E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Müller Milk Run
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7693-4606-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7693-4606-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Mai 1944 hat der Krieg längst den Sprung vom südlichen auf das nördliche Ufer des Mittelmeers gemacht. Carolyn Chandler, die seit einem halben Jahr als Korrespondentin für Zeitschriften des American Red Cross kreuz und quer Nordafrika bereist hat, folgt ihm. Sie freut sich auf Europa, auch von hier aus wird sie ihre Leserinnen und Leser in Artikeln über US-Hospitäler und die tagtägliche Arbeit in Einrichtungen der US-Truppenbetreuung informieren. Doch mehr noch als in "normalen" Zeiten tragen in Zeiten des Krieges menschliche Pläne die Gefahr des Scheiterns in sich. Als die Militärmaschine, auf der Carolyn in Tunesien einen Platz ergattern konnte, auf einem Feldflugplatz auf Sardinien einen Zwischenstopp einlegt, überkommt sie, gesundheitlich angeschlagen wie sie ist, die Ahnung unvorhergesehener Ereignisse.
Helmut Müller hat lange Jahre als Lehrer gearbeitet, doch einen großen Teil seiner Zeit hat er seit Jahrzehnten real oder in Gedanken auf Korsika verbracht. Er versucht beim Schreiben dem schmalen Pfad einer durch Fakten und Detailgenauigkeit im Zaum gehaltenen Fantasie zu folgen.
Autoren/Hrsg.
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BIZERTA
Am Spätnachmittag des 8. Mai 1944, einem Montag, traf Carolyn Chandler in Bizerta ein. Sie war fast ein Jahr lang als Korrespondentin des Amerikanischen Roten Kreuzes von Marokko bis Ägypten in Nordafrika unterwegs gewesen und hatte Berichte und Stimmungsbilder in die Staaten geschickt, mit denen sie ihren Landsleuten zu Hause Eindrücke von den Schwierigkeiten und Erfolgen der amerikanischen Truppen beim Kampf um die Befreiung Nordafrikas von den Deutschen vermittelte, von Kriegsschauplätzen auf einem Kontinent, der vielen daheim so fremd war, wie die Oberfläche eines unbekannten Planeten. Natürlich nahmen in ihrer Berichterstattung Schilderungen der vielfältigen Aktivitäten des ARC, des American Red Cross, bei der Betreuung der Truppen einen besonders breiten Raum ein. Und nun, wo der der Schwerpunkt des Krieges sich nach Norden, nach Europa, verlagerte, folgte sie ihm und befand sich auf dem Weg nach Neapel. Die USS Lincoln, das Lazarettschiff, mit dem sie in Algier ihre Fahrt begonnen hatte, war in Bône und später noch an den Docks von Tabarka vor Anker gegangen. Dort hatte man Patienten und vor allem medizinisches Material an Bord genommen. Die Verlegung der Feldhospitäler von Nordafrika nach Italien war damit im Großen und Ganzen abgeschlossen. Sie wurden nun dringend in größerer Nähe zu den Kämpfen in Europa gebraucht. In Bizerta würde die Lincoln allerdings auch noch Patienten aufnehmen, die drüben in Italien weiterhin stationär untergebracht werden mussten. Man hatte mit ihrer Verlegung warten müssen, bis dort die entsprechenden Kapazitäten bereit standen. Da das Eintreffen dieser letzten Verwundeten aus dem Hinterland sich hinziehen konnte, war der Zeitpunkt des Auslaufens des Lazarettschiffs Lincoln aus dem Hafen von Bizerta ungewiss. Also hatte Carolyn beschlossen, hier von Bord zu gehen und ihre Reise nach Neapel per Flugzeug fortzusetzen. Der Flugplatz Sidi Ahmed lag ja nur ein paar Meilen südlich von Bizerta, und sie war zuversichtlich, dass sich ohne Schwierigkeiten ein Platz in einer Militärmaschine finden lassen würde, die sie nach Neapel oder