Buch, Deutsch, 384 Seiten, PB, Format (B × H): 137 mm x 205 mm, Gewicht: 444 g
Buch, Deutsch, 384 Seiten, PB, Format (B × H): 137 mm x 205 mm, Gewicht: 444 g
ISBN: 978-3-86827-452-3
Verlag: Francke Buchhandlung GmbH
Atlanta 1933
Anne Perrin Singleton und Mary Dobbs Dillard haben so gut wie nichts gemeinsam. Perri ist die Tochter eines vermögenden Bankers, begeistert sich für Fotografie und Partys und genießt es, zur feinen Gesellschaft von Atlanta zu gehören. Dobbs ist die Tochter eines Predigers, in armen Verhältnissen aufgewachsen, lehnt sich gegen jegliche Form von Ungerechtigkeit auf undstammt aus Chicago.
Doch die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen führen die beiden jungen Frauen zusammen. Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war. In einer Zeit voller Turbulenzen müssen Perri und Dobbs um ihre Zukunft kämpfen – und werden einander zum einzigen Halt. Aber kann eine so ungleiche Freundschaft Bestand haben?
Zielgruppe
Leserinnen historischer und zeitgenössischer Romane, die realistische Charaktere schätzen
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Perri
Ich lernte Dobbs an dem Tag kennen, an dem meine Welt zusammenbrach. Es war das Jahr 1933. Für die meisten von uns im guten alten Amerika war die Welt schon vor Jahren zusammengebrochen. Aber ich hatte die letzten vier Jahre nahezu unversehrt überstanden. Ich war davon überzeugt, dass mir die Weltwirtschaftskrise in meinem kleinen Paradies nichts anhaben konnte.
Aber dann kam meine Welt mit quietschenden Bremsen zum Stehen, zeitgleich mit Herbert Hoover – am letzten Tag seiner Präsidentschaft. Die Banken brachen zusammen und rissen um mich alles mit sich.
Eigentlich fing der Tag gut an. Eine positive Spannung lag an diesem Samstag in der Luft. Ich hatte lange geschlafen, war aber trotzdem noch müde von der Feier der Studentenverbindung an der Georgia Tech. Mama weckte mich wie gewünscht um zehn, und nachdem ich Frühstückseier und Maisgrütze hinuntergeschlungen hatte, setzte ich mich zum Rest der Familie ins Wohnzimmer, wo auf der Anrichte unser Radio stand.
Die Kommentatoren beschrieben voller Begeisterung die Szenerie in Washington, D. C. „Menschenmassen drängen sich auf dem gut vier Hektar großen Areal, stehen auf den Bürgersteigen und Rasenflächen und warten auf den zukünftigen Präsidenten …“
Mama, Daddy, meine jüngeren Geschwister Barbara und Irvin und ich rutschten so nah wie möglich ans Radio. Jimmy und Del-lareen, unsere schwarzen Diener, waren mit ihren fünf Kindern auch da. Mama hatte sie eingeladen, damit sie hören konnten, wie Mr Roosevelt seinen Amtseid ablegte. Normalerweise arbeiteten sie nur die Woche über bei uns.
Es war, als hielte Amerika die Luft an und wartete darauf, dass dieser neue Präsident uns von uns selbst erlösen würde. Ich war vor Anspannung ganz nervös und Mama hatte ihr Sonntagslächeln aufgesetzt, aber Daddy machte keinen Hehl aus seiner düsteren Stimmung. Daddy war Banker und an jenem Morgen des 4. März 1933 hatte selbst die letzte Bank in den Vereinigten Staaten ihre Türen geschlossen. Das ganze Land fürchtete sich – na ja, war gelähmt vor Angst, traf es vielleicht besser.
Während wir auf die Antrittsrede warteten, ging Mama zu Daddy und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Holden, glaub mir, Mr Roosevelt kriegt das Land wieder auf Kurs.“
„Zu spät, Dot“, war alles, was er sagte.
Typisch, dachte ich und ärgerte mich, weil er drauf und dran war, diesen historischen Moment zu ruinieren. Auch wenn er Grund hatte, pessimistisch zu sein. Als Vorstandsmitglied der Georgia Trust Bank hatte er angesichts der Wirtschaftslage wenig Hoffnung auf ein Wunder.
