E-Book, Deutsch, 230 Seiten
Nesbø Doktor Proktors Pupspulver
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-401-80081-3
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 230 Seiten
ISBN: 978-3-401-80081-3
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Doktor Proktor ist ein verrückter Professor. Na ja, beinahe vielleicht - eigentlich ist er ein genialer Erfinder! Es wird schließlich nicht alle Tage ein Pupspulver erfunden, das man sogar als Raketenstarthilfe an die NASA verkaufen könnte. Davon sind zumindest Bulle und Lise fest überzeugt! Wären da bloß nicht die fiesen Zwillinge Truls und Trym, die sich das Pupspulver unter den Nagel reißen wollen.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
Der neue Nachbar
s war Mai und die Sonne schien schon eine Weile auf Japan, dann Russland und Schweden. Jetzt ging sie auch über Oslo auf. Oslo ist die nicht besonders große Hauptstadt eines nicht besonders großen Landes namens Norwegen. Die Sonne schien sogleich auf das gelbe, eher kleine Schloss in Oslo. Hier lebt ein König, der so wenig zu bestimmen hat, dass es kaum auffällt.
Die Sonne schien auch auf die Festung Akershus unten am Oslofjord. Sie schien auf die alten Kanonen, die über den Fjord gerichtet waren, sie schien durchs Fenster ins Büro des Kommandanten und auf die letzte Tür ganz, ganz hinten, die zur gefürchtetsten Gefängniszelle der ganzen Stadt führte, zum Totenmannsloch, in der nur die allerschlimmsten und gefährlichsten Verbrecher eingekerkert wurden. Die Zelle war leer, abgesehen von einem Rattus norvegicus, einer kleinen norwegischen Wanderratte, die gerade in der Kloschüssel ihr Morgenbad nahm.
Dann stieg die Sonne noch ein klein bisschen höher und schien auf die Kinder einer Schulkapelle, die schon geübt hatten, sehr früh aufzustehen und kratzende Uniformen anzuziehen. Und gerade jetzt übten sie, zu marschieren und beinahe im Takt Musik zu spielen. Denn bald kam der 17. Mai, der norwegische Nationalfeiertag, an dem überall in dem ganzen kleinen Land alle Schulkapellen sehr früh aufstehen, kratzende Uniformen anziehen und beinahe im Takt Musik spielen.
Wieder stieg die Sonne etwas höher und schien auf die hölzernen Kaianlagen am Oslofjord, wo gerade ein Schiff aus Schanghai in China angelegt hatte. Die Planken des Kais schwankten knirschend unter eiligen Füßen, die hin und her liefen und die Waren aus dem Schiff luden.
Ein paar wenige Sonnenstrahlen fielen sogar durch die Planken in ein Kanalrohr, das unter dem Kai ins Wasser des Fjords führte. Und ein einziger Sonnenstrahl drang in die Dunkelheit des Abwasserkanals hinein, wo er etwas aufblitzen ließ. Etwas Weißes, Feuchtes und extrem Scharfes. Etwas, das ganz unheimlich einem großen Gebiss ähnelte. Wer sich mit Kriechtieren auskannte, aber sonst einigermaßen dumm war, konnte meinen, es würde sich hier um die achtzehn Fangzähne im Maul der gefährlichsten und größten Würgeschlange der Welt handeln, der Anakonda. Aber so dumm ist wohl niemand. Schließlich leben Anakondas im Dschungel, in Flüssen wie dem Amazonas in Brasilien und nicht etwa in Abwasserkanälen, die kreuz und quer unter einer friedlichen kleinen Stadt namens Oslo verlaufen. Eine Anakonda in der Kanalisation? Achtzehn Meter nichts als Würgemuskeln, ein Maul, so groß wie ein Schwimmreifen, und Zähne wie Eiszapfen? Haha! Das glaubt ja im Leben niemand!
Und jetzt ging die Sonne allmählich auch über einer ruhigen Straße namens Kanonenstraße auf. Hier trafen ihre Strahlen ein rotes Haus, in dem der Kommandant der Festung Akershus gerade mit seiner Frau und seiner Tochter Lise beim Frühstück saß. Und auf der anderen Seite der Straße trafen sie auf das gelbe Haus, in dem Lises beste Freundin gewohnt hatte. Leider war Lises beste Freundin gerade in eine Stadt namens Sarpsborg umgezogen und wegen des leeren gelben Hauses fühlte Lise sich noch etwas einsamer, als sie gewesen war, bevor ihre Freundin wegzog. Denn jetzt gab es keine Kinder mehr in der Kanonenstraße, mit denen Lise spielen konnte.
Die einzigen anderen Kinder in der Nachbarschaft waren Truls und Trym Thrane. Diese beiden Zwillinge wohnten ganz unten in der Straße in einer protzigen Villa mit drei Garagen und waren zwei Jahre älter als Lise. Im Winter warfen sie steinharte Schneebälle nach ihrem kleinen rothaarigen Kopf. Und wenn sie fragte, ob sie nicht zusammen spielen sollten, drückten sie ihr das Gesicht in den Schnee. Mit harten, eiskalten Fausthandschuhen rieben sie ihr Schnee ins Gesicht und nannten sie fiese Lise, Piesel-Lise oder Tante Kommandante. Du denkst jetzt vielleicht, Lise hätte mal den Eltern von Truls und Trym erzählen sollen, wie ungezogen die Zwillinge waren. Aber da kennst du Herrn Thrane schlecht, den Vater von Truls und Trym. Herr Thrane war ein fetter, bösartiger Kerl, noch dicker als Lises Vater und viel, viel böser. Und mindestens zehn Mal so reich wie er. Und weil er dermaßen reich war, fand Herr Thrane, niemand hätte das Recht, anzukommen und ihm irgendwas zu sagen, schon gar nicht, wie er seine Söhne zu erziehen hätte!
