Nöding / Ignor / Schmitt-Leonardy | Verteidigung in Jugendstrafsachen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten

Reihe: Praxis der Strafverteidigung

Nöding / Ignor / Schmitt-Leonardy Verteidigung in Jugendstrafsachen

E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten

Reihe: Praxis der Strafverteidigung

ISBN: 978-3-8114-5658-7
Verlag: C.F. Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Jugendstrafsachen stellen an den Verteidiger aufgrund der vielen Sonderregelungen im materiellen und prozessualen Bereich sowie der besonderen Umstände der jugendlichen und heranwachsenden Mandanten hohe Anforderungen.

Das Standardwerk vermittelt die für die Verteidigung in Jugendstrafsachen erforderlichen Kenntnisse. Es ermöglicht die gezielte Einarbeitung in dieses Rechtsgebiet, dient zugleich aber auch dem erfahrenen Verteidiger als Hilfsmittel zur vertieften Problembearbeitung. Durch die gezielten Hinweise für die Verteidigungspraxis und zahlreiche Muster von Verteidigeranträgen und Verteidigerschreiben, eignet es sich hervorragend für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die sich auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts engagieren.

Die 8. Auflage bringt das Praxishandbuch auf den Stand des Juni 2023. Sie enthält vor allem die umfangreichen Änderungen des JGG durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren. Die Darstellungen zur notwendigen Verteidigung in Jugendstrafsachen sowie zu Rolle und Aufgaben der Jugendgerichtshilfe wurden grundlegend neu bearbeitet. Es wurde eine Vielzahl von für den Praktiker nützlichen Tipps für das Verhalten in einzelnen Verfahrensstadien und konkreten Problemkonstellationen neu in das Werk aufgenommen; auch der Abschnitt mit Mustern von Anträgen wurde erheblich erweitert.

Darüber hinaus neu in der 8. Auflage:



- aktueller Stand der Rechtsprechung zur Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld, detaillierte Darstellung der sich weiter entwickelnden Tendenz zum Schuldstrafrecht

- Entscheidung des Großen Senats zur Einziehung von Wertersatz im Jugendstrafrecht und ihre Auswirkungen auf die Verteidigungspraxis, insbesondere auf Vollstreckungsebene

- Darstellung der umfangreich neu eingeführten Informationspflichten und deren Auswirkungen, insb. auf den Erstkontakt des jungen Beschuldigten mit der Polizei und auf das sog. Elternkonsultationsrecht

- Implikationen der frühzeitigeren Berichterstattung durch die Jugendgerichtshilfe; Nutzbarmachung für die Verteidigungspraxis

- umfassende Darstellung der Neuregelung der Pflichtverteidigung im Jugendstrafrecht mit zahlreichen Mustern und Tipps, Auswirkung von Verstößen gegen die Verpflichtung zur frühzeitigen Beiordnung eines Pflichtverteidigers, Rechtsprechung zur rückwirkenden Beiordnung
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Zielgruppe


