Pfingsten | Dobrudscha | Buch | 978-3-941271-74-6 | www.sack.de

Buch, Deutsch, 191 Seiten, GB, Format (B × H): 153 mm x 225 mm, Gewicht: 392 g

Pfingsten

Dobrudscha

"Mit Resi nach Saturn" und andere Reisebegebenheiten aus Rumäniens Schwarzmeer-Provinz
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-941271-74-6
Verlag: Schiller Verlag

"Mit Resi nach Saturn" und andere Reisebegebenheiten aus Rumäniens Schwarzmeer-Provinz

Buch, Deutsch, 191 Seiten, GB, Format (B × H): 153 mm x 225 mm, Gewicht: 392 g

ISBN: 978-3-941271-74-6
Verlag: Schiller Verlag


Es geht ein Ruck durch die Schlange – das Brot ist angekommen. Die Menschen vor mir pressen kräftig nach vorne, und schnell bin ich am Ende des Regals ankommen, von wo aus ich dann mein Ziel schon im Blick habe. Zwei große Pappkartons stehen auf dem Boden; offenbar gibt es zwei Sorten Brot. In diesen Kartons, fast schon kopfüber hineinsinkend, wühlen einige schwarz gekleidete alte Frauen mit viel Gezänk. Noch ist die Zahl der vorhandenen Brote groß, und so haben die Alten die Qual der Wahl. Denn offenbar ist die Qualität der einzelnen Brote sehr unterschiedlich; nur so kann ich mir erklären, dass die alten Damen jedes einzelne Brot in die Hände nehmen und durchprüfen: Da wird auf den Laib geklopft und der Sound geprüft. Vor allem aber wird von ihnen die Konsistenz, der Ausbackgrad des Brotes begutachtet. Das lässt sich offenbar ganz leicht feststellen, so meine Beobachtung, indem man den Daumen in den Laib drückt: Bricht er leicht ein? Klebt Teig am Daumennagel? Ist der Brotlaib biegsam und elastisch?

Da ich in der Käuferschlange ganz hinten stehe, muss ich letztlich mit einem Brot Vorlieb nehmen, welches alle diese Prüfungen nicht bestanden hat. Man erkennt das an den vielen Daumenlöchern. Später, beim Genuss des Brotes, muss ich jedoch feststellen: Es schmeckt köstlich, ist knusprig und von optimaler Konsistenz. Das einzige, was mich etwas stört, sind die vielen Daumendruckprüflöcher in der Kruste.

Pfingsten Dobrudscha jetzt bestellen!

Zielgruppe


Rumänienreisende, Dobrudschareisende, Donaudelta

Weitere Infos & Material


Unvermeidlich kommt bei Nennung meines Reiseziels die Frage:
'Sag mal, wieso fährst du eigentlich immer nach Rumänien?' (Be-
tonung auf 'Rumänien' und mit dem Unterton: 'Ja gibt es denn kein
anderes, näher liegendes Reiseland?'). Und daran unmittelbar an-
schließend die beinahe vorwurfsvolle Ergänzungsfrage: '. und dann
auch noch allein!?'

Die mögliche Gegenfrage kitzelt dann meine Zunge (aber meistens
spreche ich sie nicht aus): 'Was, meinst du, sollte mich davon abhalten,
dieses Land zu bereisen?' Vorurteile? Ängste? Unsicherheit? Am ehes-
ten doch nur Letzteres.

'Ist das nicht gefährlich?' Diese Frage wird mir tatsächlich am häu-
figsten gestellt. Die nächste folgt dann oft unmittelbar nach der ersten:
'Wie verständigt man sich denn da mit den Leuten?' Dahinter steckt
meines Erachtens der Umstand, dass bisher nur sehr wenige Men-
schen Kontakt mit der rumänischen Sprache hatten und sie darum
nicht einordnen können in ihre bisherigen Erfahrungen mit anderen,
bekannteren Sprachen.

Ich habe das Land 2011 zum sechsten Mal bereist. Erstmals 1970 in
den stalinistischen Zeiten der Ära Ceausescu als Student zusammen
mit drei Freunden. Wir fuhren nach Siebenbürgen, kamen unter an-
derem nach Hermannstadt und in die Südkarpaten. Im Jahre
1999 besuchte ich Hermannstadt ein zweites Mal, diesmal mit meinem
damals zwölfjährigen Sohn. Von dort reisten wir mit der Schmalspur-
bahn namens Mocanita nach Agnita/Agnetheln. Deren Betrieb wurde
im folgenden Jahr eingestellt. Ich freue mich noch heute, dass ich diese
Fahrt erleben konnte, und auch für meinen Sohn bedeutet sie ein nie-
mals vergessenes Erlebnis. Es folgten im Jahr 2008, diesmal erstmalig
und später stets allein reisend, Touren in die Bukowina, in die West-
karpaten und in das Donaudelta, 2009 in die Region Maramuresch, zu
den Szeklern sowie nach Braila. Im Jahre 2010 war das Banat an der
Reihe und das Apuseni-Gebirge und nun zuletzt 2011 die Dobrudscha,
rumänisch: Dobrogea.

