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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Off Nichts wird sich niemals nirgendwo ändern

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95575-611-6
Verlag: Ventil Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-95575-611-6
Verlag: Ventil Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Sterben im Mittelmeer und in der Wüste, der Rechtsruck in vielen Staaten – vier zornige junge Menschen wollen diesem Wahnsinn nicht länger zusehen und entschließen sich, die Weihnachtstanne auf der Hamburger Binnenalster in Brand zu stecken. Ein Unterfangen, das nicht nur für Herausforderungen in technischer Hinsicht sorgt, sondern auch für reichlich Diskussionsstoff in der Gruppe. Daneben regieren Eifersucht, Eitelkeit und Gier, denn natürlich unterliegen auch die Protagonisten dieses Buches dem ewigen Gesetz, das da lautet: Nichts wird sich niemals nirgendwo ändern.

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04.10. Sundermeier kränkelt immer noch. Ich stehle mich eine komplette halbe Stunde vor Feierabend davon, fahre eine Station, steige aus, nehme den nächsten Bus, fahre wieder eine Station und immer so weiter. Insgesamt decke ich so einen Zeitraum von 40 Minuten ab. Aber das Glück ist mir nicht hold. Vielleicht hat sie nach mir Feierabend. Nächste Woche werde ich es später versuchen. Wenigstens habe ich sie gestern und heute Morgen gesehen. Heute saß sie so nah bei mir, dass ich ein paar Zeilen in ihrem Roman mitlesen konnte. 2D 2S 06.10. Das Buch ist natürlich Schrott. Abstruse Phantasien eines kranken Geistes. Ich lese es dennoch sorgfältig zu Ende und zur Sicherheit noch ein paar Rezensionen im Netz. Kaum auf den üblichen Seiten unterwegs gewesen. Keinen einzigen Forenbeitrag verfasst. 2D 1S G20, letzter Teil: Meine Befürchtungen in Bezug auf die Stimmungslage sollten sich innerhalb kürzester Zeit bewahrheiten. In den Medien erhob sich ein Sturm der Entrüstung, wie ich ihn nur ein paar Wochen zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Ich hatte immer geglaubt, dass es eine Schnittmenge zwischen liberaler Öffentlichkeit und linksradikaler Bewegung geben würde, dass bei allem Unverständnis doch immer auch Respekt und manchmal gar (zumindest heimliche) Bewunderung im Spiel wären. Aber dem war, wie ich nun erkennen musste, ganz und gar nicht so. Die angenommene Verankerung in der Zivilgesellschaft existierte nicht. Stattdessen kamen Hass und Häme in einem Ausmaß zum Vorschein, das darauf schließen ließ, diese Empfindungen hätten schon lange darauf gelauert, sich endlich Bahn brechen zu dürfen. Sicher wäre es besser gewesen, wenn ich Fernsehen und Internet für ein paar Tage gemieden hätte. Aber das Gegenteil war der Fall. Zwanghaft las ich sämtliche Meldungen und Artikel, die mir unter die Augen kamen, sah eine Nachrichtensendung nach der anderen und so gut wie jede Talkshow, die sich dem Thema G20 widmete (und das waren in der ersten Woche nach den Ereignissen fast alle). Vor allem die Talkshows machten mir zu schaffen. Jeder durfte dort plötzlich unwidersprochen Linken-Bashing betreiben und nach Belieben Räuberpistolen verbreiten. Besonders dreist war in dieser Hinsicht ein am Einsatz beteiligter Zugführer der Bereitschaftspolizei, der mit der Behauptung aufwartete, die Krawallmacher hätten in der Schanze Gullydeckel entfernt und die dadurch entstandenen Löcher mit Stroh abgedeckt. So sich überhaupt jemand bereitfand, sich in diesem Format für linke Positionen einzusetzen, gar noch Verständnis für die Ausschreitungen zu äußern beziehungsweise nicht mit totaler Ablehnung zu reagieren, wurde er gnadenlos niedergebrüllt und als Terrorunterstützer oder hirnloser Phantast gebrandmarkt. Die Stimmung war derart aufgeheizt, dass einige meiner Bekannten nicht mehr aus dem Haus gingen oder nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Micha zum Beispiel, der mit seinen daumendicken Dreadlocks schon von Weitem als Zecke zu erkennen war. Auch ich hatte mehr als einmal das Gefühl, dass es in diesen Tagen schon genügte, schwarze Klamotten zu tragen, um schräg angeguckt zu werden. So bekundete beispielsweise der Kioskverkäufer, bei dem ich mir mindestens zweimal die Woche meine Kippen holte, allen Ernstes sein Erstaunen darüber, dass ich nicht verhaftet worden war. Und dabei lag kein Lächeln auf seinem Gesicht. Trost boten allein die Beiträge im Netz, die sich der Hexenjagd entgegenstemmten und zurecht darauf hinwiesen, dass die Empörung über den Sachschaden angesichts des Sterbens im Mittelmeer oder der Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte regelrecht zynisch war. Neben all dem Wahnsinn, diesem Zustand des In-die-Enge-gedrängt-Seins, der Wut auf die Mehrheitsgesellschaft und der Niedergeschlagenheit, die wiederum deren Wut auf mich und meinesgleichen hervorrief, blitzte aber immer auch ein anderes Gefühl