Osborne Sieh dich um
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8387-1993-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 334 Seiten
ISBN: 978-3-8387-1993-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein brutaler Killer hält New York in Atem. Scheinbar wahllos sucht er sich die Opfer aus. An den Tatorten hinterlässt er fürchterlich zugerichtete Leichen. Und Schachbücher. Special Agent Dana Whitestone und ihr Partner werden auf den Fall angesetzt. Sie tun alles, um die Morde zu stoppen. Doch der Killer spielt sein eigenes Spiel mit ihnen. Die Verwirrung wächst, die Ermittler sind ratlos. Ist es wirklich nur ein Täter? Oder sind es zwei Gegner in der tödlichsten Schachpartie der Welt?
Weitere Infos & Material
»Wenn du einen guten Zug siehst, suche nach einem besseren.«
Emanuel Lasker, deutscher Schachgroßmeister, Mathematiker und Philosoph, der siebenundzwanzig Jahre lang den Weltmeistertitel innehatte
6
Mittwoch, 12:58 Uhr
Der Sieger der letzten Partie wurde durch das einfache Werfen einer Münze in der prunkvollen, marmorvertäfelten Lobby des Fontainebleau Hotels in Downtown Manhattan bestimmt.
Das Prozedere war natürlich trotz der pompösen Inszenierung eher eine Zeremonie. Die beiden Männer waren bereits vor langer Zeit übereingekommen, ihre Partien bis zum unausweichlichen Ende durchzuspielen, ganz gleich, was beim Werfen der Münze herauskommen mochte. Das taten sie immer. Es lag in der Natur ihrer Spiele, in der Natur der Sache. Es bildete den Kern dessen, was sie zu vollbringen versuchten.
Sergej Michalovic zog die rechte Hand vom linken Handrücken und hielt das Ergebnis über den Tisch, damit es der ihm gegenübersitzende Mann sehen konnte. Auf der mit blassblauen Adern durchzogenen weißen Haut, die sich straff über vorstehende Knochen spannte, schimmerte die atemberaubende Darstellung der Freiheitsstatue im sanften Licht von der Decke. Sie hielt eine flammende Fackel in der einen und einen Olivenzweig in der anderen Hand. Krieg in der Rechten, Frieden in der Linken.
Michalovic grinste wie ein aufgeregter Junge am Weihnachtsabend, der eben das glänzende neue Fahrrad unter dem Baum entdeckt hatte. Genau das, was er sich gewünscht und womit er nicht gerechnet hatte. Ein wunderbarer Augenblick, wenn es je einen gegeben hatte. Etwas, das man mit offenen Armen begrüßte. Und Michalovic hatte allen Grund zu lächeln. Wie die meisten ihrer Partien würde sich auch diese zweifellos als totaler Krieg erweisen. Als äußerst blutiger Krieg. Und weil er diesmal erneut gewinnen würde – zweimal hintereinander nach einer Reihe sehr schmerzhafter Niederlagen –, wusste er, dass die Chancen für Frieden etwa so gut standen wie die für einen Schneeball in der Hölle.
Michalovics strahlend weiße Überkronung blendete sein Gegenüber auf der anderen Seite des Tisches regelrecht. »Kopf«, verkündete der Russe zufrieden.
Mittlerweile war der leichte ausländische Akzent des über Sechzigjährigen fast völlig verschwunden – durch harte, unermüdliche Arbeit … und mehr als ein wenig Hilfe einer neunzehnjährigen Studentin der Columbia University mit einem Körper, der jeglicher Schwerkraft trotzte und in dessen Nähe er ohne seinen enormen Reichtum nie gekommen wäre. Wenn er sich nicht gerade mit ihr im Bett wälzte, betrachtete er sie liebevoll wie eine Tochter. Jedenfalls war seine früher zähe russische Aussprache inzwischen vollkommen flüssig, fast nicht mehr zu unterscheiden von der eines geborenen New Yorkers, was sich im Verlauf der Höhen und Tiefen dieser finalen Partie noch als bedeutsam erweisen sollte.
