Philbrick Freak
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-473-47720-3
Verlag: Ravensburger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Reality
ISBN: 978-3-473-47720-3
Verlag: Ravensburger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Rodman Philbrick wuchs an der Küste Neuenglands auf. Schon in der sechsten Klasse begann er heimlich Geschichten zu schreiben. Für einen kleinen Jungen war dies nicht gerade eine normale Beschäftigung. Später versuchte er zunächst erfolglos seine Bücher zu veröffentlichen. Er gab jedoch die Hoffnung nicht auf und schrieb immer weiter. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Hafenarbeiter, Schiffsbauer und Tischler. Nachdem er ein Dutzend weitere Romane für Erwachsene geschrieben hatte, bat ihn ein Verleger eine Detetivgeschichte für Jugendliche zu schreiben. Roman Philbrick war zunächst nicht daran interessiert, doch eine innere Stimme überredete ihn dazu sein erstes Buch für Jugendliche zu schreiben: 'Freak The Mighty' machte ihn bekannt und wurde mit erfolgreich verfilmt. Philbricks wichtigste Kritiker sind seine jungen Leser. Es ist ihm wichtig, dass Kinder lernen ihre Fantasie zu benutzen und auch selbst zu schreiben.
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KAPITEL 5
Manchmal ziehe ich mich in meinen Kopf zurück. Es ist kühl und dunkel da drin, und ich schwebe wie eine Wolke – nein, ich bin eine Wolke, so eine, wie man sie an einem windigen Tag am Himmel sieht und die dauernd die Form verändert, nur dass man die Veränderung eigentlich nicht sehen kann. Das passiert einfach so, und plötzlich erkennt man, dass die Wolke, die wie eine große Hand mit dicken Fingern aussieht, auf einmal eher einem Baseballhandschuh oder einem riesigen weichen Fernseher ähnelt. Einfach so.
Jedenfalls war ich mal wieder bei mir im Kopf, gleich nachdem die schöne Gwen mit diesem komischen Gesichtsausdruck weggerannt war: Was wollte er mit meinem kleinen Jungen, wollte er ihn etwa entführen?
Also, ich liege auf dem Boden unter meinem Bett, da ist es so ?nster, dass man kaum die Sprungfedern und so weiter sehen kann, und bald bin ich ganz woanders, als ob ich schweben würde, und es ist so vollkommen kühl und leer da drin, dass ich an gar nichts denken muss. Ich bin nichts, ich bin niemand, alles ist egal, ich bin überhaupt nicht da. Auszeit.
Nur dass ich diesmal nicht so lange bleiben kann, wie ich möchte, denn jetzt klopft Gram an die Tür und ruft: »Maxwell? Max, bist du da? Bitte antworte, Junge, es ist wichtig.«
Was wird schon sein. Ich zwänge mich aber trotzdem unterm Bett hervor – da unten wird’s auch immer enger –, klopfe mir den Staub ab und mache die Tür auf. Sie hat kein Schloss, aber Gram wartet immer, bis ich »herein« sage, weil sie nicht stören will; da legt sie großen Wert drauf.
»Maxwell«, sagt sie und macht einen kleinen Schritt ins Zimmer, und man sieht es ihr an, dass sie lieber nicht da wäre, sie zieht so ein Gesicht, weil es hier unten so dunkel und unordentlich ist und wahrscheinlich nach meinen Strümpfen riecht oder was weiß ich. »Max, Junge, entschuldige die Störung – du weißt ja, ich komme sonst nie in den Keller – aber eben hat mich Gwen Avery angerufen, und ich glaube, es ist wichtig.«
Oha, denke ich. Da hat die schöne Gwen also schon meine Gram angerufen und ihr wahrscheinlich von einem großen hässlichen Ungeheuer berichtet, das im Keller lebt; ich mache innen dicht und erwarte das Schlimmste.
»Sie hat angerufen und sich entschuldigt«, sagt Gram.
