Oden | Junktown | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Oden Junktown

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-19717-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-641-19717-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Abstinenz ist Hochverrat!

Diese Zukunft ist ein Schlaraffenland: Konsum ist Pflicht, Rauschmittel werden vom Staat verabreicht, und Beamte achten darauf, dass ja keine Langeweile aufkommt. Die Wirklichkeit in »Junktown«, wie die Hauptstadt nur noch genannt wird, sieht anders aus. Eine eiserne Diktatur hält die Menschen im kollektiven Drogenwahn, dem sich niemand entziehen darf, und Biotech-Maschinen beherrschen den Alltag. Als Solomon Cain, Inspektor der Geheimen Maschinenpolizei, zum Tatort eines Mordes gerufen wird, ahnt er noch nicht, dass dieser Fall ihn in die Abgründe von Junktown und an die Grenzen seines Gewissens führen wird. Denn was bleibt vom Menschen, wenn der Tod nur der letzte große Kick ist?
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1

Die Sonne hievte sich über den Horizont und schien nieder auf ein Junktown, das den Morgen so teilnahmslos über sich ergehen ließ wie eine Cracknutte den letzten Freier nach einer viel zu geschäftigen Nacht. Dunkel ging über in Hell, ohne dass sich die Leblosigkeit der einen Tageshälfte von jener der anderen unterschieden hätte. In der Nördlichen Industriebrache bretterte Solomon Cain auf seinem Adrenalinchopper durch eines der vielen Gewerbegebiete der Stadt, die bereits vor Jahren den Tod konjunktureller Unterkühlung gestorben waren und nun tagein, tagaus unter einem gleichmütigen Himmel vor sich hinrotteten. Von Sandstürmen angenagte Schlote reckten sich windschief ins fahle Firmament, die rotbraun oxidierten Tanks und Förderbänder zu ihren Füßen wirkten wie ein Stillleben, das ein manisch-depressiver Künstler arrangiert hatte. Ein gutes Dutzend Morphin-Silos lag, zusammengebrochen unter der Wucht der Jahre, wirr durcheinandergetürmt wie gigantische Kegel, die niemand mehr aufstellen würde, und über einer zerplatzten Bitumenauffahrt schwappte an quietschenden Ketten ein ausgeblichenes KRAFT DURCH KONSUM-Banner in der Morgenbrise hin und her.

Cain war froh, das Elend nur undeutlich wahrzunehmen.

Die drei Zäpfchen, die er sich vor Dienstantritt in den Mastdarm geschoben hatte, fingen an, ihre Wirkung zu tun: 900 Milligramm Tramadol schwemmten seine Blutgefäße. An den Rändern zerlief seine Sicht wie die Farben auf der Palette eines Malers, und er musste die Augen zusammenkneifen, um mit seinem schummrigen Tunnelblick die Schlaglöcher rechtzeitig zu erkennen. So konnte er sich wenigstens auf die Stöße vorbereiten, denn an Ausweichen war nicht zu denken: Cain wusste aus leidvoller Erfahrung, dass er unter Tramadoleinfluss seiner Auge-Hand-Koordination so viel Vertrauen schenken sollte wie einem verschuldeten Meth-Dealer. Wenn er erst mal damit anfing, um die Schlaglöcher herumzulenken, würde seine Fahrt sehr schnell in einer der Fabrikmauern enden, von denen er wusste, dass sie sich hinter den graubraunen Schlieren zur Linken und Rechten seines Blickfelds verbargen.

Aus dem Limbus seiner Wahrnehmung erschien ein weiteres Schlagloch, raste ihm entgegen, eine Monstrosität des Asphalts, deren unheilvolle Annäherung er ebenso schicksalsergeben wie angespannt zur Kenntnis nahm. Das Weiß seiner Knöchel wurde noch ein bisschen weißer, als er den Griff um den Lenker verstärkte. Der dunkel gähnende Schlund kam näher, kam näher und – Ka-zang! – war er hindurch und darüber hinweg.