»Sieht so aus, als hätte ich diesmal wieder gewonnen, Edward«, fuhr Michalovic vergnügt fort. »Aber das ist kein Grund für Sie, den Mut zu verlieren, oder? Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, so sagt man hier doch, richtig? Ich schwöre bei Gott, ihr habt die wunderbarsten Sprichwörter. Ich liebe sie alle.«
Edward J. O’Hara III erwiderte das Lächeln seines Gegenspielers. Er konnte das Leuchten beinah spüren, das von seinem eigenen Gesicht ausging. Strahlte er etwa? Es hätte ihn nicht im Mindesten überrascht. Konnte diese Geschichte überhaupt noch besser werden? Tage wie dieser waren es, wofür er lebte. Einmal mehr hatten die Hoffnungen und Träume, die eine neue Saison mit sich brachte, ein unverkennbares Federn in seine Schritte und ein freudiges Lächeln in sein rötliches Gesicht gezaubert.
»Sind es die Menschen, die Sie lieben, Sergej, oder ihre wundervollen Sprichwörter?«, wollte O’Hara wissen.
»Beides natürlich, Edward. Beides.«
»Natürlich.«
O’Hara lehnte sich auf seinem Sitz zurück, ließ den Blick nachdenklich über Michalovics fein geschnittene Züge wandern und musterte ihn eingehend. Dieses gewinnende Grinsen hatte den Russen bestimmt deutlich über hunderttausend Dollar gekostet, und die Investition schien sich gelohnt zu haben. Eine wirklich hervorragende Arbeit, die ausgesprochen natürlich wirkte.
O’Hara nahm sich vor, den Namen von Michalovics Zahnarzt in Erfahrung zu bringen, bevor sich die beiden für diesen Tag voneinander verabschiedeten. Die Veneers kosteten mit Sicherheit mehr als ein funkelnagelneues Fahrrad, aber die Qualität der Arbeit rechtfertigte die happige Ausgabe. Schließlich kosteten alle guten Dinge im Leben eine Menge Geld, richtig.
Richtig. Sogar die bösen Dinge im Leben kosteten eine Menge.
O’Hara richtete sich auf dem Sitz auf und spürte ein beinah erotisches Kribbeln auf der Haut. Die Dinge, die er und Michalovic kauften, waren in der Tat sehr, sehr böse – fast pervers böse. Doch sie konnten sich im Kontext ihrer speziellen Spielchen als vorteilhaft erweisen. Denn es waren die bösen Dinge, die ihnen die notwendigen Werkzeuge lieferten, um ihre jeweiligen Aufgaben zu erledigen, und zwar ungehindert von jeglichen Fesseln lästiger finanzieller Beschränkungen. Wenn man eingehender darüber nachdachte, brauchte man gar nicht lange zu philosophieren, um den vermeintlichen Widerspruch aufzulösen. Im Gegenteil, wenn man es sich ein wenig durch den Kopf gehen ließ, ergab es absolut Sinn.
O’Hara beugte sich auf seinem Stuhl vor und hob den Portwein an die Lippen, der pro Glas fünfhundert Dollar kostete. Er nahm behutsam einen Schluck, dann stellte er das handgeblasene Kristallstielglas zurück auf den mit weißem Leinen gedeckten Tisch, während er mit der Zunge den Geschmack des kostspieligen Weins auskostete. »Ach übrigens, Sergej – vergessen Sie nicht, dass Sie bis jetzt nur dem Namen nach der Sieger sind«, sagte er, richtete sich wieder auf dem Sitz auf und streckte den Nacken. »Es bleibt immer noch die ungelöste Angelegenheit der zehn Millionen Dollar, die auf dem Spiel stehen. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Wir sind schließlich keine Kommunisten.«
Der Russe gluckste belustigt über den gutmütigen Witz des Iren. Wie unsagbar befriedigend es sich anfühlte, zur Abwechslung die Gesellschaft eines Mannes zu genießen, der ihn wirklich verstand. Das kam nicht häufig vor – gelinde ausgedrückt. Und er wusste mit Bestimmtheit, dass sich O’Hara überhaupt nicht um das Geld sorgte – jedenfalls nicht in finanzieller Hinsicht. Die fünf Millionen Dollar, die jeder von ihnen für den Sieger dieses Wettbewerbs in den Pott gelegt hatte, waren reines Spielgeld. Ein kleiner zusätzlicher Bonus, um ihren Spielen noch einen Tick mehr Würze zu verleihen.