Herr Thrane war dermaßen stinkreich, weil er früher mal einem armen Erfinder eine Erfindung geklaut hatte. Diese Erfindung war ein sehr hartes, sehr rätselhaftes und sehr geheimes Material, das unter anderem für Gefängnistüren verwendet wurde, um die Gefängnisse so gut wie restlos ausbruchssicher zu machen. Mit dem Geld, das er dank dieser Erfindung verdiente, hatte Herr Thrane unter anderem das protzige Haus mit den drei Garagen gebaut und sich einen Hummer gekauft. Ein Hummer ist ein fettes, hässliches Auto, das ursprünglich für Kriegszwecke gebaut worden war und das fast die gesamte Straße einnahm, wenn Herr Thrane durch die Kanonenstraße fuhr. Außerdem spuckt so ein Hummer ganz fürchterlich viele Abgase aus. Aber das war Herrn Thrane egal, denn er mochte fette, hässliche Autos ziemlich gern.
Außerdem wusste er ja, wenn er nicht aufpasste und einen Unfall baute, dann war sein Auto viel größer als das der anderen, da hatten die anderen dann Pech gehabt.
Zum Glück würde es wieder einige Zeit dauern, bis Truls und Trym Lise in den Schnee werfen konnten, denn die Sonne hatte längst allen Schnee geschmolzen, der in der Kanonenstraße lag, und jetzt schien sie auf die Gärten, die alle grün und gut gepflegt waren. Alle – bis auf einen. Dieser Garten war zugewuchert, grau und struppig, aber er lächelte dennoch, denn in ihm standen zwei Birnbäume und ein kleines, schiefes Häuschen, das vielleicht früher einmal blau gewesen war und an dem ganz sicher ziemlich viele Dachziegel fehlten. Dort lebte ein Mann, den die Bewohner der Kanonenstraße nur selten zu sehen bekamen. Lise war ihm nur zwei, drei Mal begegnet und dann hatte er gelächelt und eigentlich ausgesehen wie sein eigener Garten: zugewuchert, grau und struppig.
»Was ist denn das?«, brummte der Kommandant. Auf einmal wurde die morgendliche Stille von lautem Motorengedröhn gestört. »Ist das etwa der verflixte Hummer von Herrn Thrane?«
Seine Frau reckte den Hals und sah aus dem Küchenfenster. »Nein. Das sieht aus wie ein Umzugswagen.«
Lise, die sonst ein sehr wohlerzogenes Mädchen war, stand vom Tisch auf, ganz ohne zu fragen, obwohl sie ihren Teller noch nicht leer gegessen hatte, und rannte hinaus auf die Eingangstreppe. Tatsächlich. Vor dem leeren gelben Haus stand ein Laster mit der Aufschrift SCHNELL & VERRÜCKT. Und jetzt wurden Pappkartons ausgeladen.
Lise ging die Treppe hinunter zu dem sogenannten Apfelbaum beim Zaun, um sich das genauer anzusehen. Träger in blauen Latzhosen schleppten Möbel, Lampen und große, hässliche Bilder ins Haus. Sie sah, wie ein Möbelpacker einen anderen auf eine Trompete aufmerksam machte, die auf einem Umzugskarton lag, und beide lachten. Leider sah sie nicht, was sie so gern gesehen hätte: Puppen, kleine Fahrräder und kurze Skier. Das konnte nur bedeuten, dass die Leute, die da einzogen, keine Kinder hatten, jedenfalls keine Mädchen in ihrem Alter. Lise seufzte.
Und in genau diesem Augenblick hörte sie eine Stimme: »Hallo!« Sie schaute sich verwundert um, sah aber niemanden. »Hallöchen!« Sie sah in den Baum hinauf, den Papa als einen Apfelbaum bezeichnete, an dem aber noch niemals jemand einen Apfel gesehen hatte. Aber jetzt hatte der Baum im merhin angefangen zu reden.
»Nicht da oben«, sagte die Stimme. »Hier.«
Lise stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute auf die andere Seite des Zauns. Und da stand ein kleiner Junge mit roten Haaren. Übrigens waren seine Haare nicht nur rot, sondern ritzeratzerot. Und er war nicht nur klein, sondern winzig klein. Mit einem winzigen Gesicht mit zwei winzigen blauen Augen und dazwischen einer winzigen Himmelfahrtsnase.
»Ich heiße Bulle«, sagte er. »Was sagt man dazu?«
»Wozu?«, fragte Lise.
»Zu so einem Namen. Der ist nicht gerade üblich.«
Lise dachte nach. »Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Schön«, lächelte der Junge. »Der Name reimt sich unter anderem auf Pulle, aber damit lassen wir’s dann auch gut sein. Einverstanden?«
Lise nickte. Der Junge steckte sich den rechten Zeigefinger ins linke Ohr. »Und wie heißt du?«
»Lise«, sagte Lise.
Bulles Zeigefinger popelte hingebungsvoll in seinem Ohr herum, während der Junge Lise anblickte. Schließlich zog er den Finger wieder aus dem Ohr, sah ihn an, nickte zufrieden und wischte ihn sich am Hosenbein ab.
»Mir fällt gerade nichts Lustiges ein, das sich auf Lise reimt«, sagte er. »Hast Glück gehabt.«
»Ziehst du in Annas Haus ein?«
»Ich kenne keine Anna, aber wir ziehen in diese gelbe Bude hier.« Bulle deutete mit dem Daumen nach hinten über die Schulter.
»Anna ist meine beste Freundin«, erklärte Lise. »Sie ist nach Sarpsborg gezogen.«...