„Er wickelt die Leute mit seinen schönen Worten um den Finger, dieser Roosevelt“, sagte Daddy. „Aber was er konkret machen will, hat er noch nicht ein einziges Mal gesagt. Seine Reden bestehen aus blumiger Rhetorik mit einem Schuss Humor. Aber was wirklich dahintersteckt, weiß kein Mensch.“
Mama tätschelte Daddys Hand und zuckte verständnisvoll mit den Schultern. Im Hintergrund hörten wir Musik und dann und wann leitete der Ansager kurze Werbepausen ein, in denen für Coca-Cola, Sears, Roebuck and Company oder Haverty’s Furniture geworben wurde. Schließlich kam die Rede des neuen Präsidenten. Dellareen ermahnte zwei ihrer Jungs, die auf dem Boden saßen und sich zankten. Ich saß auf dem Wohnzimmertisch, die Füße auf Irvins Schoß, und niemand scheuchte mich runter.
Ich glaube, wir beteten alle um ein Wunder. Ganz Amerika brauchte eins – vom Banker bis zur Haushaltshilfe. Republikaner, Demokraten, Alte und Junge. Ich war ziemlich froh, dass Herbert Hoover nicht mehr Präsident war. Ich hatte genug von den Elendsvierteln, die wir nur „Hoovervilles“ nannten, und von hundert anderen Sachen, über die wir nur die Köpfe schütteln konnten. Der Gedanke an eine Veränderung ließ mein Herz höherschlagen.
Mr Roosevelts Stimme kam knisternd durch den Radiolautsprecher und wir beugten uns gespannt vor.
Dieses große Volk wird weiter durchhalten, wie es bisher durchgehalten hat, es wird wieder aufblühen und gedeihen. So lassen Sie mich denn als Allererstes meine feste Überzeugung bekunden, dass das Einzige, was wir zu fürchten haben, die Furcht selbst ist – die namenlose, blinde, sinnlose Angst, die die Anstrengungen lähmt, derer es bedarf, um den Rückzug in einen Vormarsch umzuwandeln.
Wir lauschten gebannt, verzückt – außer vielleicht Daddy –, ließen uns von seinem väterlichen Ton beruhigen und hörten die zuversichtlichen Ankündigungen, die in meinen Ohren wie der Startpunkt für ein Wunder klangen.
„Und Präsident Roosevelt demonstrierte diese Stärke und den Optimismus höchstpersönlich, indem er sich aus dem Rollstuhl erhob und trotz seiner Gehbehinderung über die Bühne zum Rednerpult schritt“, verkündete der begeisterte Radiosprecher nach Roosevelts Rede.
Ich hoffte, dass die Rede des neuen Präsidenten auch Daddys Laune heben würde. Er war im Lauf der letzten Monate immer mürrischer geworden. Normalerweise vertraute mir mein Vater vieles an, was seine Arbeit betraf, die mich immer wieder faszinierte. Aber in letzter Zeit war er viel allein im Arbeitszimmer gewesen und gestern Abend hatte ich gehört, wie er sich mit Mama über die Situation in den Banken gestritten hatte.
Mama blickte mit einer Portion Optimismus auf das Leben, was meinen vor sich hin brütenden Vater oft besänftigte. Manchmal machte seine finstere Laune seinen Haaren alle Ehre – sie waren kohlrabenschwarz und es war nicht ein graues dazwischen. Komisch, dass mein Vater, der so oft melancholisch war, jung und frisch aussah, während Mama Ringe unter ihren hübschen grünen Augen hatte und alle zwei Monate ihr dunkelblondes Haar färben lassen musste, ein Luxus, den wir nie als Luxus angesehen hatten, bis Daddy letzten Monat wütend nach Hause gekommen war und der armen Mama den Besuch im Schönheitssalon untersagt hatte.
Aber Mama war erfinderisch und schaffte es auch so, einen neuen Schnitt und neue Farbe zu bekommen – Dellareen kannte sich zum Glück gut damit aus und hatte schon vielen weißen Damen die Haare gemacht. Ich hatte Dellareen dabei zugesehen, wie sie ihr Gebräu anrührt hatte, und inständig gehofft, dass es funktionieren würde, damit meine Freunde aus Atlanta nicht auf den Gedanken kamen, bei den Singletons wäre die Armut ausgebrochen.
