Obinger / Rieger | Wohlfahrtsstaatlichkeit in entwickelten Demokratien | Buch | 978-3-593-38918-9 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 20, 645 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 219 mm, Gewicht: 869 g

Reihe: Schriften des Zentrums für Sozialpolitik Bremen

Obinger / Rieger

Wohlfahrtsstaatlichkeit in entwickelten Demokratien

Herausforderungen, Reformen und Perspektiven

Buch, Deutsch, Band 20, 645 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 219 mm, Gewicht: 869 g

Reihe: Schriften des Zentrums für Sozialpolitik Bremen

ISBN: 978-3-593-38918-9
Verlag: Campus Verlag GmbH


Der Wohlfahrtsstaat, seit 1945 als Errungenschaft der Demokratie gefeiert, ist heute nicht mehr selbstverständlich. Wird er dem demografischen Wandel und der globalen Standortkonkurrenz standhalten können? Oder sind seine finanziellen Sicherungssysteme schon zu weit untergraben? Gegen den Trend betonen die Autoren des Bandes die Leistungsfähigkeit der Sozialpolitik im nationalen und globalen Rahmen. Sie zeigen die Grundlagen sozialpolitischen Fortschritts auf und benennen die wichtigsten Faktoren wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung.
Obinger / Rieger Wohlfahrtsstaatlichkeit in entwickelten Demokratien jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Inhalt

Vorwort 9

Wohlfahrtsstaaten in entwickelten Demokratien:

Eine Einleitung
Elmar Rieger, Herbert Obinger 11

Vom Detail her denken
Dieter Wolf 23

Demokratie und Sozialpolitik in Athen:

Anmerkungen zu einem Grundproblem der Theorie des
Wohlfahrtsstaates
Elmar Rieger 35

Risikoabsicherung und Solidarität:

Bismarck, Lohmann und die Konflikte um die gesetzliche
Krankenversicherung in ihrer Entstehungsphase
Florian Tennstedt 65

Humanvermögen: Eine neue Kategorie der Sozialstaatstheorie
Franz-Xaver Kaufmann 95

Zur Sicherung von Gesundheit
als individuelles, öffentliches und betriebliches
produktives Potenzial
Rainer Müller 119

Flexible Markets, Stable Societies?
Wolfgang Streeck 137

Legitimationen der Sozialpolitik
Frank Nullmeier, Stephan Köppe, Jonas Friedrich 151

Ethnische Diversität und wohlfahrtspolitische Legitimation
in Europa
Steffen Mau, Christoph Burkhardt 191

Wesen und Effekte von Wohlfahrtsstaaten:

Eine Analyse programmspezifischer Sozialausgaben
Francis G. Castles 217

Wohlfahrtsstaatstransformationen in vergleichender Perspektive:
Grenzverschiebungen zwischen "Öffentlich" und "Privat"
Martin Seeleib-Kaiser 241

The Nordic Model: Ambiguous, but Useful Concept
Stein Kuhnle 275

Die "Politik des mittleren Weges" im vereinten Deutschland
Manfred G. Schmidt 295

Abschied vom Maternalismus? Zur sozialpolitischen
Neujustierung des Verhältnisses zwischen Familie
und Gesellschaft im "konservativen" deutschen Wohlfahrtsstaat
Ilona Ostner 319

Sozialpolitische Bilanz der Großen Koalition in Österreich
Herbert Obinger 347

The French Welfare Reform Trajectory:
from Keynesian to Supply-side Social Policies
Bruno Palier 375

Vom Wohlfahrtsstaat zu Wohlfahrtsregionen:
Europäische Entwicklungen und italienische Experimente
Maurizio Ferrera 395

Nach der Reform ist vor der Reform: Langfristige Reformfähigkeit
am Beispiel der Sozialpolitik in Neuseeland und der Schweiz
Julia Moser, Peter Starke 429

Der Staat und seine Diener: Metamorphosen eines
wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungsmodells
Karin Gottschall 461

What Transfers from Parents Contribute to the Economic
Well-Being of Adult Children
Martin Kohli, Harald Künemund, Jörg Lüdicke 493

Von negativer zu positiver Integration? Veränderungen
in der europäischen Gesundheitspolitik am Beispiel der
Patientenmobilität
Heinz Rothgang, Ralf Götze 517