Dieser Bericht soll von meiner Reise in die Dobrudscha
erzählen, wobei Erlebnisse und Erinnerungen
aus früheren Reisen sich mit Aktuellem verweben.
Nein, gefährlich ist es in Rumänien nicht (manchmal lautet die Frage
auch: 'Ist Rumänien nicht gefährlich?'). Gewiss, es gibt gefährliche
Orte und Zeiten, die man meiden sollte, oder eben Orte, die man mit
gebührender Vorsicht, Umsicht betreten sollte, wie zum Beispiel Teile
der Bukarester Innenstadt und manche Vorstädte – insbesondere bei
Nacht; Orte, an denen sich geballtes Elend zeigt, klebstoffschnüffeln-
de, elternlose, hoffnungslose Kinder wie in der Gegend um die Gara de
Nord, dem Nord- und zugleich Hauptbahnhof; Viertel, wo Drogen- und
Menschenhandel blüht. Tatsächlich gefährdet ist aber eher derjenige
Reisende, der mit seinem Luxusauto im Dunkeln über die Dorfstraße
saust, weil mit ziemlicher Sicherheit eines seiner vier Räder
in einem der zahlreichen Schlaglöcher hängen bleiben oder er
mit einem unbeleuchteten, in der Straßenmitte fahrenden Pferde-
wagen, dessen Lenker betrunken hinten im Heu liegen mag, kollidieren wird.
Ebendieser Autofahrer sollte vielleicht sein Fahrzeug vor der Kneipe
in Stadtnähe nicht allzu lange stehenlassen, während er drinnen mit
seinem prallen Portemonnaie protzt.

Nein, gefährlich ist es nicht, schon gar nicht für den freundlichen
Wanderer auf den Steppen der Dobrudscha, dem Baragan, im Banat
und Siebenbürgen, in den Bergen, im Delta, in den kleinen Dörfern
der Maramuresch, der sein Hab und Gut auf dem Rücken trägt und
der verschwitzt und müde daherkommt und im Dorfladen (magazin mixt) Brot
und Wasser kaufen will. Der wird eher noch zum Bier eingeladen und
zu noch einem und noch einem, und wenn er dann sein Portemonnaie
im Laden vergisst, wird ihm das vom schnellsten Dorfjungen hinter-
hergebracht. Idyll? Verklärung? Nein. Aber man muss es ja trotzdem
nicht darauf ankommen lassen.

Auf der Hut sein sollte man jedoch auf der Straße. Die Zahl der
Verkehrs toten in Rumänien ist immens. Die Strafen werden zwar im-
mer drastischer, doch die Fahrweise vieler Rumänen ist immer noch
buchstäblich halsbrecherisch.

Schmerzende Waden und zerrissene Hosen können das Ergebnis un-
vorsichtigen Betretens und Verlassens eines Dorfes sein. Im Dorf indes
ist man sicher vor Hunden, auch wenn sie wie rasend und giftig bel-
len. Im Dorfe sind alle Hunde angekettet, meist so kurzleinig, dass der
Tierfreund und -schützer ins Jammern verfallen möchte. Am Dorfrand
aber wohnen die Zigeuner (und ich nenne sie so, weil sie in Rumänien
auch so genannt werden, tigani, ohne dass dies, nach meiner Beobachtung,
als abfälliges Schimpfwort gilt). Die Zigeuner haben ihre eigenen Re-
geln; da wird manches nicht so eng gesehen. Der Hund wird nicht
angeleint, sondern darf den Wanderer auf seine ihm gemäße Manier
begrüßen oder vertreiben, darf in Rudeln unter dem löcherigen Bret-
terzaun des Anwesens hervorschießen, darf ihn umzingeln und nach
den Waden schnappen, ohne vom Herrchen zurückgepfiffen zu wer-
den. Das Herrchen geht davon aus, dass der Fußwanderer in abgelegenen
Gegenden kein Fremder ist, sondern ein kundiger Dörfler, der weiß,
dass man nicht ohne Knüttel in der Hand ein fremdes Dorf betritt.
Rumänien ist ein ausgesprochen ungefährliches Reiseland. Die Be-
wohner Rumäniens sind ausgesprochen 'ungefährlich'. Die Krimi-
nalitätsrate im Lande, das wurde nachgewiesen, ist im europäischen
Vergleich in der Tat sehr niedrig.