auf, ein Gefühl des Unbehagens. Und zwar jedes Mal dann, wenn ich an die Ereignisse im Schanzenviertel zurückdachte, deren Zeuge ich geworden war. Zwar hatte es in den Stunden ohne staatliche Herrschaft keine Schwerverletzten oder gar Tote gegeben. Aber was das anging, war zweifelsohne auch Glück dabei gewesen. Denn eins ließ sich nicht leugnen: Unter Kontrolle hatten wir, hatte die linke Bewegung, in diesem Zeitraum nur wenig gehabt. Ein Anruf von Mascha, einer Freundin von der Uni. Ob ich eine Weile auf ihre beiden dschungarischen Zwerghamster aufpassen könne, sie hätte kurzfristig ein Auslandspraktikum angeboten bekommen, irgendein Renaturierungsprojekt in Griechenland. Mir fiel nichts ein, was dagegensprach. Sie kam mit Käfig, Streu und Futter vorbei und erklärte mir kurz, worauf ich zu achten hätte. Nichts Weltbewegendes. »Wie heißen sie denn?«, wollte ich wissen. »Charme und Anmut«, gab Mascha zur Antwort. »Wirklich?« »Ja, wirklich.« Sie lachte. »Und bevor du weiterfragst, es sind zwei Männchen.« Ich bot ihr an, einen Kaffee aufzusetzen, aber sie wollte gleich weiter, hatte vor dem Abflug noch reichlich zu tun. Als sie weg war, wurde mir bewusst, dass ich schon länger keinen Sex mehr gehabt hatte. Ich blickte auf die beiden Nager. Ob die wohl manchmal …? Homosexualität kam ja im Tierreich nicht selten vor. Seltsam eigentlich, dass Mascha lebende Geschöpfe im Käfig hielt. Sie gehörte zur Tierbefreiungsszene. Aber vielleicht hatte sie das Pärchen ja aus irgendeinem Labor. Ich hatte völlig vergessen, sie danach zu fragen, wie ich auch vergessen hatte, mich danach zu erkundigen, wer von den beiden Charme und wer Anmut war. Gönnerhaft schmiss ich eine Extra-Portion Bananenchips in die Futterschale. Zur Feier des Tages beziehungsweise auf ein gutes Zusammenleben. 10.10. Habe es bisher nicht geschafft, sie anzusprechen. Was vor allem daran liegt, dass ständig irgendwer neben ihr sitzt oder steht. Der scheiß Bus ist einfach zu voll. Immerhin hat sie mich vorgestern angelächelt, während sie sich an mir vorbei ins Innere gezwängt hat. Verhalten zwar, aber ein Lächeln bleibt ein Lächeln. Und ein Zögern bleibt ein Zögern. Ich muss langsam den Arsch hochkriegen. Habe Sorge, dass sie ihre Lektüre beendet, bevor wir ins Gespräch kommen. Sundermeier seit zwei Tagen wieder im Dienst. Unerträglicher denn je. 0,5D 1S 11.10. Freitag. Wieder kein Jagdglück. Aber das macht nichts, denn ich finde endlich heraus, wann sie zurückfährt. Ich wende dieselbe Methode an wie in der Vorwoche, diesmal allerdings nach Feierabend. Und an der dritten Haltestelle erwische ich sie tatsächlich. Was bedeutet, dass ich nicht länger als 30 Minuten warten muss, wenn ich sie nach der Arbeit noch einmal sehen möchte. (So sie freitags nicht früher nach Hause fährt als an anderen Tagen.) Ich bin dermaßen überrascht, dass mir erst auffällt, wie leer der Bus eigentlich ist, als sie bereits aussteigt. Aber auch das ist egal. Denn ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. 0,5D 2S 13.10. Ich nutze das Wochenende und lese zwei weitere Murakami, allerdings nur diagonal. Absurd, mit welchem Müll manche Menschen Millionen scheffeln. Zwischendurch versuche ich, ein bisschen verlorenes Terrain in den Foren zurückzuerobern, aber ich bin, wen wundert’s, nicht richtig bei der Sache. Morgen gilt es. 1D 2S 14.10. Ich verbringe den ganzen Tag in gespannter Erwartung. Aber als es dann so weit ist, geht alles ganz leicht. Nachdem ich das Firmengelände verlassen habe, spaziere ich ein bisschen durch die Gegend, bin aber überpünktlich an der Haltestelle. Sie ist drin. Sitzt links vorne am Fenster, neben sich einen freien Platz. Und als wäre das noch nicht genug des Glücks, hält sie das Buch in der Hand. Ich setze mich eine Reihe hinter sie auf den Gangplatz. »Vielleicht Murakamis humorvollstes Werk«, sage ich, als sie den Roman für einen Moment in den Schoß legt. Und zu meiner eigenen Überraschung klingt der Satz so, als ob ich ihn am Wochenende nicht hundertmal geübt hätte. »Ach, sie kennen Murakami?« Sie sieht mich freudig überrascht an. Nachdem ich das, sicher etwas zu enthusiastisch, bejahe, entspinnt sich tatsächlich ein Gespräch. Ich bin froh, dass ich mich vorbereitet habe. Denn wie sich zeigt, hat sie bereits ein halbes Dutzend Bücher aus der Feder dieses Halbaffen gelesen. Wir sind derart schnell auf einer Wellenlänge, dass ich mich, kurz vor meinem Ausstieg zu der Frage hinreißen lasse, ob sie Lust hätte, mit mir etwas trinken zu...


Jan Off war mal irgendwo und hat dort flüchtig jemanden kennengelernt, der beinahe was erlebt hätte. Dieses Ereignis wirkt bis heute nach. Im Ventil Verlag erschienen von ihm unter anderem die Titel "Vorkriegsjugend", "Ausschuss", "Angsterhaltende Maßnahmen", "Offenbarungseid"; "Unzucht" und zuletzt "Klara" (zusammen mit Dirk Bernemann und Jörkk Mechenbier).



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