Schweiß legte sich wie ein eiskalter Quecksilberpanzer um seine Schultern, rann das Rückgrat hinab, durchnässte seine Dederon-Unterhose und versickerte zwischen seinen Arschbacken. Abwärtsspirale, dachte er, das Leben ist eine beschissene Abwärtsspirale. Hätte er sich nicht die Zäpfchen reingedrückt, hätte er den Schlaglöchern ausweichen können, würde sein Steiß nicht schmerzen, würde sein Schließmuskel nicht im körpereigenen Kondenswasser schwimmen. Hätte, hätte, würde, würde – die Poesie der Fatalisten, dachte Cain, und er war einer ihrer Meister, ein ganz Großer, ein lamentierender Dichterfürst mit einer nassen Rosette.

Ka-zang.

Die Leiche wartete direkt hinter den stillgelegten Heroinfabriken auf ihn.

Cain fuhr durch das Geländetor auf sie zu, ihr massiger Leib zeichnete sich dunkel gegen den Himmel ab. Lang und hoch wie ein Häuserblock war sie, ganz brauner Stahl, die Signalleuchten an ihrer Flanke erloschen. Oben auf der Gangway des ersten Stocks tauchte aus den Farbschlieren ein fettiger Klecks auf, eilte die Steigleiter hinab und auf Cain zu.

Es war Wachtmeister Zachäus Brom, und er walzte durch den Morgen wie eine Dampframme. Cain stellte sein Krad ab und seufzte.

»Ah, die Gemapo!« Broms Stimme war der tonale Zwillingsbruder seiner Erscheinung: ungeschlacht und schwer zu ignorieren. »Immer wieder eine Freude, die Kollegen zu sehen! Vor allem am Wochenende, fleißig, fleißig.« Er steckte die Daumen in den Gürtel, wippte auf den Absätzen und musterte Cain mit impertinenter Amüsiertheit.

»Was ist hier los?« Cain wedelte mit der linken Hand in Richtung Brutmutter, ohne Brom eines Blickes zu würdigen. Der Wachtmeister der Bedarfspolizei war ein Kotzbrocken in Uniform, fantasielos bis zum Abwinken, selbst wenn man ihn bis zu den Augäpfeln mit Dope vollpumpen würde. Es passte ins Bild, dass er hässlich war wie die Nacht. Unter einem pomadisierten Haarkissen kämpften ein schiefes Augenpaar, eine mitesserzerpolkte Nase und die grobschlächtigen Lippen verbissen um den Titel des missratensten Körperteils – nur um von der fassförmigen Leibesmitte klar auf die Plätze verwiesen zu werden. Zwei viel zu kleine Füße rundeten alles auf eine zwar lächerliche, aber durchaus konsequente Art ab.

Cain kannte die Akte von Brom. Ein mies gelauntes Schicksal wollte es, dass er immer wieder mit ihm zusammenarbeiten musste, und irgendwann hatte er sie sich kommen lassen, nur um zu wissen, wer ihm da regelmäßig den letzten Nerv raubte. Brom war, so hieß es in den Unterlagen, maximal für den mittleren Dienst geeignetes Genmaterial mit teilweise deutlich ausgeprägten Defiziten im Humankontakt. Von Verwendung in eigenverantwortlichen Arbeitsprozessen ist abzusehen. Selten hatte sich Cain einer Dienststelle so verbunden gefühlt wie beim Lesen dieser Zeilen. Das eigentliche Problem war nur: Brom hatte von seiner Unzulänglichkeit keine Ahnung. Und aus irgendeinem Cain schleierhaften Grund neigte Brom dazu, jede ihrer Begegnungen mit der Theatralik eines gönnerhaften Vorgesetzten zu beginnen.

»Der gute alte Adrenalinchopper!«, startete Brom einen zweiten Versuch, Herablassung mit Small Talk zu verbinden, und tätschelte Cains Krad. »Immer noch nicht befördert worden, was? Hab gehört, die Gemapo hat jetzt für Hauptinspektoren welche mit Amphetaminmotor. Die gehen ab wie Zäpfchen.«

Zäpfchen. Cains Unterhose klebte plötzlich noch ein bisschen klammer an den Backen, aber er schluckte seine Antwort hinunter. Heute Morgen hatte er sich selbst im Spiegel seines Bads gesehen: ein Mittfünfziger mit ergrauten Haaren und jener Art von Falten, die zu wenig Schlaf und zu viel Drogen gruben. Und jetzt gerade fühlte er sich noch fertiger, als er aussah. Aber so weit, dass er sich von Brom würde provozieren lassen, so weit war er dann doch noch nicht. Unsicheren Schritts wankte er in Richtung Brutmutter und steckte die Hände in die Taschen seines stahlgrauen Uniformmantels. »Also, was ist hier los?«, wiederholte er seine Frage.