Die Verständigung in Rumänien ist unproblematisch. Die Sprache
gehört zur romanischen Sprachfamilie, nicht zur slawischen. Sie klingt
ein wenig wie Italienisch. Sehr viele Vokabeln und Ausdrücke sind
für jemanden, der Kenntnisse des Italienischen/Lateinischen, Franzö-
sischen oder Spanischen hat, schnell erkennbar, insbesondere wenn
geschrieben. Englisch ist mittlerweile in den Schulen Pflichtsprache.
Nach meinen Erfahrungen ist das Englisch von Studenten beziehungs-
weise Hochschulabsolventen recht gut, oft perfekt.
Die wichtigsten rumänischen Worte kann man rasch erlernen. Un-
verzichtbar ist die Kenntnis des rumänischen Wortes noroc für 'Prost',
zum einen weil man ständig zum Bier, Schnaps (Tuica) oder Wein eingeladen
wird, zum anderen aber, weil das rumänische 'prost' tückischerweise
'dumm', 'Dummkopf' heißt. Per Zeichen sprache einem Rumänen
zu verstehen zu geben, dass man hungrig ist, Durst hat oder ein Bett
für die Nacht sucht, dürfte niemandem schwerfallen.

Nach allem bisher Gesagten sehe ich keinen Grund, das Land zu
meiden. Warum aber hinfahren? Weil es sich um ein wunderschönes
Land handelt! Es ist abwechslungsreich: Geografisch betrachtet sehen
wir den das Land umfassenden riesigen Karpatenbogen, ein Gebirge,
das mit den Ausläufern der Nordkarpaten im Westen bis Polen reicht,
dann in einem weiten Bogen in östlicher Richtung die Grenzregion
Rumäniens mit der Ukraine bildet, am Rande der Buko wina nach Sü-
den biegt (Ostkarpaten), die Region Moldau nach Westen abgrenzt und in seinem Inneren Transsylvanien/Siebenbürgen birgt.

Weiter südlich biegt das Gebirge wieder nach Westen um, bildet hier die Süd-
karpaten, die seine höchsten Gipfel tragen; einige sind über 2000 Me-
ter hoch. Zwischen den Südkarpaten und der noch weiter südlich
fließenden Donau erstreckt sich die Große Walachei (Muntenien) als
weites flaches Land, mit der Baragan-Steppe im Osten. An die Große
Walachei schließt sich nach Westen die Kleine Walachei, Oltenien, an.
Hier läuft der Gebirgsbogen langsam aus, die Banater Berge bildend.
Sie trennen Oltenien im Süden von der nördlichen Region Banat. Wie
eine Perle in der hohlen Hand liegend finden wir in der westlichen Öff-
nung des Bogens noch einmal eine interessante Gebirgsformation, das
Apuseni-Gebirge, die Westkarpaten.

Die Donau im Süden, die Grenze bildend zu Serbien und Bulgarien,
ist ein rumänischer Fluss, legt sie doch auf rumänischem Gebiet ih-
ren längsten Wegesabschnitt zurück. Sie beherrscht das Land vollends
dort, wo sie im Südwesten nicht geradewegs zum Schwarzen Meer
strebt, sondern sich in einer langen Kurve zunächst nach Norden
wendet und erst nach circa 200 Kilometern wieder nach Osten um-
biegt. Hier erschaff t si e alsbal d da s riesig e mehrarmig e Delta, bevor
das Wasser, besser die Wasser des Flusses sich im Schwarzen Meer,
Marea Neagra, verlieren. Nun haben wir bereits die Region, durch die
hindurch unsere Wanderung uns führen soll, umschrieben: Die Dobrudscha,
Dobrogea erstreckt sich zwischen dem nach Norden fließenden Do-
nauarm im Westen und der Küste des Schwarzen Meeres im Osten.
Im Norden wird sie wieder begrenzt von der Donau, die sich nach
ihrem vorherigen Knick nach Norden bei der Stadt Galatz endgültig
dem Schwarzen Meer zu nach Osten wendet. Im Süden reicht die Do-
brudscha weit hinein nach Bulgarien. Der Berliner Vertrag von 1878
teilte sie nach dem türkisch-russischen Krimkrieg in den nördlichen,
rumänischen und den südlichen, bulgarischen Teil.

