Ein Lehrbuch
E-Book, Deutsch, 298 Seiten
ISBN: 978-3-17-035504-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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1 Forschungsmethoden in der empirischen Sportpsychologie
Karen Zentgraf & Axel Kohler
1.1 Forschungsmethoden als Mittel zur Erkenntnisgewinnung
Auf welche Art und Weise und mit welchem Ziel bearbeiten Forscher*innen in der Sportpsychologie wissenschaftliche Fragestellungen? In diesem Kapitel soll es um die methodischen Zugänge gehen, die helfen, diese Forschungsziele zu erreichen. Generell lassen sich in der Psychologie grob vier Zielbereiche definieren. Zunächst kann es um die Deskription eines Phänomens gehen, also die Eingrenzung und Benennung eines Gegenstands, was er ist und was nicht. Wie lässt sich z. B. Versagen unter Druck beschreiben, durch was sind Leistungsabfälle charakterisiert, was sind überhaupt Drucksituationen in sportlichen Leistungssituationen ( Kap. 11)? Ein weiteres Forschungsziel kann die Vorhersage des Eintretens eines Ereignisses oder eines Zustandes sein, d. h., wann wird das Ereignis/der Zustand zu beobachten sein und wann nicht? Welche Eigenschaften von Basketballtalenten sagen den späteren Erfolg vorher? Um gute Vorhersagen erklären zu können, kann es helfen, die spezifischen Faktoren zu kennen, die das Auftreten des Ereignisses oder des Zustands bedingen – hiermit ist vornehmlich das Ziel der Kontrolle der Kontext- oder Bedingungsvariablen gemeint. Tritt Versagen unter Druck z. B. nur in Abhängigkeit eines bestimmten Persönlichkeitsmerkmals oder des Spielstandes ein? Welche anderen Faktoren sind denkbar, die zu Leistungsabfällen führen können? Wie generalisierbar ist die gedankliche Vorwegnahme (Antizipation) von Sportspielexpert*innen ( Kap. 2 und Kap. 6)? Das Forschungsziel der Erklärung von Phänomenen soll Fragen beleuchten, warum ein Ereignis oder ein Zustand eintritt – welches Erklärungsmodell steckt hinter dem Phänomen? Ist eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit Ursache für den Leistungsabfall oder werden antizipierte Misserfolge der Person handlungswirksam? Haben Sportspielexpert*innen aufmerksamkeitsbedingt eine bessere Sensitivitätsschwelle für die Detektion von spielrelevanten Hinweisreizen ( Kap. 3)? Inzwischen gibt es eine Vielzahl an Methoden, die für sportwissenschaftliche Untersuchungen zur Verfügung stehen: von klassischen Verhaltensuntersuchungen bis hin zu hirnphysiologischen Messungen mit großem apparativen Aufwand. Zuweilen kann der Eindruck entstehen, dass manche Methoden um der Methode willen angewandt werden und das Ziel, Antworten auf zentrale Forschungsfragen zu finden, in den Hintergrund rückt. Methoden dienen allerdings allein den Forschungszielen. Für bestimmte Forschungsziele eignen sich bestimmte methodische Zugänge besonders. Beobachtungsstudien, Einzelfallstudien, Berichte und Interviews sind Verfahren, die ohne eine untersucherbezogene Kontrolle des Gegenstandsbereichs arbeiten. Dies gilt auch für korrelative beschreibende Untersuchungen. Hier untersuchen Forschende, wie Variablen »natürlicherweise« zusammenhängen, ohne auf kausale Wirkungszusammenhänge zu referieren. Wenn das Ausmaß körperlicher Aktivität mit einem geringeren Körpergewicht positiv korreliert, heißt dies nicht, dass körperliche Aktivität Körpergewichtsreduktionen verursacht. Aber aufgrund der Kenntnis dieses Zusammenhangs aus beschreibenden Untersuchungen ergeben sich ggf. weitere Fragen, die mit anderen und ergänzenden methodischen Ansätzen beantwortet werden können. Allerdings sind unter bestimmten Bedingungen andere methodische Ansätze auch ethisch nicht vertretbar, korrelative Studien bieten dann die einzige Möglichkeit, sportpsychologische Forschung zu betreiben: Die Untersuchung der Frage, inwiefern schwere Sportverletzungserfahrungen wettkampfbezogene Selbstwirksamkeitserwartungen verändern, wird Sportpsycholog*innen aus plausiblen ethischen Gründen nicht auf die Idee bringen, Verletzungen in einem manipulativen Sinne herzustellen, sondern man wird Forschungsdesigns anwenden, die z. B. verschiedene Gruppen mit und ohne Sportverletzungserfahrungen vorsehen. 1.1.1 Experimentieren in der Sportpsychologie
