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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Pajevic Mehrsprachigkeit und das Politische

Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-7720-0140-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Dieser Band vermittelt Kenntnisse zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen und baltischen exophonen Literatur. Der besondere Schwerpunkt liegt auf der Wechselbeziehung zwischen Mehrsprachigkeit und dem Politischen. Der politische Aspekt bleibt dabei nicht auf das politische Engagement der Autoren oder die erzählten politischen Hintergründe beschränkt, sondern das Politische des Literarischen selbst wird in dem Sinne miteinbezogen, dass der politische Raum durch kulturelle Phänomene geformt wird, durch die Erzeugung von Weltansichten.
Mit Yoko Tawada, José FA Oliver, Christian Kracht, Peter Waterhouse, Barbi Markovic, Margeris Zarinš und Gohar Markosjans sind nur einige der Autorinnen und Autoren genannt, deren Texte im Band untersucht werden.
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Interferenzen. Einführung
Marko Pajevic Interferenz ist ein Begriff aus der Physik und bezeichnet die Änderung der Amplitude bei der Überlagerung von Wellen. Die verschiedenen Wellen durchdringen einander und ihre Ausschwingungen treten miteinander in Beziehung und verstärken einander beziehungsweise gleichen einander aus. Es ist ein Phänomen des Zwischen, inter, und der Gegenseitigkeit bei einem Zusammentreffen. Sprache besteht aus Schallwellen und jedes Sprechen hat seinen eigenen Sprachfluss. Allerdings sollten wir uns dabei nicht die regelmäßig an den Strand schlagenden Wellen eines Meeres vorstellen, sondern eher das Fließen eines Flusses, also eine sich unablässig ändernde Form in Bewegung. Émile Benveniste hat auf diese vorplatonische Bedeutung des Wortes Rhythmus hingewiesen (Benveniste 1966) und Henri Meschonnic hat dies zur Grundlage seiner Rhythmustheorie gemacht (Meschonnic 1982), die nicht nur für die Sprach- und Literaturtheorie von großer Bedeutung ist, sondern sich als Poetik der Gesellschaft versteht, also unsere Sprachstrukturen mit unseren Denkstrukturen gleichsetzt und somit auf unsere Vorstellungen von Welt schließen lässt. Wilhelm von Humboldt nannte Sprachen „Weltansichten“ (Humboldt IV:27). Die Sprache, die wir sprechen, gibt uns die Perspektive auf die Welt. Sprache bestimmt unsere Beziehungen zur Welt und zu uns selbst. Dabei dürfen wir uns die Nationalsprachen nicht als Gedankengefängnisse denken, wir können durchaus individuell über die Sprachkonvention hinausdenken und tun dies im jeweiligen Sprechen immerzu (Trabant 2003: 277). Im Prinzip hat jedes Individuum eine individuelle Sprache, geprägt durch die individuellen Erfahrungen und Assoziationen. Laut Humboldt gibt es letztlich genauso viele Weltansichten wie es Individuen gibt. Bis zu einem gewissen Grad jedoch ist unser Denken, das für Humboldt mit unserer Sprache gleichzusetzen ist, durch die jeweilige Nationalsprache mitgeprägt. Mehrsprachigkeit greift dementsprechend selbstverständlich in diese Weltvorstellungsprozesse ein und lässt die Weltansichten überlappen, dabei kommt es zu Interferenzen. Verschiedene Weltansichten kommen miteinander ins Schwingen und beeinflussen einander, neue Schwingungen entstehen. Sprachliche Interferenzen wirken kreativ. Anders als in der Physik, in der es lediglich eine Verstärkung oder eine Auslöschung der Amplitude gibt, entstehen bei sprachlichen Interferenzen unzählige kleine Schwingungsveränderungen, die jeweils die Perspektive auf die Dinge verschieben und erweitern. Eine erweiterte Perspektive auf die Welt aber ist eine größere Welt, ganz im Sinne von Ludwig Wittgensteins berühmtem Satz: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Wittgenstein 1963: Satz 5.6) Mehrsprachigkeit ist eine Entgrenzung, eine Möglichkeit, neue Sichtweisen einzunehmen. Mehrsprachigkeit, es sei an dieser Stelle erneut betont, ist keineswegs die