Neben dem endlos langgezogenen Gebirgsbogen der Karpaten wird
das geografische Bild Rumäniens von imposanten Flüssen geprägt, allen voran
die Donau und ihre Nebenflüsse: Der Siret durchzieht die Region Moldau von Nord
nach Süd; der Alt/Olt und der Mieresch/Mures haben ihre Quellen
wenige Kilometer voneinander entfernt in den Ostkarpaten. Ersterer
wendet sich nach Süden, dann nach Westen, um dann erneut nach
Süden zu fließen und die Südkarpaten in eindrucksvoller Schluch-
tung zu durchbrechen und dann im Süden in die Donau zu münden.
Der Mieresch dagegen wendet sich erst nach Norden, dann nach Westen,
um nach vielen Kilometern in die Tisa, Theiß, zu münden. Erwähnen
möchte ich noch den Jiu-Fluss, der zwar nicht so lang und breit wie der
Alt daherkommt, dessen Verlauf ihn aber, parallel westlich vom Alt,
in noch wilderer Weise durch die Südkarpaten brechen lässt. Die Ei-
senbahnfahrt durch seine Schluchten von der Stadt Deva nach Craio-
va, der wunderschönen Hauptstadt Olteniens, wird mir unvergesslich
bleiben. Der Schnellzug (Accelerat) braucht für diese 246 Kilometer
lange Strecke fünf Stunden. Schneller geht es nicht bei all den
Kehren, Brücken, Steigungen. Fünf Stunden sind dem Zugreisenden
somit vergönnt, zu erleben und zu beobachten, wie des Menschen
Technik sich an den imposanten Naturhindernissen reibt.

Der einzigartigen Flora und Fauna wegen wird Rumänien gerne von
Wissenschaftlern und Naturfreunden aufgesucht. Natürlich auch von
Anglern, für die das Donaudelta ein Paradies ist. Auf die ausländi-
schen, meist reichen Bärentöter in den Karpaten wollen wir nicht näher eingehen.
Ich habe in der Maramuresch auf einer Bergwiese auf dem Rücken lie-
gend mehrere hoch in der Luft kreisende Steinadler über Stunden be-
obachten dürfen. Im Donaudelta ließen sich die Pelikangesellschaften
mit Hunderten von Tieren von uns und unserem kleinen Boot nicht
beunruhigen. In den Macin-Bergen schlurfte eine Maurische Land-
schildkröte über meinen Weg, sie kam wie zu einem Stelldichein, einer
Verabredung. Wunderbare Erlebnisse sind das. Sie haben mich froh
sein lassen.

Man kann auch der Menschen wegen nach Rumänien reisen. Wer
gastfreundliche, offenherzige Menschen treffen möchte, die sich freu-
en, sogar geehrt fühlen, wenn sie sehen, dass man als vorurteilsfrei-
er, neugieriger, interessierter Mensch aus dem Ausland kommt, um
sie und ihre Welt wahrnehmen zu wollen, der wird in diesem Land
aufrichtig willkommen geheißen. Der ethnologisch Interessierte wird
überrascht werden: Insbesondere in der Dobrudscha – ich werde dar-
auf zurückkommen – finden wir noch Dörfer mit zum Teil auch mehr-
heitlich nicht-rumänischstämmiger Bevölkerung wie Türken, Russen,
Tscherkessen, Lipowaner, Tataren, Bulgaren, Deutsche, Italiener, Ser-
ben, Ukrainer, Ruthenen, Griechen, Aromunen. Bestimmt habe ich
eine Volksgruppe vergessen. Die größte ethnische Minderheit in Ru-
mänien, zweifellos auch die mit der größten politischen Brisanz stel-
len die Ungarn. Nicht vergessen werden darf die große Minderheit der
Zigeuner – eine an den Rand gedrängte Volksgruppe, oft noch in finsterem Elend lebend
wie eh und je, mit trauriger Vergangenheit. Wie die Juden wur-
den sie besonders in der Zeit der faschistischen Herrschaft verfolgt,
zwangsweise in Regionen dirigiert und verbannt, in denen eine große
Zahl von ihnen verhungern sollte und in der Tat auch verhungerte.