Wilhelm Windelband formulierte bereits 1894 die – zumindest im deutschen Sprachraum – sehr einflussreiche Unterscheidung von nomothetischen und idiographischen Ansätzen in der Wissenschaft. Der idiographische Ansatz zielt auf die Beschreibung und Analyse einzigartiger Vorgänge und Ereignisse (z. B. historische Prozesse oder individuelle Biografien). Die Forschungsziele nomothetischer Ansätze liegen hingegen im Besonderen in der Erklärung von Phänomenen und der Entwicklung von allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten. Die Idee der Verwendung experimenteller Methoden liegt darin begründet, durch strenge Kontrolle der möglichen beeinflussenden Variablen die wirksamen Faktoren zu isolieren. Dass die Auslegung, wie »streng« diese Bedingungen in der Forschungswirklichkeit zu kontrollieren sind, sehr heterogen ist, muss zur Kenntnis genommen werden. Übergreifend fordern experimentelle Herangehensweisen die Forscher*innen auf, eine Variable systematisch zu verändern (unabhängige Variable, UV, z. B. verschiedene, von der Versuchsleitung vorgegebene sportliche Belastungen), möglichst alle anderen zu kontrollieren, z. B. konstant zu halten, und den Einfluss der Manipulation der UV auf eine weitere, die abhängige Variable (AV, z. B. die Treffergenauigkeit), zu messen. Dadurch scheint es möglich, auf theoretischer Basis begründete Erwartungen (Hypothesen) zu überprüfen, die Forscher*innen als verursachend für den zu beobachtenden Effekt annehmen. Eine UV hat typischerweise Stufen, also verschiedene Ausprägungen, die manipuliert werden. Zwei Stufen sind minimal notwendig, um überhaupt Vergleiche vornehmen zu können (beim Beispiel der sportlichen Belastung könnte es eine hohe und niedrige Beanspruchung geben oder aber sogar feinere Abstufungen). Die Stufen können sich auf eine oder mehrere Versuchsgruppen beziehen: Entweder durchläuft ein*e Versuchsteilnehmer*in beide (oder alle) Stufen der UV (die Belastungsstufen würden bei der gleichen Person an verschiedenen Versuchstagen oder mit ausreichender Pause untersucht) oder eine Person wird zufällig einer Stufe der UV zugeordnet (dann gibt es unterschiedliche Gruppen für die Belastungsstufen). Im ersteren Fall spricht man von sog. »Within-Subject«- oder Intrapersonalen Designs mit Messwiederholung; im zweiten Fall von »Between-Subject-« oder Zwischengruppendesigns. Bei beiden Designs sind bzgl. der Kontrolle von Störvariablen und zur Vermeidung von Konfundierungen weitere Aspekte zu berücksichtigen, z. B. Reihenfolgeeffekte, Stichprobenfehler, nicht-zufällige Zuordnungen etc. Diese Verfahren sollen sicherstellen, dass das Ergebnis von der untersuchten Stichprobe auch überzeugend auf die Gesamtpopulation übertragen werden kann. Aber auch hier können Fehler entstehen, wenn z. B. von der Untersuchung von Studienteilnehmer*innen aus einem Kulturkreis auf Personen aus einem anderen Kulturkreis generalisiert wird. 1.1.2 Experimentelle Validitäten, Forschungsdesigns und Versuchspläne in der Sportpsychologie
In Forschungsfeldern ergeben sich aus der Interaktion zwischen den formalen Ansprüchen an experimentelle Forschung (Kontrolle der Bedingungen, zufällige Zuordnung in Versuchsgruppen etc.) und den Gegebenheiten in der jeweiligen Disziplin (verfügbare Methoden und charakteristische Fragestellungen etc.) typische experimentelle Designs und Versuchspläne, die zur Untersuchung von wissenschaftlichen Fragestellungen Anwendung finden. Dies kann man auch als Forderungen an die interne und externe Validität von Experimenten verstehen. Es geht in beiden Fällen entsprechend der Wortbedeutung um die Gültigkeit von Aussagen oder Schlussfolgerungen, die aus Studien gezogen werden. Die interne Validität bezieht sich auf die Frage, ob ein Versuch so gestaltet war, dass man auf eine Kausalbeziehung zwischen den UV und AV schließen kann. Wenn in einem Laborversuch zu mentalen Rotationsleistungen mit menschlichen Körpern ausschließlich die Sichtbarkeit des Reizes in verschiedenen Bedingungen manipuliert und ein Effekt auf die Antwortzeiten festgestellt wird, kann man sicher sein, dass die Manipulation einen direkten kausalen Einfluss hatte. Wenn in zwei Schulklassen zwei verschiedene Unterrichtsmethoden zum Beobachtungslernen einer Rolle rückwärts eingesetzt werden, gibt es viele Unterschiede zwischen den Klassen, die einen Einfluss auf die Ergebnisse haben könnten. Zuerst muss sichergestellt sein, dass die Klassen überhaupt vergleichbar sind. Ist die eine Klasse disziplinierter, erreichen sie bessere Ergebnisse, obwohl das nichts mit der Unterrichtsmethode zu tun...