E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Müller-Wieland Flugschnee
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7013-6248-6
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-7013-6248-6
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
“Was macht das Glück einer Familie aus? Wenn es – neben vielen Komponenten wie der Abwesenheit von Krankheiten, sicherem Einkommen und dergleichen – gemeinsame Erinnerungen sind, die Zusammenhalt ermöglichen, miteinander gelebte Vergangenheit“, so denkt Lucy an einem Dezembertag in Berlin an eine unglückliche Familie.
Ihr Bruder Simon ist verschwunden. Das Nachdenken über ihn führt sie zu einem früheren Wintertag ins Haus der Großeltern in Hamburg, an dessen Ende etwas geschah, das den Kindern verschwiegen wurde. Dieses Schweigen bestimmt nicht nur die weitere Zukunft, sondern reicht auch in die Generation der Großeltern und Urgroßeltern zurück, welche sich in vielfältig Ungesagtes verstrickten, politisches, persönliches. Helene, die Großmutter, kämpft gegen Ende ihres Lebens allerdings umso vehementer um ihre Erinnerungen: jede, auch die schlechteste, ist ihr willkommen, um dem „Schmelzen im Kopf“ zu widerstehen.
Schnee und Stein sind in diesem Roman die Materialien, an denen die Figuren scheitern oder wachsen, an denen sie dem Bedrohlichen eine Form abzuringen, dem Zerstörerischen ein “Dennoch” entgegenzusetzen versuchen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Berlin, Dezember Lucy 1 Nach Hause möchte ich. Dieser Satz war in mir, Simon, heute Morgen, als ich aufwachte und nicht mehr wußte, was geschehen war. Nichts wußte ich mehr, nichts von dir oder mir oder irgendjemandem sonst. Nur dieses diffuse Gleiten gab es, wenn man sich in den Tag hineinarbeitet, aus Träumen heraus oder Drogen. Und etwas mitnimmt: ein Bild, eine Stimme, einen Satz. Überall war es weiß, als ich aufblickte, makellos weiß, eine Art grundloses Existieren – es zog einen Schmerz nach sich. Der Schmerz war wie etwas, das ich einmal gekannt, aber irgendwann vergessen hatte. Weißweißweiß. War es Licht? War es Farbe? Der Satz blieb. Er glühte weiter in dieser blendenden Gleichgültigkeit, die alles erfüllte – außen wie innen. Aber nach einer Weile, die eine Sekunde gewesen sein könnte oder eine Stunde, dachte ich: nein. Nicht weiß. Nicht weiß ist das, sondern grau, gräulich. Eine glatte Fläche. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr veränderte sie ihre Struktur, wurde porös, löste sich schließlich auf in Helles und Schattiges. Und später oder gleich taten sich diese feinen Linien auf, ein Netz von Linien, und in den Ecken weiteten sie sich aus, zu Rissen. Und während ich all das sah, war klar: Ich bin das, Lucy. Nach Hause möchte ich. Dann begriff ich: Das ist die Decke meines Zimmers. Ich liege im Bett. Das Zimmer muß ausgemalt werden, dringend. Stop. Falsch. Es dauerte, bis ich fähig war zu erkennen, was falsch war. Worum es ging. Darum ging es: Um meinen Körper. Mein Körper war nicht mehr da. Keine Schwere von Armen und Beinen, kein Kopf im Kissen, keine Zunge, keine Zähne im Mund. Das war das Seltsamste: dieses Nichts. Nur mehr aus zwei Augen bestand ich, die nach oben starrten und die Decke des Zimmers betrachteten, mit dem abgebrochenen Stuckkranz aus Lorbeerblättern in der Mitte. Von einem Lorbeerblatt hing ein