Zwischen Armutsvermeidung und Aktivierung:
Sozialhilfesysteme in westlichen Ländern
Petra Buhr 545

Die Entstehung globaler Sozialpolitik: Sozialhilfe als Testfall
Lutz Leisering 577

Metamorphosen des Staates:
Vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager
Philipp Genschel, Bernhard Zangl 611

Autorinnen und Autoren 643


Wohlfahrtsstaaten in entwickelten Demokratien: Eine Einleitung
Elmar Rieger, Herbert Obinger

Die sozialwissenschaftliche Forschung und Theoriebildung war schon immer mit dem Problem konfrontiert, dass ihr Stoff einem fortwährendem Wandel unterworfen ist. Wie die Beiträge in diesem Band zeigen, ist die Beschäftigung mit dem Wohlfahrtsstaat keine Ausnahme von dieser Regel. Vergleichende und historische Untersuchungen des Wohlfahrtsstaates zeigen nicht nur oft sehr unterschiedliche institutionelle Formen und - damit eng verbunden - andere Wirkungen auf Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch eine jeweils andere Gestalt langfristiger Entwicklungsdynamik und andere Struktur des politischen Handlungsspielraums (Rieger 1992; Pierson 1993, 1996). Mit der Veränderung wohlfahrtsstaatlicher Realitäten haben sich aber auch die Gesichtspunkte und damit die Begriffe ihrer sozialwissenschaftlichen Analyse und Interpretation verändert. Wohlfahrtsstaatliche Sachverhalte erhalten ihren Sinn durch die Gesichtspunkte, die an sie herangetragen werden. Sie tragen diese Gesichtspunkte nicht in sich (Weber 1956). Gesichtspunkte bzw. Begriffe sind allerdings immer nur Festlegungen einer "Theorie", die als solche keiner empirischen Überprüfung zugänglich sind. Je nach Zeitumstand und Problemlage sind es immer wieder andere Momente und Dimensionen des Wohlfahrtsstaates, die unter dem Druck aktueller Ereignisse und Entwicklungen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Entsprechend verändert sich nicht nur die Theorie des Wohlfahrtsstaates, sondern auch seine Geschichtsschreibung. Gerade aber weil diese Gesichtpunkte dem sozialpolitischen Material äußerlich sind, verändert sich nicht nur der aktuelle Bezugsrahmen der Analyse, sondern es verändert sich auch die historische Wahrnehmung und die Schwerpunkte der Beschreibung wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen. Es ist deshalb oft schwer zu entscheiden, welche Veränderungen in der Sozialpolitik auf das Konto von Anpassungen und Korrekturen gehen, die ihrer Funktionsfähigkeit geschuldet sind, welche auf das Konto eines institutionenpolitischen Kurswechsels gehen, und welche auf das einer veränderten Wahrnehmung und Problemsicht. Dieser Punkt gilt besonders für das Verhältnis des Wohlfahrtsstaates zur Marktwirtschaft.
Der Kern der historisch-vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung war die Frage nach der Entstehung und Entwicklung von Sozialpolitik im Spannungsfeld von Industrialisierung, Nationalstaatsbildung und der Ausweitung politischer Partizipation. In jeder dieser Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklung gewannen sozialpolitische Institutionen eigenes Gewicht und eigene Bedeutung, und in jeder dieser Dimensionen wirkten sie auf die jeweilige Umwelt zurück, veränderten diese und schufen sich zunehmend selbst erzeugte Existenz- und Funktionsbedingungen. Die kulturelle Dimension der Sozialpolitik, also die Deutungsmuster sozialer Risiken und die gesellschaftlich bedingten Veränderungen des Umgangs mit ihnen, blieben vergleichsweise lange unterbelichtet (Ewald 1993). Die traditionelle Wohlfahrtsstaatsforschung konnte noch ganz selbstverständlich von der Prägekraft der industriegesellschaftlichen Entwicklung für den Verlauf und die Ausformung wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung ausgehen (Wilensky/