»Hä?«
»Ich nehme an, sie hat ihren Kleinen abgeholt, stimmt das? Du und Kevin, ihr habt Freundschaft geschlossen, nicht wahr?«
Freundschaft geschlossen. Wie bescheuert sich das anhört! Aber Gram kann man ziemlich leicht verletzen, also sage ich das lieber nicht. Ich sage nur: »Ja, kann sein.«
Gram ist nervös, das erkenne ich daran, wie ihr Blick im Zimmer herumhuscht, als ob sie grade die Grenze in ein total fremdes Land überschreitet. Und da kann ich auch gleich hier darauf hinweisen, dass Gram, auch wenn sie meine Großmutter ist, überhaupt nicht aussieht wie eine Oma, eher wie eine Mutter; denn, wie sie immer sagt, war sie »selbst noch ein Kind«, als meine richtige Mutter geboren wurde.
»Hm, na ja, ich hatte den Eindruck, es hat die Ärmste irgendwie erschreckt, dass du so groß bist, und jetzt meint sie, dass sie dich beleidigt hat. Könnte das sein?«
»Möglich. Kennst du die etwa?«
»Aber ja«, sagt Gram. »Gwen war mit deiner Mutter befreundet. Die beiden waren zur selben Zeit schwanger. Später warst du mit dem kleinen Kevin im selben Kindergarten. Hast du das gewusst?«
Ich zucke die Schultern, weil Gram eigentlich gar nicht wissen soll, an wie viel von damals ich mich erinnern kann.
»Sie hat gesagt – und das soll ich dir unbedingt sagen, Max, hat sie mich gebeten –, es freut sie sehr, dass du und Kevin Freunde sein wollt. Genau so hat sie es gesagt – es freut sie sehr. Und sie hat dich zum Abendessen eingeladen.«
Ohne nachzudenken frage ich erst einmal: »Muss ich da hin?«
Gram legt mir eine Hand auf die Schulter, ganz leicht; ich fühle, wie nervös es sie macht, mich auch nur anzufassen, und wie unangenehm es ihr ist, zu mir hochsehen zu müssen – habe ich schon erwähnt, dass ich viel größer bin als Gram? Auch größer als Grim? Größer als die meisten Leute? Echt wahr.
Gram sagt: »Sie meint, sie hat dich ungerecht behandelt, Maxwell, und das möchte sie wieder gutmachen. Du musst nicht gehen, aber besser wäre es schon.«
»War doch gar keine große Sache«, sage ich. »Sie ist doch bloß weggelaufen. Wahrscheinlich habe ich sie erschreckt.«
»Es hatte nichts mit dir zu tun«, sagt Gram.
»Nein? Wovor hat sie sich denn dann erschreckt?«
Jetzt weiß sie nicht mehr weiter, sie schluckt, als ob ihr der Mund ausgetrocknet ist. »Das soll dir Gwen lieber selbst erzählen«, sagt sie. »Sie ist eine ziemlich bemerkenswerte junge Frau, musst du wissen. Zieht den armen Jungen ganz alleine auf.«
»Von wegen armer Junge«, sage ich. »Du solltest ihn mal reden hören. Ich glaube, sein Körper ist nur deshalb so klein, weil sein Gehirn so groß ist.«
»Ja«, sagt Gram. »Gut, gut.«
Gram sagt dauernd »gut, gut«, als ob das irgendwas zu bedeuten hat, und vielleicht bedeutet es für sie ja wirklich was. Jedenfalls nehme ich die Einladung zum Abendessen mit Freak und seiner Mutter an, auch wenn ich dabei ein ungutes Gefühl habe, als ob ich eine Hand im Bauch hätte und die Hand eine Faust macht.
Aber dann ist es gar nicht so übel. Die schöne Gwen strahlt mich freundlich an, und in der Küche ist sie mächtig aufgekratzt und redet wie ein Wasserfall, so schnell, dass die Wörter irgendwie zusammenkleben.
»HatSusanentschuldigeichmeinedeineGroßmutterhatsieerzähltdassdeineMutterundichbefreundetwarendasheißt…bissiegeheiratethatentschuldigeaberichkonntediesen Mann…einfachnichtausstehenfürmichwardaseinVerrückterund…einunheimlicherMannundkannichdavonausgehendassdichdas…nichtbeleidigt?«
Ich brauche ein Weilchen, bis ich das verstanden habe, und dann sage ich: »Ja, Gram hat’s mir erzählt«, und dazu, dass sie meinen Vater kennt und für nicht ganz richtig im Kopf hält, sage ich gar nichts. Ist bestimmt besser so.