Faden, ungefähr drei Meter über mir. Ein grauer, von fahlem Licht erhellter, zarter Strick. Das war wohl der Zeitpunkt, an dem ich zu schreien begonnen habe, denn plötzlich spürte ich meinen aufgerissenen Mund, ich spürte ihn! – und das Verebben von Schall im Raum, und über mir schwebte, als ich wieder nach oben schaute, der Spinnwebfaden langsam hin und her. Und gleich darauf war ein Gesicht neben meinem und eine Hand auf meiner Wange. Die Hand war trocken und warm. Sie konnte sprechen. „Beruhige dich“, sagte die Hand, „ich bin da. Du hast wieder geträumt. Ruhig, ganz ruhig.“ Und allmählich wußte ich, daß die Hand zu Lisa gehörte, die im Nachthemd vor meinem Bett kniete. Als sie unter die Decke kroch und sich mit ihrem fülligen Körper an mich drängte, erinnerten sich meine Fersen an ihre kalten Zehen und mein Rücken an die Art, wie sie ihre Brüste von ihm fernhielt. Und mein Hintern, der ihre Oberschenkel berührte, wußte, wie oft er schon genau da gelegen war, fast in ihrem Schoß. In dem Weinen, das mich nun zu schütteln begann, tauchten alle Nächte und Morgengrauen auf, in denen Lisa zu mir gekommen war und mich aus Träumen gerettet hatte, die über meinen Verstand gingen. Und während meine Schulterblätter ihre Flüsterworte spürten und das Kissen rund um meine Nase nass wurde, beschloss irgendeine Kraft in mir, aufzustehen und etwas zu ändern. 2 Du bist verschwunden, Simon. Das ist die Wahrheit, der ich mich stellen muß. Ich kann mich nicht mehr im Nebel verstecken und Lisa die Nächte und die Morgen rauben und die Tage verbringen, irgendwie. Jetzt ist es genug. Alles ist getan, was man tun muß, wenn ein Mensch verschwindet. Alle Welt sucht nach dir, Simon. Es ist Anfang Dezember, und Lisa sagt, seit deinem Verschwinden sei es immer wärmer geworden. Im Oktober noch lagen die Leute an der Spree in T-Shirts herum. Sommerwinde fegten durch die Straßen, und alles schwitzte in den Mänteln und Jacken. Papier, Mützen, Staub, Plastiktüten, selbst Glasscherben – der ganze Müll flog auf. Nur der Hundedreck blieb natürlich kleben. Ich sehe dich vor mir, grinsend: „Hauptstadt der Hundekacke.“ Das schien wochenlang so zu gehen. Erst jetzt, seit einigen Tagen, ist das Wetter so, wie es sein soll. Ich stehe am Fenster und sehe hinaus. Es wird Winter. Weihnachten wird kommen. Das Wort ist wie ein schriller Ton. Er schmerzt in den Ohren. Mein Herz schlägt so, daß ich die Hand darauf lege. Ich summe und singe idiotischerweise: Happybirthdaytoyou. Als Kind hat das geholfen, manchmal. Ansingen und Summen gegen etwas, das irgendwie falsch ist. Happybirthdayhappybirthdayhappybirthdaytoooyouuuuu. Als Kinder haben wir es nicht gemerkt, daß es in unserer Familie anders war. Es gab ja das ganze Trara mit Lichterketten und Adventskranz und Baum und Geschenken, all die Nervereien, dieses – „Du wolltest doch noch …“ und – „Wo sind denn wieder diese …?