Der Schriftsteller und Roma-Kenner Zaharia Stancu stellt diese Szenerie in seinem Ro-
man 'Solange die Feuer brennen' eindrucksvoll und erschütternd dar. Die zahlreichen Juden, die
insbesondere in der Bukowina und in der Maramuresch lebten, konn-
ten kaum Nachkommen im heutigen Rumänien hinterlassen. Sie wur-
den fast völlig ausgelöscht oder verließen das Land. Das Ghetto von Czernowitz, die jüdische
Stadt Radautz, die Juden aus Sereth, die Juden aus Sighet ebenso wie
die Judenhatz in Rumänien, begonnen von den 'Grünhemden', den
'Legionären des Erzengels Michael', die Deportationen in die Todes-
und Sterbestädte jenseits des Dniester (Djnestr) unter General Antonescu, dem
Vasallen Hitlers, müssen in Erinnerung behalten werden. Unvergessen sind ihre literarischen
Vertreter: Elie Wiesel, geb. 1928 in Sighet, Rose Ausländer,
Paul Celan, Moses Rosenkranz, Leo Katz und viele ande-
re – und nicht zuletzt Edgar Hilsenrath, geb. 1926, der bei seiner
Deportation nach Transnistrien fast noch ein Kind war, das Ghetto in
der Mordstadt Mogilev Podolski (rum. Moghilau) wundersamer weise
aber überlebt hat. Kaum ein Buch hat mich so erschüttert wie Edgar
Hilsen raths Roman 'Nacht' (München 1964). Sehr ähnlich, näm-
lich 'Die Nacht – Erinnerung und Zeugnis' lautet der Titel von Elie
Wiesels berühmten Buch, in dem er beschreibt, wie er als als 15-Jähri-
ger die Hölle von Auschwitz überlebte.

Alle diese Menschen und Volksgruppen kamen in dieses Land als
Hungerleider, als Landsucher, auf ewig Vertriebene oder vom Lan-
desherren Angelockte, aber manche auch als Eroberer, Besatzer oder
als Religionsflüchtlinge. Viele wurden hin und her geschubst, weil
politische Grenzen verändert wurden durch Kriege oder willkürliche
Grenzziehungen vonseiten der Großmächte.

Die Dobrudscha war dabei ein Einfallstor beziehungsweise ein
Durchzugsgebiet für viele Menschengruppen zwischen Kleinasien,
dem Balkan und Russland. Sie brachten ihre Kultur mit, ihre Musik,
ihre Tänze, Trachten, Sitten und Gebräuche. Und ihre Sprache.
Rumänien ist auch wegen dieser Menschen, seiner Ethnien hoch-
interessant und mehr als eine Reise wert.

'Aha, ja, interessant, was ich da jetzt erfahren habe', höre ich den
einen oder anderen Leser sagen, 'aber ich will da trotzdem nicht hin-
fahren'. 'Mich zieht es ans Meer, in die Sonne, auf eine Insel, in ein
gutes Hotel.'

Der Entscheidungsprozess, ob und in welcher Weise man ein Land
bereisen oder eben nicht bereisen will, läuft auf mehreren Ebenen.
Möglicherweise am wenigsten auf der sachlichen Ebene. So mag man
(meine Person mit eingeschlossen) alle meine bisherigen Gedanken
und Begründungen getrost vergessen. Eher wird es ganz persönliche,
irrationale und emotional geprägte Gründe geben, die mich nach
Rumänien führen, andere Menschen aber genau dort nicht hin. Und
dann wirken ja auch noch die ganz fernen unbewussten Gründe, Wün-
sche und Phantasien, Sehnsüchte, Kindheitserlebnisse. Denen wollen
wir an dieser Stelle aber gar nicht auf die Schliche kommen, sondern
lassen sie in Ruhe wirken.

Die meisten werden diese Assoziationen bestätigen: Der Süden: Das
ist Italien, Sonne, Strand, Körperbräunung, amore. Der Norden: Polare
Luft, Weite, Abenteuer in einer unwirtlichen Grenzregion (am Polar-
kreis). Der Westen: Atlantik, Meer, Aufbruch, der Beginn des Wilden
Westens (route 66). Der Osten: Endlose Wälder, Land der Sehnsucht,
Land der Versprengten, Sibirien, Slawen, wilde Erobererhorden.
Aber wo finden wir hier das Land Rumänien wieder? Rumänien ist
nicht der Osten. Aber auch nicht der Süden! Es ist das Land im Süd-
osten, am letzten Zipfel der Balkanhalbinsel gelegen. Ein Brücken land
zudem, ein Land am Pontus! Ein besonderes Land.

Es war Patrick Leigh Fermor, der berühmte Reisende von der Insel,
der die Erkenntnis in Worte fasste: 'Willst du eine Reise tun, so lass
diese Drei zurück: Gepäck, Freunde, Urteile.'