Rechtsanwälte mit Tätigkeitsschwerpunkt Strafrecht, Fachanwälte für Strafrecht

Weitere Infos & Material


I. Die „Normalität“ von Jugenddelinquenz
1 Dem Jugendstrafrecht liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Straftaten junger Täter weitgehend Ausdruck der schwierigen Umorientierungsphase in Pubertät und Adoleszenz sind. Für junge Menschen ist dies eine Zeit besonderer innerer und äußerer Spannungen; sie müssen sich in ihre soziale Rolle hineinfinden und werden ersten großen Belastungsproben ausgesetzt.[1] Dass in dieser Umorientierungsphase Straftaten begangen werden, ist „normal“. Die Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen ist – auf die Gesamtbevölkerung betrachtet – die mit Straftaten meistbelastete Altersgruppe.[2] Straftaten junger Täter lassen sich dabei in allen gesellschaftlichen Gruppen unabhängig von Schichtzugehörigkeit oder Nationalität feststellen, sind also allgegenwärtig („ubiquitär“). 2 Diese Verhaltensweisen enden meist auch dann, wenn sie nicht entdeckt und ihnen nicht mit den Mitteln des Jugendstrafrechts entgegengetreten wird, von selbst, wenn der Reifungsprozess abgeschlossen, Sozialverhalten erlernt und die persönliche Situation durch Arbeitsaufnahme und/oder Familiengründung stabilisiert ist. Jugenddelinquenz ist also ganz überwiegend eine vorübergehende Erscheinung, ist „passager“ bzw. „episodenhaft“. Die statistischen Zahlen erweisen einen rasanten Anstieg der Kriminalitätsbelastung vom 14. bis zum 21./22. Lebensjahr und danach ein deutliches, kontinuierliches Absinken mit zunehmendem Lebensalter (sog. „Age-Crime-Curve“).[3] Bei jungen Männern steigt die Kurve der Kriminalitätsbelastung zwischen dem 14. und dem 21. Lebensjahr von Null (Strafunmündigkeit) auf knapp 8 % an, und senkt sich dann auf 3 % bis zum 50. Lebensjahr. Junge Frauen haben zwar insgesamt eine deutlich geringere Kriminalitätsbelastung aufzuweisen; das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen jugendlichen Tatverdächtigen liegt bei ca. 1:3.[4] Auch bei den weiblichen Tatverdächtigen steigt die Kurve zwischen dem 14. und dem 21. Lebensjahr von Null auf etwa 2 %, um dann bis zum 50. Lebensjahr auf 1 % zurückzugehen. 3 Der ganz überwiegende Teil der im Jugendalter episodenhaft auftretenden Delinquenz ist dabei eher der sog. Bagatellkriminalität zuzuordnen; Straftaten mittlerer Schwere oder darüber werden eher selten begangen.[5] Die Erscheinungsformen der „normalen“ Jugendkriminalität lassen sich aus den einschlägigen Statistiken herauslesen. Typische Jugenddelikte sind einfacher Diebstahl, insb. Ladendiebstahl, schwerer Diebstahl (Automaten- und Kfz-Diebstahl), einfache und schwere, insb. gemeinschaftliche Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Schwarzfahren, Verkehrsdelikte (Fahren ohne Fahrerlaubnis, Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz)[6] und Sachbeschädigung (Graffiti, Vandalismus).[7] Hinzu kommen die sog. „Abziehdelikte“, bei denen Statussymbole bzw. Prestigeobjekte, insb. Handys oder Mützen, Jacken oder Turnschuhe angesehener Hersteller von Gleichaltrigen durch Anwendung oder Androhung von Gewalt weggenommen oder heraus verlangt werden.[8] Zugenommen haben zuletzt Ermittlungsverfahren gegen Jugendliche wegen im Internet und den sozialen Netzwerken begangenen Beleidigungs-, Nachstellungs- oder Verbreitungsdelikten (sog. Cyberbullying, Cybergrooming, Cyberstalking und Sexting[9]). Beim Verbreiten kinder- und jugendpornografischer Schriften (§§ 184b und 184c StGB) stellen Jugendliche und Heranwachsende statistisch inzwischen die größte Tätergruppe, wobei oft selbst gefertigte Fotos oder Videos in Unkenntnis der strafrechtlichen Problematik weitergegeben oder -verbreitet werden.[10] Auch sind in den vergangenen Jahren vor allem islamische Jugendliche und Heranwachsende – fasziniert von der Gewaltpropaganda des sog. „Islamischen Staats“ – häufiger als Mitglieder oder Unterstützer terroristischer Vereinigungen (insb. nach §§ 129a, 129b StGB) in Erscheinung getreten.[11] Deliktsunabhängig zeichnen sich von Jugendlichen und Heranwachsenden begangene Straftaten dadurch aus, dass sie oft in einer Gruppe oder aus einem Gruppenzusammenhang heraus, in öffentlichen Räumen und spontan bzw. ungeplant oder unorganisiert begangen werden.