Osborne | Java Road Hong Kong | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Osborne Java Road Hong Kong


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7472-0521-1
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-7472-0521-1
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Auf der Liste der besten Bücher des Jahres von Washington Post und CrimeReads Adrian Gyle, Engländer und seit zwei Jahrzehnten Journalist in Hongkong, steckt fest: Die große berufliche Karriere ist ausgeblieben, und die Tage plätschern für ihn oft im Fung Shing, dem Restaurant gleich um die Ecke, vor sich hin. Doch als er schon Pläne schmiedet, die einst so ausgelassene, optimistische Stadt zu verlassen, erhebt sich die Bevölkerung zu prodemokratischen Protesten, denen die chinesischen Behörden mit roher Gewalt begegnen und die dieganze Welt in Atem halten. Inmitten des Aufruhrs macht Gyle Bekanntschaft mit der mysteriösen Rebecca, der neuesten Affäre seines alten Freundes Jimmy Tang, Spross einer der reichsten Familien Hongkongs. Dann verschwindet Rebecca spurlos, und Jimmy taucht ab. Gyle ist bei seiner Journalistenehre gepackt und macht sich in einem undurchsichtigen Dickicht aus Freundschaft und Verrat, alter Welt und neuen Regeln auf die Suche nach Rebecca...

LAWRENCE OSBORNE, geboren 1958 in England, studierte in Cambridge und Harvard und lebte zehn Jahre lang in Paris, bevor er in Mexiko, Marokko und Thailand Reportagen für The New York Times Magazine, The New Yorker, Harper's Magazine und viele andere schrieb. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen bedacht.
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ZWEI


DIE TANGS WOHNTEN IN DEN MID-LEVELS UNTERHALB DER Magazine Gap Road in den Borrett Mansions. Diese festungsartigen Luxushochhäuser standen am Ende der Bowen Road, einem schmalen Sträßchen, das sich seinen Weg durch einen tropischen Wald voller Schlingpflanzen und Ficuswurzeln bahnte und hinauf zu den auf rustikal getrimmten Einfriedungsmauern der Mansions führte. Im Erdgeschoss gab es überraschend schlichte Art-déco-Foyers, weshalb man das Gefühl hatte, die Zeit stünde seit ungefähr 1970 still. Hier oben, hoch über der Stadt, roch die Luft nach Moos und feuchter Baumrinde, und als ich aus dem Wagen stieg, fuhr mir ein kalter Luftzug von den Bergen ins Gesicht. Vor einer Stunde hatte es noch geregnet. Die Farne und Schlingpflanzen um mich herum tropften vor sich hin, als ich durch den Hintereingang in das Foyer ging, von dem man zum Apartment der Tangs im fünfzehnten Stock gelangte.

Ich wurde von einem Portier erwartet, der mir beflissen die Tür aufhielt. Er kannte mich, sprang zum Aufzug und wusste, welchen der elfenbeinfarbenen Knöpfe er drücken musste. Seinen Namen habe ich jedoch nie erfahren. Während ich an der Metallzarge des Aufzugs stand, mit dessen britischem Design der 1930er-Jahre meine äußere Erscheinung durchaus harmonierte, musterte er mich von oben bis unten, als wäre er sich nicht schlüssig, ob meine Schuhe seinen Ansprüchen genügten. Ich hätte vermutet, dass sich die meisten der wohlhabenden Bewohner der Mansions in den Mid-Levels an einem Wochenendabend und in politisch unsicheren Zeiten bereits irgendwo anders in der Welt aufhielten. Das Geld floss nach draußen ab wie eine unaufhaltsame Flut, gespeist von der Verzweiflung über das, was sich in ihrer Stadt abspielte. Die Türen öffneten sich, und eine Bedienstete stand zur Begrüßung des Ankömmlings bereit. Sie erinnerte sich an mich und fragte: »Wie geht es Ihnen, Mr. Gyle?«, während wir uns nach oben zu den Menschen begaben, die reicher waren als wir, und einen Blick gemeinsamer Melancholie austauschten.