Er sagte nicht: Vorurteile. Er meinte vielleicht: Gar keine Urteile. We-
der Vor- noch sonstige. Auch keine Urteile von anderen Menschen?
Solchen, die zum Beispiel Sehenswürdigkeiten beurteilen und Stern-
chen in Reiseführern vergeben, auf Highlights hinweisen. Zum Bei-
spiel: 'Beim Besuch der Stadt soundso sollten sie auf gar keinen Fall
versäumen, die einzigartige. aufzusuchen! Ein Besuch lohnt sich al-
lemal.' Oder in einem konkreten Fall auf einer meiner früheren Rei-
sen: 'Im ruhigen Örtchen Enisala 8 km östlich von Babadag ist neben
dem Museum Gospodaria Taraneasca [Bauernhof] die Zitadelle Hera-
clea mehr als nur einen Abstecher wert.' (Reiseführer Reise-Know-
How). Diese Empfehlung basiert auf einer Be-Urteilung. Sollte ich
auf den Tipp des Reiseführers pfeifen? Oder reicht es, wenn ich mich
einfach nur nicht von ihm gängeln lasse? Ich bin seiner Empfehlung
gefolgt. Das Bauernhausmuseum war geschlossen. Einen Hinweis auf
Öffnungszeiten habe ich nicht entdecken können. Dann habe ich mich
auf den Weg zur Zitadelle gemacht – und ich bereute es nicht. Obwohl
damals alles ganz anders kam. Das heißt, die Zitadelle konnte ich lei-
der nur von Weitem sehen, weil es so heftig zu regnen begann, dass
das Wasser von oben und der glitschige Boden unter meinen Wander-
schuhen es mir unmöglich machten, den Hügel zu erklimmen.

Statt seiner erklomm ich dann eine hohe Aussichtskanzel, welche
unweit des Ruinenhügels stand und von der aus Vogelschützer und
-freunde mit ihren Gläsern den Lacul Babadag überblicken konn-
ten. Ich saß dort oben, trocken, aber untätig, genoss immerhin den
fantastischen Blick auf den Hügel mit der Zitadelle und in der ande-
ren Richtung den Blick über den See mit seinen im kräftigen Win-
de wogenden Regenschwaden. Mittlerweile hatten einige zerfranste
Straßenköter meine Witterung aufgenommen und sich knurrend und
zähne fletschend am unteren Ende der Leiter versammelt. Sie betrach-
teten mich zweifellos als Eindringling in ihr Territorium, welches es
zu verteidigen galt, denn Futter war sicher knapp in diesem Gebiet,
und auch die Weibchen waren vermutlich schon alle vergeben. Dass
sich oben auf dem Turm ein Rüde verbarg, hatten sie bereits erwittert,
nachdem ich leichtsinnigerweise aber in höchster Not meine Blase
hatte erleichtern müssen. Trotz alledem: Es war ein wunderbares Er-
lebnis; allerdings der ganz anderen Art.

Nur soviel noch: Ich konnte mich letztlich vor den Hunden auf eine
nahe Straße retten, wo mich ein freundlicher Microbuz-Fahrer auflas.
Die Fahrt mit dem Microbuz über die Dörfer bis nach Tulcea war
indes sehr eindrucksvoll: Der Fahrer, ein Bulgare, breitete
vor mir sein Leben aus, ich musste ihm dafür meines erzählen. Und
dass ich ein richtiger Doktor bin. Ich fuhr kostenlos mit und bekam
die Anweisung, den ersten Sitzplatz vorne neben ihm einzunehmen.
Dort musste ich bleiben, auch dann noch, als sich der Bus langsam
aber sicher zum Bersten füllte und ich gerne meinen Platz einer der
alten, gebrechlichen und mit Gepäck überladenen Bäuerinnen über-
lassen hätte. Keine von ihnen hätte indes mein Angebot angenommen,
nachdem der Fahrer jedem neu herein drängenden Fahrgast mit der
Überreichung des Fahrscheins erklärte, welcher bedeutende Mensch
vorne neben ihm säße: Sein persönlicher Ehrengast nämlich! Aus Ger-
mania! Auf der Landstraße aufgelesen, kurz hinter Enisala!

Das war das zweite großartige Erlebnis des Tages. So war ich also
der Empfehlung des Reiseführers gefolgt und prompt abends um zwei
'erlebniswürdige' Eindrücke reicher. Zurück zu Patrick Leigh Fermor
und seiner (?) Erkenntnis bezüglich 'Urteile'. Ich habe ihn letztlich
so verstanden: Den Menschen offen gegenübertreten, die Dinge kom-
men lassen und bereit sein, sich auf Ungeplantes, Unvorhergesehenes
einzulassen.