An jenem Samstag Anfang März hatte Präsident Roosevelt die Nation mit seinen Worten besänftigt und ich verspürte so etwas wie Hoffnung. Ich hatte Freunde, Partyeinladungen und Massen an Verabredungen, und der Präsident würde es schon irgendwie schaffen, die Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Und die Banken. Oh, bitte, auch die Banken, vor allem die von Daddy.
„Perri, ich möchte, dass du mich nachher zum Bahnhof begleitest“, sagte Mama nach dem Mittagessen. Irvin war schon wieder nach draußen entwischt, um mit seinen Freunden Baseball zu spielen. Barbara besuchte ihre Freundin Lulu und Daddy war im Arbeitszimmer verschwunden.
Ich wollte eigentlich meine Freundin Mae Pearl besuchen, um sie zu fragen, was sie von Roosevelts Rede hielt. Missmutig verzog ich das Gesicht. „Och, Mama. Warum?“
„Josephine Chandler holt ihre Nichte aus Chicago ab. Sie wird den Rest des Jahres bei den Chandlers wohnen und aufs Washington Seminary gehen.“
„Sie fängt jetzt mit der Schule an? Im März?“
„Ich glaube, ihre Familie hat es ziemlich hart getroffen und Mrs Chandler hat angeboten, das Mädchen aufzunehmen und für eine ordentliche Schulbildung zu sorgen.“
Alle hat es hart getroffen, dachte ich und ärgerte mich darüber, dass Mama gerade meine Nachmittagspläne durchkreuzt hatte. Aber dieses Mädchen hatte echtes Glück. Die Chandlers lebten im größten Haus in unserer Nachbarschaft und veranstalteten fast jede Woche irgendein Fest. Ich kannte jede Menge Mädchen, die ihren Eistee im August liebend gern gegen einen Besuch im Haus der Chandlers eingetauscht hätten.
„Holden, wir nehmen den Buick“, rief Mama. Mein Vater musste wohl seine Zustimmung gegeben haben, denn kurz darauf fuhren wir schon in Daddys Zweitürer, dem Buick Victory Coupé, die Wesley Road hinunter in Richtung Peachtree Street zu den Chandlers. Daddy liebte sein Auto so sehr, dass er Mama eigentlich fast nie damit fahren ließ.
Dann hat er bestimmt wegen Mr Roosevelt gute Laune, dachte ich.
Mama war wie immer etwas nervös beim Fahren, aber obwohl das auf mich abfärbte, ließ ich mir nichts anmerken. Mrs Chandler wartete schon auf uns und ihr Fahrer stand bereit, um uns im Pierce Arrow Cabriolet zum Bahnhof zu bringen. Oh, was für ein elegantes Auto! Mrs Chandler stieg auf der Beifahrerseite ein und Mama und ich kuschelten uns auf dem Rücksitz aneinander, während der Frühlingswind uns die Haare durcheinanderwirbelte.
„Das Mädchen heißt Mary Dobbs Dillard. Sie ist sechzehn oder siebzehn und wird in deine Klasse gehen, Perri.“ Mrs Chandler drehte sich beim Reden um und ihr perfekt frisiertes Haar wehte etwas durcheinander. „Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen und als ich dann letzten Herbst in Chicago war, musste ich feststellen, wie schwer es meinen Bruder und seine Familie getroffen hat. Ich bestand darauf, dass Mary Dobbs hierherkommt. Sie ist ziemlich intelligent und hat eine gute Schulbildung verdient.“ Mrs Chandler sah kurz nach vorn.
„Mein Bruder Billy meint es natürlich gut. Er möchte wohltätig sein, aber ich hatte den Eindruck, seine Familie hungert, während er großzügig seine Almosen gibt. Ich wollte ja eigentlich die beiden jüngeren Schwestern auch herholen, aber Billys Frau Ginnie meinte, sie seien zu jung, um von zu Hause wegzugehen.“
Ich stellte mir Mrs Chandlers Nichte vor – dürr, hohläugig, schüchtern und ausgehungert. Mrs Chandlers Bruder sah in meiner Vorstellung aus wie der Mann auf Dorothea Langes Foto mit dem Titel „White Angel Breadline“. Darauf waren müde Männer zu sehen, die für Brot anstanden. In der Mitte war ein Mann der Kamera zugewandt. Er hatte einen abgewetzten Hut auf dem Kopf und lehnte sich über einen Holzzaun, auf dem eine Blechtasse stand, um die er die Arme gelegt hatte. Er sah bettelarm aus. Dorothea Lange war meine Heldin damals. Wie sie wollte ich auch fotografieren können.