wenigstens erst einmal bis nach Korsika mitnehmen könnte. Und außerdem wollte sie sich in Bizerta noch mit Helen Schaefer, einer Freundin, treffen, bevor auch das 41. Feldlazarett, in dem Helen als Krankenschwester arbeitete, nach Italien verlegt wurde. Auf diese flexible Art der Reiseplanung mit all ihren unvorhergesehenen Änderungen und Überraschungen hatte sie sich als Korrespondentin eingestellt, und auch dass der Zufall dabei immer wieder eine große Rolle spielte, beunruhigte sie nicht weiter. Im Gegenteil: Mit der Zeit waren solche Unvorhersehbarkeiten für sie zur Normalität geworden, aus denen sie das Beste zu machen versuchte. Zu manchen ihrer gelungensten Reportagen hatten gerade solche spontanen Änderungen ihrer Reisepläne den Anstoß gegeben. Während die Lincoln in Sichtweite zur nordafrikanischen Küste Kurs auf Bizerta hielt, schien den ganzen Tag über die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, und so war es trotz der stetig landeinwärts wehenden Brise für diese Jahreszeit auf See schon angenehm warm gewesen. Deshalb, und auch um der Enge und der drückenden Luft in den niedrigen Räumen unter Deck zu entgehen, wo sich die üblichen Lazarettgerüche mit den Dünsten aus der Schiffskombüse mischten, hatte Carolyn von irgendwoher einen der raren Liegestühle ergattert und sich an einem windgeschützten Platz an Deck so komfortabel wie möglich eingerichtet: im Rücken die schützenden Deckaufbauten, vor sich die Reling und dahinter die offene See. Ihren Hausrat – so nannte sie ihre wenigen Gepäckstücke –, hatte sie um sich herum verteilt. Das waren: ein großer Segeltuchkoffer, ein kleinerer Handkoffer aus Leder und ein kleiner olivgrüner Kleiderbeutel, ihre Musette-Bag. Nur für den schwarzen, flachen Kasten, in dem sich ihre sorgsam gehütete Underwood befand, hatte sie zwischen der Rückenlehne ihrer Liege und der Schiffswand einen besonders geschützten Platz ausgewählt. Die zierliche Schreibmaschine war ein Geschenk ihres Vaters und abgesehen von einem klaren Kopf war sie ihr wichtigstes Arbeitsinstrument. Die hütete sie wie ihren Augapfel. Sie hatte den Rückstand in ihrem Notizbuch, das gleichzeitig ihr Tagebuch war, aufgearbeitet und genoss nun den wunderschönen Tag von ihrem Platz aus wie einen Ferientag. Zwischendurch beobachtete sie die beruhigend monoton vorüberziehende Küstenlinie, bis ihr die Augen zufielen. Als sich später trotz des leichten Seegangs ein wenig Hunger bei ihr einstellte, machte sie sich seufzend auf die Suche nach etwas Essbarem. Auch darin hatte sie sich eine gewisse Routine angeeignet, und so gelang es ihr, sich eine, wenn auch karge, Mahlzeit zusammenzustellen. Die bestand aus einem großen Becher Kaffee aus der Schiffsküche und dem, was sie sich aus einer K-Rat zusammenstellte. K-Rat – das war die allgemein verbreitete respektlose Bezeichnung für die „K-Rationen“, die graubraunen Schachteln mit der kargen Einsatzverpflegung der US-Army. Die hatte man ihr freundlich lächelnd mit der Entschuldigung zugeschoben, dass unerwartet viele Patienten an Bord gekommen seien, die es zuerst einmal zu versorgen gelte. Als ihr mit anbrechendem Nachmittag das gleißende Licht der Sonne und die glitzernden Reflexe der Meeresoberfläche unangenehm wurden, half ihr ein freundliches Besatzungsmitglied beim Umzug in den Schatten der Deckaufbauten auf die Backbordseite. In der blendenden Helligkeit hatten sich wieder die ersten Anzeichen des lästigen Kopfwehs bemerkbar gemacht. Diese Anfälligkeit für Kopfschmerzen hatte sie früher nicht gekannt. Doch