Ausnahme, sondern weltweit eher der Normalfall. Es gibt keinen Ort ohne Vermischung von Kulturen und Sprachen – und das auf verschiedensten Ebenen. Jede Sprache ist in sich mehrsprachig und hat sich im Austausch mit diversen anderen Sprachen entwickelt. Immer und überall haben Menschen verschiedener Kulturen und Sprachen zusammengelebt oder Handel miteinander getrieben. Auch der geistige Austausch hat seit Urzeiten stattgefunden und ist geradezu die Grundlage aller kulturellen Entwicklung. Nicht umsonst wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Sprache Europas (und nicht nur Europas) die Übersetzung ist.1 Die grundlegenden Texte unserer Zivilisation sind Übersetzungen,2 in Europas Fall die Bibel und die griechischen Philosophen, die nahezu von keinem Europäer im Original rezipiert werden. Die Vorstellung von Einsprachigkeit ist dementsprechend ein Konstrukt, das an den Realitäten unserer Sprachkonstitution vorbeigeht. Und selbst wenn wir Sprache auf der einfachsten Ebene als Deutsch, Englisch, Litauisch usw. verstehen, gibt es weltweit weitaus mehr Sprechende von mehreren solchen Sprachen als wirklich Einsprachige. Interferenzen zwischen und innerhalb der Sprachen sind also allgegenwärtig und sie prägen das Miteinander der Menschen. Insofern das Politische die Organisation der gesellschaftlichen Beziehungen ist und unsere Sprache als unsere Weltansicht unsere Beziehungen prägt, ist Sprache nicht vom Politischen zu trennen und das Politische ohne das Sprachliche undenkbar – ganz abgesehen davon, dass Begriffe immer sprachlich sind und man dementsprechend immer in Sprache denkt. Der vorliegende Band möchte aus der Perspektive literarischer Mehrsprachigkeit Licht auf dieses Wechselverhältnis zwischen Politischem und Sprache werfen. Wie wirkt sich Mehrsprachigkeit auf das Leben in Gemeinschaft aus? Der Blickwinkel ist dabei in erster Linie die Exophonie, also Literatur, die in einer Zweitsprache geschrieben wurde und diesen sprachlichen Umstand in irgendeiner Weise thematisiert (vgl. Arndt/Naguschewski/Stockhammer 2007 sowie Ivanovic 2017: 172). Exophone Literatur ist ein privilegiertes Feld für das Verständnis der mehrsprachigen Prozesse, da SchriftstellerInnen allgemein einen bewussteren Umgang mit Sprache haben müssen und dementsprechend ihre sprachliche Situation der Exophonie reflektieren. Natürlich sind ihre vertieften und intimen Kenntnisse von mindestens zwei Kulturen auch von politischem Interesse, aber es soll hier nicht nur um die Schilderung politischer Hintergründe und Situationen gehen oder um daraus erfolgendes politisches Verständnis und Engagement. Vielmehr interessiert hier das Politische des Literarischen selbst, also die Frage, inwiefern der politische Raum durch sprachliche Phänomene geformt wird, durch die Erzeugung von Weltansichten. Der Großteil der hier versammelten Beiträge wurde bei einer von mir organisierten und vom Baltisch-Deutschen Hochschulkontor finanzierten Konferenz mit dem Titel Mehrsprachigkeit und Politik in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Kultur in Tartu vom 14. bis 15. November 2019 vorgestellt. Dieser Band vermittelt dementsprechend Kenntnisse zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen und baltischen exophonen Literatur. Mit baltisch sind hier die heutigen drei Baltischen Republiken gemeint: Estland, Lettland und Litauen. Deutschsprachig ist offensichtlich ein problematischer Begriff in diesem Zusammenhang, in dem ja gerade die Mehrsprachigkeit auch in den deutschsprachigen Ländern thematisiert wird – es soll damit lediglich deutlich gemacht werden, dass es um Literatur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz geht. Andere deutschsprachige Länder und Regionen werden leider hier nicht behandelt. Es gibt ja in den letzten Jahren eine Fülle von Veröffentlichungen zu Exophonie und...


Prof. Dr. Marko Pajevic ist Inhaber des Lehrstuhls für Germanistik an der Universität Tartu, Estland.


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