Die dort versammelte Gesellschaft umfasste ungefähr fünfzehn Personen; es war mehr ein Dinner als eine Party. Weil sich die Tangs nicht gern an einen Tisch setzten, wurden die Gäste dort bedient, wo sie gerade Platz genommen hatten. Auch mir gefiel es so. Die Tangs waren routinierte Gastgeber und erlaubten sich keine Fehler, wenn es darum ging, Gäste zu Hause zu bewirten. Melissa Tang öffnete die Tür; der Portier hatte mich zweifelsohne angekündigt. Sie trug eine schwarze Strickweste aus Kaschmir und eine Samthose, ein legerer Aufzug für sie, und weil beides von gleicher Farbe war, fiel als Einziges ihr Perlenkollier ins Auge. Ihr Auftritt war theatralisch und elegant; so war er immer. Bei der Wohnung handelte es sich um das alte Apartment ihres Vaters, des exzentrischen Millionärs Rodney Chow, und in den mit Teppichen ausgelegten Räumen und der Sammlung chinesischer Ming-Terrakotten fühlte sie sich wohl. Die Chows waren genauso wohlhabend wie die Tangs, nur dass sie ihr Geld in der Industrie und mit Fernsehsendern verdient hatten. Rodney, einen knurrigen Veteranen mit einer Vorliebe für Jacquard-Hausjacken und schwedische Mädchen, traf man oft bei Soireen der Tangs oder in der Stadt an; ich hatte jedoch nur selten mit ihm zu tun, denn ich mochte ihn nicht und fürchtete ihn. Rodneys Geschmack für Überdimensioniertes war allgegenwärtig. Eine dieser unbezahlbaren Terrakotten war ein lebensgroßes Pferd, das wie eine Schutzgottheit im Vestibül stand und um dessen Hals sich eine Girlande aus irdenen Glocken wand. Wann immer Melissa daran vorbeiging, strich sie, wie soeben, mit einer Hand leicht über die Flanke der Figur. »Ich bin so froh, dass du kommen konntest«, sagte sie, ohne sich mir zuzuwenden, während sie mich einließ. »Jimmy hat schon den ganzen Tag miese Laune.«

»Ach ja?«

»Die Familie drängt ihn, eine öffentliche Stellungnahme zur Lage in Hongkong abzugeben, damit die Behörden wissen, wo wir stehen – eben möglichst auf ihrer Seite.«

»Eine Stellungnahme?«

»Die Familie will, dass er seine Loyalität gegenüber dem Staat und der Kommunistischen Partei erklärt. Allerdings soll es nicht so benannt werden.«

»Wie soll es dann benannt werden?«

Ich konnte sehen, wie sie innerlich mit sich rang; ihr Mund wurde hart, sie biss die Zähne zusammen und bot all ihre diplomatische Formulierungskunst auf.

»Man würde es als ein Bekenntnis abfassen – ein Bekenntnis des Glaubens an die Zukunft Hongkongs. Willst du es noch genauer wissen?«

Im Lauf der Jahre war ich zu der Ansicht gelangt, dass die Tangs das eleganteste Domizil in Hongkong hatten, auch wenn es antiquiert erschien und bar jeder modernen Technik war. Man hatte es zunächst bewusst viktorianisch eingerichtet, denn das entsprach dem eher westlich orientierten Geschmack von Melissas Vater. Doch nach und nach hatte sich ihre eigene, mehr chinesisch geprägte Feinsinnigkeit durchgesetzt. Die Kronleuchter hingen statisch und latent einschüchternd von der Decke. Die Wandteppiche zeigten Szenen aus der Verbotenen Stadt; ihre Stilrichtung konnte ich nicht einordnen, da sie zwischen schwärmerischem Orientalismus und wahrem Orient schwankte. Überall in den Räumen standen Terrakotten, auf Postamenten oder in Nischenregalen, in Museumsqualität und eine Idee zu protzig. Sie befanden sich in Gesellschaft einer Handvoll gefühliger psychedelischer Aquarelle von Luis Chan aus den späten 1960er-Jahren, die verträumte Inseln und Geister neben bekifften Dinosauriern und seltsam aussehenden Vögeln darstellten, und eines einzigen, eher umstrittenen Werks von Chow Chun Fai im zeitgenössischen neorealistischen Stil, das Jimmy seiner Frau aufgezwungen hatte. Ich wusste, dass Chun Fai Standfotos aus klassischen Hongkong-Filmen vergangener Jahrzehnte malerisch umsetzte und dass er sich mit seiner, nicht nur künstlerischen, Kritik am Establishment bei Menschen von Melissas Herkunft und Bildung unbeliebt gemacht hatte – und doch hing das Werk fast unbemerkt in ihrem Wohnzimmer, Dokument eines unguten Kompromisses. Es zeigte eine Gruppe von Männern, die in Unterhemden um einen Tisch sitzen, in irgendeinem vergessenen Jahr der 1970er Karten spielen und von denen eine versteckte Drohung ausgeht.