Wir hielten vor dem stattlichen Bahnhof mit seinen Bögen und Türmchen. Mrs Chandler, Mama und ich beeilten uns, das Gleis ausfindig zu machen, an dem das arme Mädchen aus meiner Vorstellung gleich ankommen sollte. Ein paar Minuten später stieg Mary Dobbs Dillard in einer Wolke aus Rauch und Dampf aus dem Zug und es verschlug mir den Atem.
Ich war vom ersten Augenblick an von ihrer Erscheinung gefesselt. Mary Dobbs war das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte, aber auf eigenartige, unkonventionelle Art. Ihre Haut war leicht gebräunt – und stand damit in starkem Kontrast zu der vornehmen Blässe, die bei uns Mode war. Ihre dichten, schwarzen Locken, die bis zur Taille reichten, trug sie offen. Ihre Augen waren tiefschwarz – wie große, ovalförmige Onyxsteine – und ihr Gesicht war genauso oval, mit hohen Wangenknochen und einer Haut, die noch nie ein Pickelchen verunstaltet hatte, da war ich mir sicher. Sie war zierlich und nicht besonders groß, aber zugleich wirkte sie stark und entschlossen. Das ausgeblichene dunkelblaue Baumwollkleid, das sie trug, hing an ihr herunter.
Vielleicht hatte ihre Familie ganz schön zu kämpfen, aber Mary Dobbs sah weder schüchtern noch kleinlaut aus. Sie stand gerade, die Schultern zurückgeschoben und auf ihrem hübschen Gesicht spiegelte sich Erstaunen.
„Hallo, Mary Dobbs“, sagte Mrs Chandler und legte ihr freundlich eine Hand auf die Schulter.
Mary Dobbs stellte ihren kleinen Koffer ab. Er war grauweiß, hatte etliche Schrammen und wies viele Gebrauchsspuren auf, um es positiv auszudrücken. Sie schlang die Arme um Mrs Chandler. „Ich freue mich ja so, endlich hier zu sein, Tante Josie!“
Etwas überrascht löste sich Mrs Chandler vorsichtig aus Mary Dobbs’ Umarmung. „Na, na. Schön, dass du heil angekommen bist.“ Dann wandte sie sich an Mama und mich. „Mary Dobbs, ich möchte dir eine gute Freundin vorstellen. Das ist Mrs Singleton und das ihre Tochter Perri.“
Mary Dobbs begutachtete uns, zeigte ihre perfekten Zähne und griff nach meiner Hand, um sie im nächsten Moment kräftig zu schütteln. „Freut mich“, sagte sie, und fügte dann leise hinzu: „Mary sagt keiner zu mir. Ich heiße einfach Dobbs.“
Ich wurde rot.
„Also schön, Mary Dobbs“, sagte Mrs Chandler, „dann lasse ich den Chauffeur mal deine Taschen holen.“
Sie gab dem Fahrer ein Zeichen, aber Dobbs schüttelte den Kopf und zeigte auf ihren alten Koffer. „Mehr habe ich nicht.“
Mrs Chandler sah wieder ziemlich überrascht aus, aber nur für einen kurzen Augenblick. „Na schön, wenn das alles ist, dann können wir ja fahren.“ Der Fahrer nahm den Koffer und ging uns voraus.
Auf dem Weg nach Hause saß ich zwischen Mama und Dobbs. Fasziniert beobachtete ich, wie ihre lange schwarze Mähne wie eine Fahne auf der Maiparade im Wind flatterte. Ich kannte kein anderes Mädchen mit langen Haaren.
Mama stieß mich heimlich an, was wohl so viel bedeuten sollte wie Sag irgendwas, Perri! Also fragte ich: „Warst du schon mal in Atlanta?“
„Ein oder zwei Mal, vor langer Zeit. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber mein Vater hat mir einiges über Atlanta erzählt.“
„Dann kommt er von hier?“
Dobbs sah mich zweifelnd an. „Natürlich. Mein Vater ist doch Mrs Chandlers Bruder. Er ist in dem Haus aufgewachsen, in dem sie wohnt.“
Mir wurde heiß. Natürlich. Was für eine dumme Frage!