Brom, der sich nach zwei gescheiterten Gesprächsversuchen schließlich doch seines niedrigeren Dienstrangs besann, zuckte mit den Schultern. »Bislang ungeklärter Maschinenexitus. Meldung kam gegen halb sechs Uhr morgens. Bin gleich los, und als ich gesehen habe, dass die Leiche ein HMW ist, hab ich bei euch Jungs durchgerufen.«

Natürlich hast du das, dachte Cain. Dienstvorschrift ist Dienstvorschrift, und ein Höheres Maschinenwesen, das ist so weit über deiner Zuständigkeit, dass du dein Hirn sofort wieder in den Dämmermodus zurückgeschaltet hast. Andererseits: Was hätte ein mitdenkender Brom schon für einen Beitrag leisten können?

Cains Blick zitterte von der toten Brutmutter hinaus aufs Gelände. Ein hoher, engmaschiger Drahtzaun umgab das Areal, darauf dichte Wolken Stacheldraht als Übersteigschutz. Ein gedrungenes Gebäude, ein Transformator- oder Wartungsschuppen vielleicht, in der vorderen linken Ecke. Auf der anderen Seite glaubte er, eine Pumpstation ausmachen zu können. Er ging ein paar Schritte, bis er an der Brutmutter vorbeischauen konnte. Vierhundert Meter bis zum Zaun, schätzte er, und da, am anderen Ende, da reckten sich noch eine Handvoll weiterer Maschinenkörper in den Himmel.

»Sind das auch Brutmütter?«, fragte er, während er die Augen gegen die Morgensonne abschirmte und vergeblich versuchte, die Kolosse näher zu bestimmen.

Brom, der ihm gefolgt war, grunzte zustimmend. »Sechs an der Zahl. Und ein Brutpfleger.«

»Sind die etwa auch …?«

»Schlafen.«

»Wenigstens etwas.« Cain nahm die Hand wieder runter und wandte sich um. »Was ist das hier überhaupt? Eine illegale Brutstätte? Ich hab kein Firmenschild am Eingang gesehen.«

»Gehört alles Pregnantam. Nutzen die als Reserve, wenn die Gebärhöfe überfüllt sind. Ist hier zwar verkackt hässlich, aber die Grundstückspreise sind kaum zu unterbieten – wer will schon in die Nördliche Industriebrache? Und mit den Brutmüttern können sie’s ja machen.«

»Hm. Pregnantam weiß Bescheid?«

»Sind auf dem Weg.«

»Und der Mechapathologe?«

»Müsste jeden Moment hier sein.«

Pregnantam. Cain kramte in seinem Hirn nach dem, was er über den Laden wusste. Viel war es nicht. Ein Gebärkonzern mittlerer Größe, Hauptsitz hier in Junktown. Eines der Unternehmen, die Generation um Generation neuer Staatsbürger ins Land pressten, Junkies für die Partei, maßgeschneidert und nach den Vorgaben des Fünfjahresplans. Bislang hatte er nicht mit Pregnantam zu tun gehabt, aber – der Tunnelblick inspizierte den stählernen Leib vor ihm – das würde sich nun ganz sicher ändern. »Verdammt jung«, sagte er.

»Was?« Brom betrachtete abwesend Cains Chopper.

»Holen Sie das Absperrband und sperren Sie die Umgebung ab, weiträumig. Jetzt ist es« – Cain bemühte sich, die Zeigerstellung auf seiner hervorgeholten Taschenuhr zu erkennen – »sieben. In spätestens einer halben Stunde werden die ersten Brutmütter ihre morgendlichen Krämpfe bekommen und...


Oden, Matthias
Matthias Oden hat Geschichte, Politikwissenschaft und Ethnologie studiert. Er war als Chefredakteur von mehreren Wirtschaftsmedien tätig sowie als Berater für Markenkommunikation. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. Sein Debütroman »Junktown« eregte bereits Aufsehen und war für den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert. Mit »Die Krone der Elemente« und »Der Krieg der Elemente« hat er sein großes Fantasy-Epos vorgelegt. Matthias Oden lebt mit seiner Familie in München.



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