Dieser Raum öffnete sich zu einem Balkon, der sich im Abglanz der niemals schlafenden Hochhäuser sonnte, die sich bis hinab zum Victoria Harbour zogen. Beim Nähertreten sah man das Meer, und die grellen Neonlichter von Tsim Sha Tsui tanzten auf seiner schwarzen Oberfläche, wenn Fähren durch die Spiegelungen pflügten. Eine Gruppe von Gästen saß bereits in den Korbsesseln und trank Manhattan Ice Tea aus großen Krügen. Ich kannte etliche von ihnen. Bei den Tangs gab es zwei gesellschaftliche Zirkel, die sich unangenehm überschnitten: einerseits die mit Unsummen jonglierenden Hedge-Fonds-Manager und Banker, andererseits die Journalisten und Akademiker, die hinauf in die exotische Welt der Mid-Levels pilgerten, um sich unter diese Herren des Geldes zu mischen, von denen sie wiederum kaum zur Kenntnis genommen wurden. Ich war mit beiden Kreisen vertraut, aber in gewisser Weise bevorzugte ich die Banker. Sie waren weniger prätentiös, und ihren milden Faschismus trugen sie fröhlich, offen und ehrlich zur Schau.

Mittlerweile gab es in der Wohnung noch einen zweiten Balkon, den Jimmy in einen Tropengarten verwandelt hatte und den man über einen anderen Raum betrat. Melissa führte mich nun dorthin, weil sie unter vier Augen mit mir reden wollte, wenn ich nichts dagegen hätte. Der Ausblick war der gleiche, aber wir saßen allein auf dem einzigen Sofa, das mitten in diesem Miniaturdschungel stand. Eine Bedienstete brachte Getränke. Eigentlich stand ich Melissa nicht sehr nahe, obwohl wir uns durch Jimmy schon seit Jahren kannten. Ich fand sie sympathisch, und sie war, auf ihre eigene Art, zu einer spröden Großmut in der Lage. Damit meine ich nicht, dass sie stoisch Jimmys kindisches und selbstsüchtiges Verhalten ertrug, sondern vielmehr ihre Fähigkeit, so zu tun, als betrachte sie bestimmte Dinge von einer höheren Warte aus. Sie konnte sich lobend über die Tatkraft der chinesischen Kommunistischen Partei verbreiten, wenn es darum ging, Autobahnen zu bauen oder einen Rover auf der Rückseite des Mondes abzusetzen. Dass eine dahingehende Effizienz aber von Bedeutung war, glaubte sie, im Gegensatz zur Partei, eher nicht. Woran sie allerdings glaubte, war der Aufstieg der Nation und deren lang anhaltender, sich ständig weiterentwickelnder Ruhm, der, garantiert, irgendwann in eine hegemoniale Zukunft münden sollte. Noch wichtiger war ihr, dass es auch ihre Zukunft und die ihrer Familie sein würde. Die meisten Menschen würden eine solche Einstellung als Verlogenheit oder Schlimmeres bezeichnen, denn es war offensichtlich, dass sie nicht rückhaltlos davon überzeugt war, der Kommunismus als solcher bewirke eine zukünftige, allumfassende Seligkeit. Aber man kann das auch auf eine profanere Weise...


Osborne, Lawrence
LAWRENCE OSBORNE, geboren 1958 in England, studierte in Cambridge und Harvard und lebte zehn Jahre lang in Paris, bevor er in Mexiko, Marokko und Thailand Reportagen für The New York Times Magazine, The New Yorker, Harper’s Magazine und viele andere
schrieb. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen bedacht.

LAWRENCE OSBORNE, geboren 1958 in England, studierte in Cambridge und Harvard und lebte zehn Jahre lang in Paris, bevor er in Mexiko, Marokko und Thailand Reportagen für The New York Times Magazine, The New Yorker, Harper's Magazine und viele andere
schrieb. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen bedacht.



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