[12] 4 Diese allgemein anerkannten, auch in den einschlägigen Kommentaren berücksichtigten und von der Rechtsprechung durchaus erkannten und vor allem in der Diversionspraxis verarbeiteten kriminologischen Erkenntnisse sind heute, trotz aller Bewertungen im Einzelnen, unbestritten;[13] sie werden durch die Polizei- und Rechtspflegestatistiken zu den Tatverdächtigen- bzw. Verurteiltenzahlen[14] belegt. Jeder Einzelne wird, wenn er sich ohne Verdrängung an seine eigene Jugend oder an Erlebnisse mit Jugendlichen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis erinnert, dies aus eigener Erfahrung bestätigen können. Die Polizei- und Rechtspflegestatistiken erfassen natürlich nur das „Hellfeld“, also die ermittelten Straftaten. Davon sind aber bereits 15-20 % aller jungen Menschen erfasst. Dabei hat die Dunkelfeldforschung ergeben, dass nur ein geringer Teil der von jungen Tätern begangenen Straftaten entdeckt wird.[15] Aber auch die Dunkelfeldforschung bestätigt die oben dargestellten Erkenntnisse zur Überrepräsentation von Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen bei der Straftatbegehung im Vergleich zu den übrigen Altersgruppen, die Abnahme der Straftaten mit zunehmendem Alter und zur überwiegenden Begehung von Bagatellkriminalität oder jedenfalls solcher unterhalb von Straftaten mittlerer Schwere.[16] 5 Würde man diese Erkenntnisse ernst nehmen, bestünde unabhängig von der Streitfrage, ob Erziehen durch Strafen überhaupt möglich oder sinnvoll ist, eigentlich überhaupt kein Grund, auf Jugenddelinquenz mit den Mitteln des Jugendstrafrechts zu reagieren. Nicht überführte und nicht bestrafte junge Menschen führen regelmäßig später ein ebenso geordnetes Leben wie diejenigen, die aus Anlass von Straftaten im Jugendstrafverfahren ermittelt und sanktioniert worden sind. Zumindest die üblichen Jugendstraftaten belegen nicht einmal eine gesteigerte Erziehungsbedürftigkeit. Wenn dennoch reagiert wird, und sei es auch nur durch die oft bereits sehr beeindruckende Einleitung des Verfahrens (polizeiliche Vernehmung, Reaktion der Eltern und des Umfelds), dann ist dies pädagogisch nur erklärbar durch die Sorge, dass die jungen Menschen es als Gleichgültigkeit oder Inkonsequenz missverstehen würden, wenn die Verletzung von Strafrechtsnormen völlig folgenlos bliebe. Sinn der Sanktion ist dann also lediglich die Normverdeutlichung.[17] Die Jugendkriminalität muss gegenüber besorgten oder entsetzten Eltern ebenso entdramatisiert werden wie gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld. Es gilt der Leitsatz „weniger ist mehr“. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität jugendstrafrechtlicher Reaktionen muss strikt beachtet werden.[18] Diese Schlussfolgerung zieht auch der Gesetzgeber, vor allem in § 5 JGG (Subsidiaritätsgrundsatz), §§ 45, 47 JGG (Vorrang der informellen Erledigung durch Diversion) und §§ 71, 72 JGG (Vorrang der Haftvermeidung vor Untersuchungshaft). Diese Grundsätze hat der Verteidiger deshalb immer wieder in Erinnerung zu rufen.[19] 6 Diese Erkenntnisse passen allerdings nicht für die etwa 5 % ausmachende Gruppe junger Menschen, die wiederholt und oft auch sehr intensiv Straftaten begehen und auf deren Konto sich 30–50 % der entdeckten Straftaten und dabei zumeist die schwereren Straftaten, insb. auch Gewaltdelikte, zurückführen lassen.[20] So wünschenswert es wäre, über Kriterien zu verfügen, um schon nach den ersten Straftaten zu erkennen, wer zu dieser Gruppe gehört, um dann mit geeigneten erzieherischen Mitteln den sich anbahnenden kriminellen Karrieren vorzubeugen, ist es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelungen, hierfür taugliche Maßstäbe herauszufinden. Thesen, dass Schwierigkeiten im Sozialisationsprozess (fehlende familiäre Aufmerksamkeit, Schulprobleme, Wegfall von Bezugspersonen)[21] oder die Kontraproduktivität erlittener freiheitsentziehender Reaktionen dazu führen, dass der Jugendliche später zur Gruppe der mehrfach Auffälligen, sog. „Intensivtäter“ gehört, haben sich nicht bestätigt. Übrig geblieben ist eine aus praktischer Erfahrung gewonnene Faustregel: Wer mehr als fünfmal auffällig wurde, kann zu dieser Gruppe gerechnet werden. Das bedeutet aber umgekehrt: Bei bis zu vier Registrierungen darf man von den Grundsätzen der Normalität und Episodenhaftigkeit des Straffälligwerdens ausgehen.[22] Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass auch in dieser Gruppe der unvermittelte – also nicht sanktions- oder eingriffsbedingte – Rückgang der Kriminalität zu beobachten ist; auch dort ist die Delinquenz also überwiegend „passager“ bzw. episodenhaft.[23] 7 Angesichts dieser Befunde hat sich die jugendkriminologische Forschung immer nachdrücklich gegen regelmäßig wiederkehrende Forderungen gewandt, wegen der angeblich zunehmenden und immer...


Der Autor: Dr. Toralf Nöding ist Rechtsanwalt in Berlin mit Schwerpunkt Strafrecht. Er ist seit vielen Jahren als Referent in der Aus- und Fortbildung von Strafverteidigern tätig. Er ist Lehrbeauftragter der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin.


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