Gepäck: Es ist kaum zu glauben, wie wenig man an Reise ausrüstung
tatsächlich benötigt. Eine erfreuliche Erkenntnis insbesondere dann,
wenn man alles selbst auf dem Rücken tragen muss. Mein gesamtes
Gepäck für drei Wochen habe ich erfolgreich minimiert auf deutlich
unter zehn Kilogramm, einschließlich Rucksack. Das Geheimnis: Ak-
zeptieren, dass man sich nicht für alle möglichen Situationen unter-
wegs präparieren, sprich: ausrüsten muss (es könnte zu kalt sein, zu
warm, heiß; man könnte Hunger bekommen, Mückenstiche, seine
Lieblingszahnpasta vermissen; möglicherweise reicht dies nicht oder
das – nehme ich also lieber zwei Packungen mit und so weiter). Zur
Not kann man auch in Rumänien einen Pullover kaufen. Und die klei-
ne Handwäsche unterwegs erspart auch viel Gepäck.

Jetzt müssen wir uns mit dem unerfreulichen Gedanken befassen,
die Freunde zuhause zu lassen. Oh! Tut man das? Und warum soll-
te man? Patrick Leigh Fermor handelte danach auf (allen?) seinen
Reisen, zumindest bei seiner 'Reise zu Fuß von Hoek van Holland
nach Konstantinopel' im Jahre 1933/1934, im Alter von 18 Jahren.
Damals floh er offenbar förmlich von zuhause, nachdem er 'mit
18 Jahren von sämtlichen Schulen geflogen war und in dieser ausweg-
losen Situation beschloss, an einem trüben Dezember tag im Jahr 1933
zu einer Wanderung nach Konstantinopel aufzubrechen' (A4). Mögli-
cherweise wollte er in dieser Situation von Freunden nichts mehr wis-
sen. Und verheiratet war er auch noch nicht. Da ist der Start alleine
recht einfach; niemanden von seinen guten Freunden muss man ab-
wimmeln, falls einer von ihnen gerne mitwill. Auch die Ehefrau nicht.
Wird man als Alleinreisender ein Abenteurer? Ein unkontrollierba-
rer, moralverachtender, sich alle Freiheiten erlaubender, überschwäng-
licher, dauertrunkener, egozentrischer Vagabund, der plötzlich weit fort in der
Fremde sein zweites, vielleicht wahres Gesicht zeigt (ohne dass die Da-
heimgebliebenen das beobachten und kontrollieren können)?

Welch versöhnliche Miene stellt sich auf dem Gesicht meines guten
Freundes ein, später, wenn ich wieder daheim bin und berichte und
dann im passenden Moment ihm zuflüstere: 'Du bist der Mensch, mit
dem ich mir am ehesten eine Reise zu zweit vorstellen kann.'
Andererseits – es mag paradox klingen: Als Alleinreisender ist man
selten allein. Es sei denn, man saust in seinem Blechpanzer inkognito
an den Menschen vorbei. Die Wahrscheinlichkeit, als erkennbar Frem-
der von Einheimischen angesprochen zu werden, ist sehr groß, wenn
man allein, nicht zu zweit oder gar in einer Gruppe reist, deren 'ge-
schlossene' Zusammengehörigkeit schon allein dadurch erkennbar
wird, dass diese Menschen sich in einer fremden Sprache untereinan-
der unterhalten. Ein Kontakt ergibt sich aber wie selbstverständlich,
wenn ich mit den Einheimischen reise (nicht 'gegen' sie), wenn ich auf
der Landstraße neben der Bäuerin laufe, die ihr Maisstroh nach Hause
schleppt, oder dem Autofahrer winke, dass er mich mitnimmt;
wenn ich im Personenzug im Abteil mit anderen zusammen sitze und
so wie meine Mitreisenden Brot und Käse auspacke; wenn ich einen
Einheimischen nach der Autogara frage oder mich im Bus
mit ihm gemeinsam auf einen Sitz quetschen muss.