Nicht, dass ihre Spiele mehr davon gebraucht hätten. Sie waren auch so schon pikant genug. Andererseits: Warum sollten sich O’Hara und er mit etwas anderem als dem Allerbesten zufriedengeben? Warum nicht von Anfang an alles einsetzen, was ihnen zur Verfügung stand? Es war schließlich nicht so, als könnten sie es sich nicht leisten. Ganz im Gegenteil.
Die beiden Gegenspieler waren bereits sehr reiche Männer – zwei der reichsten Männer der ganzen Welt, um genau zu sein. Mit den für den Sieger reservierten zehn Millionen Dollar konnten sie rein gar nichts kaufen, das sie nicht längst besaßen. Erst recht kein Grinsen der Art, wie sie es in jenem Moment in den Gesichtern hatten. In diesem Augenblick herrschte auf beiden Seiten des Tisches Weihnachten, und das gefiel Michalovic. Es gefiel ihm sehr. Genau so sollten die Dinge sein.
Abgesehen davon wusste Michalovic, dass der wahre Einsatz in diesem Wettstreit nichts mit etwas so Trivialem wie Geld zu tun hatte. Solche linkischen Unterfangen überließ man besser den zweitklassigen Tageshändlern an der Wall Street und den verträumten Internet-Idioten, die sich in ihren kleinen Garagen am Stadtrand die Finger blutig tippten. Der wahre Einsatz für Männer wie ihn und O’Hara – Männer, die alles nur vorstellbare Materielle bereits besaßen – konnte nur Leben und Tod sein. Nichts anderes im Universum war es wert, überhaupt darum zu spielen. Jedenfalls nicht in ihrem Universum – einem Universum, in dem die Wände ihrer Villen mit Aktien tapeziert und die Wege mit Gold gepflastert waren. Außerdem hatte man, wenn man alles besaß, nichts mehr zu verlieren, so merkwürdig sich das in den Ohren eines Laien anhören mochte.
Michalovic lächelte seinen Gegenspieler über den Tisch hinweg an. »Warum die plötzliche Besorgnis, Edward?«, fragte er und schnalzte leise mit der Zunge. »Es ist ja nicht so, als stünde unser eigenes Leben auf dem Spiel, nicht wahr? Keineswegs. Was hätte das für einen Sinn? Nein, wir spielen wie üblich mit fremdem Einsatz. Abgesehen davon haben wir unsere kühnsten Träume allein dadurch übertroffen, dass wir uns gefunden haben. Der Rest ist bloß noch das Sahnehäubchen. Also lehnen Sie sich zurück und lassen Sie den Dingen ihren Lauf, einverstanden? Versuchen Sie, es zu genießen.«
Mit diesen Worten schob Michalovic die glänzende Zwanzig-Dollar-Goldmünze, die er zum Werfen benutzt hatte, zurück in die Tasche seiner teuren Armani-Hose und drehte sich, um eine lästige Verkrampfung in seinem Kreuz zu lösen. Obwohl der Russe für einen Mann seiner Jahre in blendender Verfassung war, spürte er das fortschreitende Alter, und diese raue Tatsache wurde ihm Tag für Tag klarer. Er wusste, dass er und O’Hara diese letzte Partie zu etwas Denkwürdigem gestalten mussten. Zu etwas, an das man sich über Generationen hinweg erinnern würde. Zu etwas, das Eingang in die...