Ich wollte ihr sagen, was für ein großes Glück sie hatte, in dieses riesige Haus zu ziehen, aber das wäre nicht höflich gewesen.Und egal, welche Fehler ich sonst haben mochte, ich wusste, wann ich höflich zu sein hatte, vor allem jetzt, wo Mama neben mir saß. Ich wollte Dobbs nach ihrem Leben in Chicago fragen, aber angesichts dessen, was Mrs Chandler erzählt hatte, wäre das wohl auch unhöflich gewesen.
Also herrschte Schweigen.
Mama versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. „Perri, Liebes, warum erzählst du Mary Dobbs nicht ein wenig von deiner Schule, von den Mädchen in deiner Klasse? Das interessiert sie bestimmt.“
Ich machte ein finsteres Gesicht. Es schien sie nicht nur zu interessieren, sie schien geradezu gierig danach zu sein. Ihre Augen waren groß vor Erwartung und das störte mich. „Die Schule heißt Washington Seminary. Das weißt du bestimmt schon …“
„Oh ja!“, unterbrach mich Dobbs. „Washington Seminary, dabei ist es gar kein Seminar. Es ist eine ‚erstklassige und schöne Schule für Mädchen‘ – oder so ähnlich. Es gibt dreißig gut ausgebildete Lehrer und vier Parallelklassen und es gibt einen Französischklub und einen Spanischklub und außerdem alle möglichen Sportarten: Basketball und Hockey und ein Schwimmteam und das Maifest wird groß gefeiert …“
Ich starrte sie mit offenem Mund an. Sie klang wie eine Werbebroschüre und sprach mit einem Akzent, der definitiv nicht den Südstaaten entstammte.
Dobbs lächelte mich fröhlich an. „Tante Josie hat mir das letzte Jahrbuch geschickt. Ich hab’s durchgelesen. Facts and Fancies.“
„Oh. Dann weißt du ja alles. Viel mehr kann ich auch nicht sagen.“
Mama warf mir einen missbilligenden Blick zu, aber ich zuckte nur mit den Schultern.
„Nein, ich weiß noch längst nicht alles“, meinte Dobbs freundlich. „Erzähl mir doch ein bisschen von dir.“
Ich verspürte kein Bedürfnis, mit diesem überdrehten Mädchen zu reden, aber Mama versetzte mir einen Stoß in die Rippen. Ich verdrehte die Augen. „Ich bin siebzehn, vorletzte Klassenstufe, wir sind zweiunddreißig in der Klasse. Ich schreibe für Facts and Fancies, ich fotografiere. Ich bin Vorsitzende des Rotkreuzklubs, stellvertretende Klassensprecherin und in der Phi-Pi-Studentinnenverbindung. Mit meinen Freundinnen gehe ich zwei oder drei Mal in der Woche zum Tanz. Da treffen wir dann die netten Jungs von der Jungenschule, die den langweiligsten Namen der Welt hat – Boys High – und von den Colleges in Atlanta – Georgia Tech und Emory und Oglethorpe. In meiner Klasse gehen sogar schon einige Mädchen fest mit einem Jungen aus.
Nach der Schule gehen wir oft zu Jacob’s Drugstore und bestellen uns eine Coca-Cola oder etwas anderes. Ich reite gern. Und ich liebe die Fuchsjagd. Sagen wir einfach, mir wird selten langweilig.“
Dobbs hatte mich die ganze Zeit mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen beobachtet. Jetzt legte sie den Kopf schief und sah mich mit ihren schwarzen Augen durchdringend an. Dann sagte sie: „Vielen Dank für diesen Monolog, Perri Singleton. Aber ich wette, zu dir gibt es noch viel mehr zu sagen. Ich freue mich schon darauf, dich wirklich kennenzulernen.“
Ich funkelte sie wütend an, schob das Kinn nach vorn und drehte mich empört zu Mama um, die immer sagte, wenn ich wütend sei, würden aus meinen Augen Blitze schießen und jemanden suchen, den sie verbrennen konnten.
Dobbs schien das alles nicht zu merken. „Tante Josie, war Roosevelts Rede nicht grandios? ‚Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst!‘ Er macht unser Land wieder ganz. Ich weiß es einfach! Es ist genau, wie er sagt: Wir haben genug, wir haben nur unsere Ressourcen falsch eingesetzt.“
Dobbs saß da in ihrem Lumpenkleid und redete in einem fort über den „religiösen Unterton in Roosevelts Rede“ und wie er das Gefühl des amerikanischen Volkes in Worte gekleidet habe. Mrs Chandler hatte sich zu ihr umgewandt, sah aber eher so aus, als würde sie sich mehr Sorgen wegen eines Krampfs im Nacken machen.