seit Beginn des Frühjahrs war sie wiederholt von diesen migräneartigen Beschwerden heimgesucht worden. Und jetzt hatte sich mit dem typischen Hitzegefühl auf Wangen und Stirn auch noch ein Sonnenbrand angekündigt. Wenigstens dem hoffte sie durch ihren Platzwechsel noch entgehen zu können. Aber schon lange bevor das Schiff sich dem Hafen von Bizerta näherte, war sie dann doch wieder an ihren alten Platz auf der nun gar nicht mehr so sonnigen Steuerbordseite zurückgekehrt. Und da stand sie nun an die Reling gelehnt und hielt Ausschau nach den Hafenanlagen von Bizerta. Sie hatte ihren blaugrauen ARC-Uniformmantel über die Schulten geworfen und ihre Unterarme ruhten bequem auf dem gerundeten Handlauf der Reling. Da die Luft sich schon merklich abgekühlt hatte, war es wieder angenehm, durch die Kleidung hindurch die wärmenden Strahlen der Sonne auf der Haut zu spüren. Die hatte Anfang Mai schon merklich an Kraft gewonnen, aber dennoch konnte es jetzt am Spätnachmittag auch hier in Nordafrika noch frisch werden, zumal der Wind, der inzwischen gedreht hatte und nun ablandig seewärts wehte, zum Abend hin böig auffrischte. Mit der mörderischen Sommerhitze und den Staubstürmen, die sie vom vergangenen Jahr her noch in Erinnerung hatte, ebenso mit den Wolken bläulich glitzernder Fliegen und dem Gestank der Abwässer in den Gräben und austrocknenden Pfützen war glücklicherweise erst wieder mit Beginn des Sommers, also ab dem Ende des Monats zu rechnen. Wenigstens diese Unannehmlichkeiten würden ihr erspart bleiben, denn nach Nordafrika, da war sie sich sicher, würde sie nicht mehr zurückkehren. Doch beklagt hatte sie sich wegen des ungewohnten Klimas und den damit verbundenen Beschwernisse oder wegen größerer und kleinerer Entbehrungen selbstverständlich nie. Das hätte gegen ihre Grundsätze verstoßen. Schließlich hatte sie sich dem ARC aus freiem Willen als Korrespondentin zur Verfügung gestellt und war ein halbes Jahr nach der Operation Torch, der Landung der Truppen ihres Landes bei Casablanca im November des vergangenen Jahres, in Marokko eingetroffen. Seit dieser Zeit hatte sie die amerikanischen Einheiten begleitet. Auch wenn es ihr nicht in den Sinn gekommen wäre, über das, was sie tat, viele Worte zu verlieren, hielt sie ihre Korrespondententätigkeit für das Amerikanische Rote Kreuz dennoch für ihre patriotische Pflicht. Dazu kam, dass sie ja beileibe nicht die einzige Frau war, die einen solchen Entschluss gefasst hatte. Im Gegenteil. Immer wieder staunte sie, beinahe täglich an den unwahrscheinlichsten Orten und in allen möglichen Situationen auf Frauen zu stoßen, die sich wie selbstverständlich verpflichtet hatten, ihr Land im Kampf gegen die Nazis zu unterstützen. Sie organisierten, sie heilten, transportierten und sie alle waren davon überzeugt, einen ihren Beitrag dazu leisten zu können, der Barbarei, die vom Deutschen Reich ausgegangen war und sich bis über die Grenzen Europas hinaus bedrohlich auszubreiten begann, ein Ende zu bereiten. Diese Überzeugung teilte Carolyn, und die klang auch unüberhörbar immer wieder aus den Berichten heraus, die sie für die vielen Leser und Leserinnen der Rot-Kreuz-Zeitschriften in den Staaten verfasste. Und dennoch erinnerte sie sich nur mit Unbehagen an den vergangenen Sommer und den darauffolgenden Herbst und Winter. Begonnen hatte es gleich bei ihrer Ankunft im Frühjahr 1943 mit der Malaria. Wie alle anderen Amerikaner um sie herum hatte auch sie ihre tägliche Dosis Atebrin gegen diese unheimliche Krankheit einnehmen...