Lebeaux 1958; Rimlinger 1971; Ashford 1986; Swaan 1988; Baldwin 1990). Nach diesem Grundverständnis ist der moderne Wohlfahrtstaat unmittelbar und untrennbar mit der Industriegesellschaft verbunden. Deren konstitutiven Merkmale - die Trennung von Haushalt und Betrieb, die Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln und, damit eng zusammenhängend, das Institut der freien Lohnarbeit - schufen neue Formen wirtschaftlicher Existenzgefährdung und sozialer Unsicherheit, auf die der Staat in Form von Sozialpolitik reagierte.
Mit der Schaffung eines gleichen Bürgerrechts, in dessen Mittelpunkt das Eigentums- und Vertragsrecht steht, wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, die in die Institutionalisierung sozialer Bürgerrechte mündete (Marshall 1992). Über die Ausdehnung der politischen Rechte auf Gruppen, die vom Wahlrecht und von parlamentarischer Repräsentation ausgeschlossen waren, wurde schließlich auch die formale Gleichheit um Elemente einer materiellen Gleichstellung in Form von rechtlich garantierten Ansprüchen auf staatliche Transfers und Dienstleistungen ergänzt. Dieses materielle Element kam deshalb ins Spiel, weil für die neuen Schichten besitzloser Lohnarbeiter mit der persönlichen Unabhängigkeit, die ihnen die bürgerlichen Freiheitsrechte brachten, eine gesteigerte wirtschaftliche Unsicherheit einherging (Wieacker 1974). Für diese Gruppen war die betrieblich verwertbare Arbeitsleistung die einzige Einkommensquelle. Rentenzahlungen bei Invalidität und im Alter, Einkommensersatz bei Krankheit und Arbeitslosigkeit, kostenloser Zugang zu den Einrichtungen des Bildungswesens und der niederen und hohen Gerichtsbarkeit wurden zu rechtsförmigen Leistungen, mittels deren eine vollständigere Mitgliedschaft in der Gesellschaft erreicht werden soll. Nationen- und Wohlfahrtstaatsbildung sind in dieser Perspektive unmittelbar miteinander verknüpft. Die geographisch-soziale Integration der Bevölkerung eines bestimmten Territoriums wird über die Ausdifferenzierung des Staatsbürgerstatus bewerkstelligt. Diese Ausdifferenzierung ist die Antwort auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft, deren soziale und politische Strukturen vom Konflikt zwischen Arbeit und Kapital geprägt werden.
Die Bedeutung der Staats- und Nationenbildung für die Entstehung und Entwicklung sozialpolitischer Institutionen wurde in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen in der Forschung thematisiert. Die erste konzentrierte sich auf die Möglichkeiten, Sozialpolitik als Mittel der Loyalitätsgewinnung und Loyalitätssteigerung einzusetzen, um auf diesem Weg dem politischen Verband Legitimität zu sichern (vor allem Bendix 1960). Eine zweite Richtung untersucht die politische Dynamik, die aus dem Zusammentreffen von industriewirtschaftlicher Transformation und der Herausbildung einer liberalen Gesellschaft resultiert (Polanyi 1944/1977).
Die erste Untersuchungsrichtung ging von der These aus, politische
Eliten verfolgten im Rahmen von Sozialpolitik das Ziel, gesellschaftliche Gruppen in den nationalen Verband zu integrieren und damit Loyalität gegenüber dem politischen System zu erzeugen. Paradigmatisch wurden dafür die Bismarckschen Arbeiterversicherungen. Sie waren auch von Bismarck selbst ausdrücklich dafür gedacht, die Unterstützung der Industriearbeiterschaft für Gewerkschaften und Sozialdemokratie zu untergraben und Loyalität gegenüber dem politischen System des Kaiserreichs zu erzeugen. Bismarck sprach dieses Motiv in seiner Reichstagsrede vom 18. Mai 1889 in aller wünschbaren Deutlichkeit an:
"Ich habe lange genug in Frankreich gelebt um zu wissen, dass die Anhänglichkeit der meisten Franzosen an die Regierung, die gerade da ist, [.] aber doch schließlich auch die an das Land, wesentlich damit in Verbindung steht, dass die meisten Franzosen Rentenempfänger vom Staate sind in kleinen, oft sehr kleinen Beträgen [.]. Wenn wir 700 000 Rentner, die vom Reiche ihre Rente beziehen, haben, gerade in diesen Klassen, die sonst nicht viel zu verlieren haben und bei einer Veränderung irrtümlich glauben, dass sie viel gewinnen können, so halte ich das für einen außerordentlichen Vorteil; wenn sie auch nur 115 bis 200 Mark zu verlieren haben, so erhält sie doch das Metall in ihrer Schwimmkraft; es mag noch so gering sein, es hält sie aufrecht [.]. Und ich glaube, dass, wenn Sie uns diese Wohltat von mehr als einer halben Million kleinen Rentnern im Reiche schaffen können, Sie [.] auch den gemeinen Mann das Reich als eine wohltätige Einrichtung anzusehen lehren werden" (zit. nach Born 1957: 24).