“, und es gab die stillen Momente, den Lebkuchenduft und die Schränke voller Geheimnisse. Aber später haben wir es wohl gespürt, vielleicht ab zehn, elf. Es war etwas zwischen den Erwachsenen, etwas Ungreifbares. Vielleicht hatte es mit ihren Blicken zu tun, die im Kerzenlicht nach innen zu kippen schienen, vielleicht mit ihren langsamen Bewegungen, mit denen sie Kekse anrichteten oder den Schnee von den Schuhen klopften. Alles schien ihnen schwer zu sein, und alles war darauf ausgerichtet, es uns nicht merken zu lassen. Aber das weiß ich jetzt erst. Weih-nach-ten. Ich sage das Wort so lange vor mich hin, bis es ganz leise, ganz weit weg ist von mir. 3 Nach dem Frühstück, nachdem sie gegangen waren, Lisa und Samir, etwas zögerlich, ich ihnen aber versprochen hatte, mich zu melden, sollte ich mich nicht gut fühlen, ging ich in mein Zimmer. Ich öffnete den Schrank und holte die Schachtel hervor, die ganz hinten verstaut liegt, die mit den Photos. Ich habe nur wenige aus der Zeit, als man Bilder noch entwickeln ließ, die meisten sind bei unserer Mutter. Ich fand keines von jenen Weihnachten vor zwanzig Jahren in Hamburg, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte, und das du, Simon, bei unserem letzten Treffen erwähnt hattest. Ich sah die Bilder an, sah uns als Babys, Kleinkinder, Schulkinder, als Jugendliche mit viel zu langen Armen und Beinen auf der Straße stehen oder vor dem Haus im Brunskrogweg, in unserem geliebten Ohlstedt, das hoch im Norden der Stadt lag und so viel grüner war als unser Kiez in Berlin. Ich mußte lachen. Erinnerst du dich noch an das Bild unseres Vaters neben dem Rasenmäher? Ergebenes Grinsen in die Kamera, Großvater darübergebeugt, wie er seinem Sohn Arnold den Mechanismus erklärt, zum hundertsten Mal. Oder Vera im Gespräch mit Großmama, Wange an Wange, fast. Ein Augenblick der Nähe zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter. Ich sah uns als Gruppe im Garten, auf der Terrasse, im Wohnzimmer, in allen denkbaren Posen und zu den üblichen Anlässen. Und immer fehlt eine Person. Das ist normal, denn irgendjemand mußte ja photographieren. Offensichtlich machte unsere Mutter die meisten Bilder, denn sie ist selten zu finden. Sosehr ich auch suchte, es war kein Photo mit uns allen gemacht worden. Auch unsere wenigen Versuche, mit den damals üblichen Selbstauslösern zu arbeiten, führten dazu, daß mindestens einer oder eine abgeschnitten wurde. Manchmal fehlst du, weil du zu zappelig warst, oder man sieht nur dein halbes Gesicht, einen Arm, ein Bein. Ich starrte auf die am Boden verstreuten Photos. Konnte mich nicht bewegen. War von nichts anderem ausgefüllt als diesem betonschweren Wunsch: Daß wir alle zu sehen sind. Ganz. Vera, Arnold, Großmama, Großvater, ich. Und du, Simon. 4 Das Haus im Brunskrogweg war damals schon alt. Ein Backsteinhaus, erbaut in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in einem Garten gelegen, der uns riesig erschien mit Ulmen, Pappeln, Tannen und einer Linde vor der Terrasse, deren klebrige Blätter wir morgens vor dem Frühstück von den Gartenmöbeln kratzen mußten, weil wir alle wieder vergessen hatten, sie unters Dach zu stellen. Ich sehe uns beide, Simon, wie wir den Weg vom Eingangstor durch den Vorgarten laufen, meistens zu schnell für die Kurve, die wir dann für die drei Stufen zur Tür nehmen mußten. Oder wir liefen daran vorbei, zum Holztürchen, das immer quietschte, wenn man es öffnete und mit einem Scheppern ins Schloß zurückfiel. Rechts war der Schuppen, vollgestopft mit Großvaters Arbeitsgerät, vor uns aber öffnete sich das Paradies: der Garten. Es ist Sommer oder Frühling, wenn ich uns laufen sehe. Rechts sind die Rhododendronsträucher, oder im schmalen Grünstreifen davor zarte Tupfer, die Schneeglöckchen. Immer ist es grün, wenn ich an...