht: Schade.

Wie erfreulich, dachte Albert jetzt, nahezu oberbergisch, da begegnete man ja auch immer denselben Gestalten, sobald sich etwas abseits der Schützenfeste tat. Auf den Schützenfesten selbst allerdings ebenfalls.

»Auch zum Heroin-Rock hier?«

»Ja, ich wollte jetzt rein. Geht ja gleich los.«

Claus winkte ab. »Nee, die Vorband musst du verpassen. , Hamburger Band, Muckerproleten. Ich glaub, die kennen den Besitzer. Schleimen sich überall ein.«

Claus hakte Albert unter und schleifte ihn regelrecht um die Ecke. »Komm mal mit! Wir hängen da drüben ab! Vorglühen.«

Zwei Typen saßen auf einem Metallgitter, das durch ein kleines Vordach vor dem Regen geschützt war.

»Albert, das sind Susesch und Gernot. Susesch, Gernot, das ist Albert, wir kennen uns von der Fahrkartenkontrolle am Dammtor.«

Immerhin, hier wird man vorgestellt, dachte Albert.

Susesch war sehr gut gebaut. Mit seinem gepflegten Schnurrbart, dem glänzend frisierten Haar und der edlen Lederjacke sah er aus wie aus dem Ei gepellt. Typen wie ihn hätte Albert nicht auf einem Konzert dieser Art vermutet. Gernot hingegen pflegte einen ähnlichen Stil wie Claus, nur ein wenig schmuddeliger. Seine Brille war der Inbegriff eines Kassengestells. Aus einer Plastiktüte holte er vier Dosen Holsten und drückte auch Albert eine in die Hand. »Prost und hi!«

Susesch reichte Albert die Hand. »Freut mich sehr! Der Typ mit dem -Button!«

Claus sagte: »Kannst du uns eben einen Gefallen tun? Du gehst kurz rein und lässt dir ’nen Stempel geben. Danach gehst du wieder raus. Aber bitte unbedingt bei der anderen Seite, da ist noch ein Ausgang, dann kommst du wieder hierher, okay? Ich halte dein Bier so lange.«

»Kein Ding«, sagte Albert, »aber warum?«

»Siehst du dann. Bis gleich!«

Albert zeigte dem Türsteher seine Karte und ließ sich einen Stempel auf den Handrücken geben. Er sah sich kurz in der Halle um. Die Vorband war tatsächlich schauderhaft, Claus hatte nicht zu viel versprochen. Der Laden war gut gefüllt, das Publikum war gut gelaunt und gut gekleidet.

Albert verließ das Werk B über den Nebenausgang und begab sich wieder zu Claus, Susesch und Gernot.

»Ah, der Stempelbote!« Gernot griff nach Alberts Hand, drückte einen Aufkleber auf den Stempelabdruck und zog ihn gleich wieder ab.

»Welche Farbe?«, fragte Claus.

»Blau«, sagte Gernot.

Claus zückte einen blauen Filzer. Gernot malte das Stempelmotiv auf dem Aufkleber nach und drückte ihn dann auf seine Hand. Claus tat es ihm gleich. Beide hatten nun perfekte Stempelkopien auf ihren Handrücken. Claus hielt Susesch Aufkleber und Stift hin.

»Nee, lass mal«, sagte der, »ich kauf mir ’ne Karte!«

»Oho, der feine Herr!«, rief Gernot.

»Ist doch gut«, sagte Claus, »dann fällt es weniger auf. Ach so, hier dein Bier, Albert, vielen Dank!«

»Interessante Strategie«, sagte Albert und deutete auf den Aufkleber, den Claus noch in den Händen hielt.

»Wir haben immer direkt gearbeitet. Stempel mit Tintenkiller nachgemalt.«

Gernot klopfte auf der Bierdose herum. »Ja, Mann – zwanzig Mark, Abzocke. Die zwingen einen doch zum Stempelabdrücken.« Er steckte sich eine Zigarette an. »Willst du auch eine?«

»Nee, ich rauche nicht, danke.«

»Noch so einer!« Er gab Susesch ungefragt eine Zigarette.

»Das ist übrigens meine Band«, sagte Claus. »Susesch Bass, Gernot Schlagzeug und meine Wenigkeit an Gitarre und Gesang.«

»Ja, ja, Gesang«, sagte Gernot, »von wegen!«

»Wie heißt ihr denn?«, fragte Albert.

»«, antwortete Gernot.

Susesch sah ihn an. »Tatsächlich? Ich dachte, wir heißen «

»Das ist ein Irrtum«, sagte wiederum Gernot und zerknüllte seine leere Bierdose.

Claus winkte ab. »Egal, eigentlich heißen wir , aber das ist noch nicht so ganz klar. Erzähl du doch mal lieber, du bist neu in Hamburg, oder?«

»Ja, kann man so sagen«, entgegnete Albert. Er war direkt nach dem Abitur und Ersatzdienst zum Studieren nach Hamburg gekommen. Jedenfalls versuchte er immer noch, sich das einzureden. Dabei war das Germanistik-Studium nur ein Vorwand gewesen, rauszukommen. Denn Wehl bot zwei Optionen: versauern oder abhauen. Eine Kleinststadt, die nichts bot, was junge Menschen interessierte, abgesehen vom Saufen. Eigentlich hatte sich alles glücklich gefügt. Es war zum Beispiel sehr richtig gewesen, nicht nach Köln zu ziehen, was nahegelegen hätte. Geografisch und überhaupt. Aber Köln war bereits von Alberts Ex-Freundin Nele okkupiert. Dass sie...


Engler, Rasmus
Rasmus Engler, geboren 1979 in Köln, ist Schlagzeuger und Gitarrist in diversen Bands (u.a. Herrenmagazin, Ludger). Er war Herausgeber des Fanzines „Die tobende Mumie“, schreibt für verschiedene Zeitschriften und arbeitet im „Uebel & Gefährlich“. Er lebt bis heute in Hamburg.

Müller, Jan
Jan Müller, geboren 1971 in Hamburg, ist seit der Gründung 1993 Bassist der Rockband Tocotronic. Müller lebt seit 2010 in Berlin und betreibt den populären Interview-Podcast „Reflektor“.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.