Wird diese Motivation politisch dominant und wird diese Art von Sozialpolitik strukturprägend, dann ist eine hochgradig fragmentiert-klientelistische Struktur des Wohlfahrtsstaates zu erwarten. Sozialpolitische Initiativen sind dann weniger eine Reaktion auf sozialstrukturelle Gefährdungslagen von Teilen der Bevölkerung, sondern Bemühungen, bereits fest geformte und handlungsfähige Gruppen an das politische System zu binden. Welche Gruppen zu welchem Zeitpunkt über sozialpolitische Mittel in politische Herrschaftssysteme eingebunden werden, ist eine Funktion ihrer strategischen Position in der Gesellschaft. Sozialpolitik ist dabei weniger ein Mittel wirtschaftlicher Subsistenzsicherung, als ein Instrument, den sozialen Status der Mitglieder einer sozialen Gruppe über ihre positive Privilegierung zu sichern. Die unterschiedliche sozialpolitische Behandlung von Bergarbeitern und Landarbeitern, von Industriearbeitern und Angestellten und schließlich von Beamten in der Geschichte der deutschen Sozialversicherungspolitik ist paradigmatisch für dieses Entwicklungs- und Formungsmodell des Wohlfahrtsstaates.
Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates und die Ausbildung unterschiedlicher Entwicklungspfade waren immer auch eine Frage politischer Macht. Die Möglichkeit der Eroberung von Staatsmacht und der Einsatz staatlicher Machtmittel sind in dieser Perspektive die entscheidenden Faktoren, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen erklären (Korpi 1978; Esping-Andersen 1985). Je größer die politischen Partizipationsschancen der Lohnarbeiterschaft über die Senkung der Hürden des Wahlrechts wurden, desto wahrscheinlicher wurde auch die Umsetzung des numerischen (Über-)Gewichts dieser Bevölkerungsgruppen gegenüber den landbesitzenden und besitzbürgerlichen Schichten. Die Eroberung von Staatsmacht entweder in Form von Parlamentssitzen oder durch die Übernahme der Regierung durch die Vertreter der Arbeiterbewegung wird von diesen dazu benutzt, Arbeiterschutzgesetze und Sozialversicherungen durchzusetzen. Diese Theorierichtung sieht wohlfahrtsstaatliche Fortschritte als Resultat erfolgreicher politischer Organisierung und Mobilisierung der Lohnarbeiterschaft. Der Ausbau politischer Machtpositionen sozialistischer oder sozialdemokratischer Parteien ist dabei nicht eine zwangsläufige Folge des numerischen Wachstums lohnabhängiger Schichten der Bevölkerung, und ist auch kein in der Logik der Nationenbildung gegründeter Begleitumstand sozialer Integration, sondern ist eine eigenständige Größe. Der Organisationsgrad und die Organisationsgeschlossenheit von Arbeiterparteien bestimmen die Machtressourcen lohnabhängiger Schichten, und diese wiederum übersetzen sich in eine entsprechende Sozialpolitik des Staates. Politische, sich gegenseitig bekämpfende Spaltungen der Arbeiterbewegung in unterschiedliche Richtungsgewerkschaften und in verschiedene Spielarten des Sozialismus und Kommunismus sind dabei neben den Koalitionsmöglichkeiten bzw. der Parteienkonkurrenz mit konservativen Parteien die zentralen Variablen der Erklärung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen.


Obinger, Herbert
Herbert Obinger ist Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen.

Rieger, Elmar
Elmar Rieger ist Professor am Institut für Soziologie an der Universität Bamberg.

Elmar Rieger ist Professor am Institut für Soziologie an der Universität Bamberg, Herbert Obinger ist Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.