»Du warst ein richtig süßes Baby«, sagt Gwen. »Ich erinnere mich, als ob’s erst gestern gewesen wäre. Damals haben wir alle drüben in der Wohnsiedlung gewohnt, weil die Mieten dort so niedrig waren und wir alle sozusagen am Anfang standen.«
Freak hockt auf dem Fußboden und wühlt in Umzugskartons herum, wo Töpfe und Pfannen und so was drin sind, er ist fast ganz in einem Karton verschwunden, man sieht nur noch sein komisches kleines Hinterteil rausragen. Er ist so klein, man könnte ihn glatt für einen Zweijährigen halten, wenn da nicht diese Beinschiene unter der Hose zu sehen wäre.
Er spricht aus dem Karton: »Hey, Gwen, lass den Jungen in Ruhe, ja? Du bist mal wieder spastisch.«
»Tatsächlich?«, fragt Gwen. Sie steht an der Anrichte und sucht in den Schubladen nach Löffeln oder was weiß ich. »Entschuldige, Max. Ich meine, entschuldige, aber wir haben irgendwie falsch angefangen. Weil, na ja …«
Freak steckt den Kopf aus dem Karton, er hat so ein fieses überlegenes Grinsen im Gesicht. »Sie will einfach nur sagen, dass du deinem Alten zum Verwechseln ähnlich siehst.«
Gwen sagt: »Kevin, bitte«, aber ganz leise, als ob ihr das peinlich wäre.
»Ja«, sage ich. »Das sagen alle.«
»Tatsächlich?«
Ich zucke die Achseln. Ist das denn wirklich so eine große Sache, wenn ein Junge wie sein Vater aussieht? Typisch Blödmann, so zu denken, denn natürlich ist es eine große Sache, wenn dein Vater nun mal im Gefängnis sitzt. Und das wissen alle in der Stadt; was er getan hat oder warum er da sitzt, ist ganz und gar kein Geheimnis, nur dass alle so tun, als ob es ein Geheimnis sein sollte, und je größer ich werde und je mehr ich meinem Alten ähnlich sehe, desto schlimmer wird das alles.
»Haben Sie ihn gekannt?«, frage ich. »Ich meine, ihn und meine Mutter, als sie noch zusammen waren?«
»Nicht besonders gut«, sagt Gwen. Sie sucht nach einem Messer, um eine Packung Hotdogs aufzuschneiden. »Nach der Hochzeit habe ich deine Mutter nicht mehr oft gesehen. Er hat es … deiner Mutter schwer gemacht, noch Freunde zu haben.«
Auf dem Tisch liegt ein Messer, ich nehme es und gebe es der schönen Gwen. Sie zuckt nicht zurück, und für mich steht fest, sie ist in Ordnung, eine richtig coole Frau.
»Also«, sagt Freak. »Wann essen wir? Meine Brennstoffzellen sind erschöpft.«
Das Essen ist toll. Die schöne Gwen hat einen leckeren Kartoffelsalat gemacht, richtig gut gewürzt, viel besser als das matschige Zeug, das Gram immer auftischt, und dazu gibt es gebratene Hotdogs in Brötchen, die schön knusprig getoastet sind, wie ich’s am liebsten habe, und zwei verschiedene Soßen und drei Sorten Senf und ganz klein geschnittene rote Zwiebeln.
Wir sitzen draußen im Garten und essen von Papptellern, und Freak erzählt Robotergeschichten, die so seltsam und so komisch sind, dass ich lache wie ein Irrer und mich verschlucke und huste und Freak mir auf den Rücken klopfen muss.
»Heraus damit!«, ruft Freak. »Spuck’s aus, du Trampeltier!« Dann haut er mir noch mal auf den Rücken, und ich huste diesen ekligen Brei wieder hoch, muss aber immer noch so sehr lachen, dass mir die Nase läuft.
Ganz schön bescheuert, nur dass es wirklich komisch ist, wie ich da versuche, einen Hotdog durch die Nase zu husten, und...