Sie will bloß Mrs Chandler beeindrucken, dachte ich.
Schließlich schoss ich einen meiner Blitze in Dobbs’ Richtung, den sie mit einem Lächeln parierte. „Wie fandest du denn die Rede?“ Ich reagierte nicht, selbst nachdem Mama mich zweimal mit dem Ellbogen angestoßen hatte und so fuhren wir schweigend weiter.
Gott sei Dank erreichten wir kurz darauf das Haus der Chandlers. Ich murmelte: „Hat mich gefreut“, und Dobbs erwiderte: „Gleichfalls. Bis Montag in der Schule.“
„Was für eine komische Person“, meinte ich zu Mama, als wir mit dem Buick wieder in unsere Straße einbogen. „Sie ist so überdreht, findest du nicht auch? Plappert in einem fort über den neuen Präsidenten in ihrem Kartoffelsackkleid und mit diesem schäbigen Koffer. Ich bin so froh, dass wir am Washington Seminary Uniformen tragen. So bleibt den Mädchen ihr Kleiderschrank erspart.“
„Shh, Perri. Ja, sie ist anders, aber ich glaube, sie freut sich einfach so, hier zu sein. Denk doch nur, woher sie kommt. Sie wird sich sicher gut eingewöhnen. Ich möchte, dass du sie am Montag ein paar der Mädchen vorstellst. Und fälle dein Urteil über sie nicht vorschnell, ja?“
Typisch Mama. Sie ergriff immer erst einmal Partei für jeden.
Für mich war Dobbs jetzt schon ein rotes Tuch.
Wir kamen zu Hause an und Mama stellte den Wagen in der Einfahrt ab. „Holden, Liebling“, rief sie fröhlich, als wir im Flur standen. „Es ging alles gut mit dem Coupé. Kein Kratzer, keine Beule! Aber ich habe das Auto in der Einfahrt stehen gelassen, wie du wolltest. In die Garage manövrieren darfst du es.“ Sie erzählte munter weiter und ging in Daddys Arbeitszimmer.
Ich war gerade auf dem Weg nach oben, als Mama aufschrie. Mit einer Hand vor dem Mund und in der anderen ein Blatt von Papas Briefpapier kam sie zurück in den Flur getaumelt. „Dein Vater … Wir müssen deinen Vater finden!“ Sie stürzte aus dem Hinterausgang zur Garage.
Beim Anblick von Mamas verstörtem Gesicht wurde mir schwindlig und ich hörte mein Blut in den Adern pochen. Ich folgte ihr aus der Tür, rannte aber in die entgegengesetzte Richtung – über die Wiese hinter dem Haus zu den Ställen, wo Daddys Pferde waren. Reiten und die Fuchsjagd waren seine Lieblingsbeschäftigungen und ich dachte, er wäre vielleicht ausgeritten. Schwungvoll stieß ich die Stalltür auf. Der lange Gang war leer, abgesehen von ein paar Heuhalmen, die der Stallbursche wohl beim Füttern am Morgen verloren hatte. Die Pferde, alle fünf, traten in ihren Ställen nervös von einem Bein aufs andere und wieherten.
„Was ist denn los, mein Großer?“, fragte ich Windchaser, Daddys Lieblingspferd, und streichelte ihm die Stirn. Plötzlich fiel mein Blick auf etwas Braunes in der Sattelkammer. Ich ging näher heran und erkannte Daddys feinen Quastenlederschuh, der auf der Seite lag, zwischen Heu und Spänen. Dann sah ich nach oben. Daddys lebloser Körper hing an einem der Dachbalken. Er hatte ein Pferdehalfter um den Hals. Seine langen Beine im dunkelgrauen Zwirn baumelten langsam hin und her, an einem Fuß fehlte der Schuh. Ich schrie und konnte nicht mehr aufhören.
Dann wurde ich ohnmächtig.