Fermor reiste weite Strecken auf der Donau, hielt sich lange in der
ungarischen Puszta auf und erzählt von den vielen Menschen, denen er
begegnete und zu denen er 'wie selbstverständlich' Kontakt fand; die
ihn aufnahmen und bewirteten. Zeitweise hatte er aber auch durchaus
Mühe, sich von unangenehmen Mitreisenden auf Distanz zu halten.
Im Hafen von Turnu Severin betrat er 'zum ersten Mal das Regat –
das alte rumänische Staatsgebiet aus der Zeit vor Trianon': 'Als
ich stromabwärts blickte, wuchs in mir das Verlangen, den Osten von
Rumänien zu erkunden. Zu gern hätte ich mir ein Bild von der Heimat
jener Fürsten mit den sagenhaft klingenden Namen gemacht – Stephan
der Große, Michael der Tapfere und Mircea der Ältere; und dann
gab es noch Vlad der Pfähler, Vasile der Wolf, Johann der Grausame,
Alexander der Gute, Mihnea der Schlechte, Radu der Schöne. Vor
meinem inneren Auge erblickte ich Täler, Wälder und Steppen, Ebe-
nen mit gewaltigen, eine halbe Meile hohen Staubwirbeln, Schluch-
ten und bemalte Klöster, Sümpfe, in denen abstruse religiöse Fanati-
ker hausten, riesige Herden und Rinder – und Schafhirten mit
merkwürdig geformten Musikinstrumenten; und verstreut in Feld und
Wald einzelne Herrenhäuser, in denen hochgebildete Bojaren
lebten und sich in die Werke von Proust und Mallarme vertieften.'
Leider endet Fermors Bericht von seiner Wanderung nach Konstan-
tinopel mit seinem zweiten Band 'Zwischen Wäldern und Wasser'
hier, bei Turnu Severin. Nach meiner Kenntnis hat er seine Reise zu
einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt, stromabwärts bis zum Schwar-
zen Meer. 'Letzter Teil folgt' steht zu lesen auf der letzten Seite des
zweiten Bandes. Der dritte Band ist nur meines Wissens bis dato nicht
erschienen. Schade. Aber wir werden ja den fernen Osten des Landes
mit seinen Staubwirbeln und Sümpfen noch betreten.

Ohne Zweifel jedoch war Serge Ladko, von Sigmaringen aus, im Jah-
re 1876 mit seiner Jolle die gesamte Flussstrecke die Donau hinab ge-
fahren, hatte unterwegs allerhand Abenteuer und Angriffe auf sein
Leib und Leben bestanden, bis er schließlich in Kilia am nördlichen
Donauarm anlandete. Von dort musste er noch eine weitere, durch
Sumpfland und über grundlose Wege führende Hetzfahrt mit Pferd
und Wagen absolvieren, bis er schließlich doch noch rechtzeitig in
Sulina (von dieser Stadt an der Mündung des mittleren Donauarmes
werde ich später noch berichten), ankam. Dies gerade noch recht-
zeitig, um der Donaubande und ihrem Kopf, Striga mit Namen, die
Flucht aufs Schwarze Meer zu vereiteln. Serge Ladko war ein Bulgare
aus Rustschuk, heute Ruse, einer Stadt auf der bulgarischen Do-
nauseite gelegen, südlich von Bukarest. Er war von Beruf Donaulotse,
musste aber, inkognito, beinahe die gesamte Donau hinunterpaddeln, bis er
schließlich die Donaubande mit Kommissar Dragoschs Hilfe zur Stre-
cke bringen konnte. Und nicht nur das. Striga hatte sogar die Frau des
Ladko entführt, seine geliebte Natscha! Aber auch die konnte er am
Ende wieder in seine Arme schließen. Eine spannende Donaupaddel-
geschichte jedenfalls ist diese Kriminalerzählung 'Der Donaulotse',
von der nur der Autor, Jules Verne, weiß, ob in der Geschichte auch
Wahres mitspielte.


Dr. Horst Pfingsten ist Allgemeinmediziner und begeisterter Rumänienreisender.

Er hat das Land 2011 zum sechsten Mal bereist.

Seine erste Reise führte 1970 in den stalinistischen Zeiten der Ära Ceausescu als Student zusammen
mit drei Freunden nach Rumänien. Sie fuhren nach Siebenbürgen, kamen unter anderem nach Hermannstadt (Sibiu) und in die Südkarpaten.

Im Jahre 1999 besuchte Pfingsten Hermannstadt ein zweites Mal, diesmal zusammen mit seinem
damals zwölfjährigen Sohn. Von dort reisten sie mit der Schmalspurbahn namens Mocanita nach Agnita/Agnetheln. Deren Betrieb wurde im darauffolgenden Jahr eingestellt. Der Autor freut sich noch heute, dass er diese Fahrt erleben konnte, und auch für seinen Sohn bedeutet sie ein nie-
mals vergessenes Erlebnis.

Es folgten im Jahr 2008, diesmal erstmalig und später stets allein reisend, Touren in die Bukowina, in die West
karpaten und in das Donaudelta, 2009 in die Region Maramuresch, zu den Szeklern sowie nach Braila. Im Jahre 2010 war das Banat an der Reihe und das Apuseni-Gebirge und nun zuletzt 2011 die Dobrudscha,
rumänisch: Dobrogea.

Dieser Bericht soll von Pfingstens Reise in die Dobrudscha erzählen, wobei Erlebnisse und Erinnerungen
aus früheren Reisen sich mit Aktuellem verweben.

Es ist die erste Buchveröffentlichung des Autors.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.