So haben sie mich gefunden, Jimmy, Dellareen und Ben, ihr ältester Sohn. Ben spritzte mir Wasser ins Gesicht und ich kam wieder zu mir. Ich sah noch, wie Dellareen nach draußen zu Mama stürzte, sie an der Taille fasste und vom Stall wegzog. Mama versuchte sich frei zu machen, aber Dellareens starke Arme hielten sie fest und zogen sie fort, während Mama mich verzweifelt ansah und „Holden, Holden, Holden!“ schrie.
Ich erinnere mich an die wilde Entschlossenheit in Dellareens Gesicht und wie sie „Das is nichts für Sie, Miz Dorothy“ fauchte.
Dann hob mich Jimmy auf, der genauso schlank war wie Dellareen, trug mich zurück ins Haus und legte mich auf das Sofa im Wohnzimmer. Dellareen kam mit einem feuchten Tuch für meine Stirn.
Ich vermute, Jimmy und Ben holten Daddy runter.
Der Nachmittag verschwamm zu einer nicht enden wollenden Parade aus Menschen, die bei uns ein- und ausgingen. Ich war heil-froh, dass Barbara und Irvin noch nicht wieder da waren. Wie ein alter Holzklotz saß ich unbeweglich auf dem Sofa und sah die Leute wie im Nebel an mir vorbeiziehen. Mrs Chandler und ihr Diener kamen zuerst, dann Daddys Geschäftspartner aus der Bank. Später tauchte Mr Robinson, Daddys Freund und Steuerberater, auf und Mr Chandler kam vom Golfplatz in Knickerbocker und Polohemd. Mehr und mehr Menschen kamen, und mit ihnen Körpergeruch, Schweiß und Trauer, die sich vermischten und die untere Etage füllten.
Nach einiger Diskussion rief Mrs Chandler bei Lulu an, wo Barbara zu Besuch war, und danach den Trainer von Irvins Baseballteam, und bat darum, dass die Kinder noch bis nach dem Abendessen dortbleiben durften.
Später ging Mrs Chandler mit Mama nach oben und irgendwann hörte ich Mama wehklagen: „Die arme Perri! Und wie soll ich das erst Barbara und Irvin beibringen?“
Ich saß noch immer wie ein Klotz auf dem Sofa, die Arme um mich geschlungen und fühlte mich einfach nur taub, aber als ich Mamas Stimme hörte, erwachte ich zum Leben. „Ich sage es ihnen.“
Dellareen sah mich erschrocken an und schüttelte den Kopf. „Oh nein, Miz Perri. Das ist nicht deine Aufgabe.“
„Aber ich möchte. Ich muss. Mama schafft das nicht. Das weißt du.“ Ich hatte noch nicht eine Träne vergossen, aber mein Gesicht glühte und ich konnte die roten Flecken auf meinen Wangen spüren.
Dellareen drückte mir mit sorgenvoller Miene die Hand. Ihre Stirn glänzte und ihre Dieneruniform, die sonst stets tadellos war, hatte unter den Achseln Schweißflecken.
Dellareen kannte mich schon, als mich „noch eine Mücke umpusten konnte“, wie sie immer sagte, und auch an diesem Tag konnte sie meine Gedanken lesen. „Das ist nicht deine Aufgabe, Miz Perri! Verstehst du? Ich weiß, du hast deinen Papa geliebt und er liebte dich, aber diese Last auf deinen Schultern, nein, das würde er nicht wollen.“
Jetzt strömten die Tränen über mein Gesicht und ich ließ mich von Dellareen in den Arm nehmen. „Ich möchte zu Mama“, presste ich schließlich an meinem Kloß im Hals vorbei.
Mama saß oben in ihrem Bett und Mrs Chandler war an ihrer Seite. Ihr hübsches gepudertes Gesicht war mit Wimperntusche verschmiert und sie weinte still. Als sie mich sah, streckte sie die Arme aus. „Perri, Perri.“ Dann flüsterte sie Mrs Chandler zu: „Perri hat … Perri war diejenige, die ihn im Stall …“
Mama zog mich zu sich heran und schlang die Arme um mich. Unbeholfen stand ich einige Zeit vornübergebeugt da, spürte ihre schmalen Ärmchen, das Gewicht ihres Körpers, der sich an mich klammerte, als ginge es um Leben und Tod. Ich hielt sie fest und schaffte es irgendwie zu sagen: „Es wird alles gut, Mama. Irgendwie wird alles wieder gut.“
Nichts wird wieder gut, dachte ich, es sei denn, ich sorge dafür. Von nun an hängt alles an mir.