E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Piazza Die Insel der letzten Geheimnisse
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-22101-0
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-22101-0
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Niemals wollte Thérèse nach Korsika zurückkehren, auch wenn sie immer wieder eine Sehnsucht verspürt nach dem alten Haus der Familie auf den Klippen hoch über dem Meer. Doch nun erfordert eine Erbsache ihre Anwesenheit vor Ort. Sofort nimmt die raue Schönheit der Insel sie wieder gefangen: die Wildheit der Macchia, die Wellen, die gegen die Felsen branden. Aber nur zu bald holt die dunkle Vergangenheit ihrer Familie sie ein. Sie fühlt sich beobachtet, und eines Morgens wacht sie als Gefangene in einem fremden Haus auf. Was geht hier vor sich? Niemand will ihr helfen. Denn auf dieser Insel kennt zwar jeder außer Thérèse die Wahrheit, aber alle schweigen ...
Emma Piazza wurde in Pavia geboren; ihre Mutter ist Italienerin, ihr Vater Korse. Sie arbeitet in einer literarischen Scout-Agentur und lebt derzeit in Barcelona. Mit 'Die Insel der letzten Geheimnisse' hat sie sich ihren Traum erfüllt und das Buch geschrieben, nach dem sie immer gesucht hat.
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Kapitel eins
Lissabon, Ende Februar 2016
Du fehlst mir. Das ist das Erste, was ich dir sagen möchte. Du fehlst mir, und seit du nicht mehr da bist, ist mein Leben ein einziges Tappen im Dunkeln.
Ich habe gleich die erstbeste Wohnung gemietet, die mir untergekommen ist. Sie ist wunderschön, aber auch teurer als geplant, geht nach Südwesten und hat ein hohes, breites Fenster, durch das viel Licht hereinfällt. Ich habe diese Wohnung ganz allein für mich gemietet – du wirst sie vielleicht nie zu sehen bekommen. Der Gedanke, dass es etwas in meinem Leben gibt, das du nicht kennenlernen wirst, bricht mir das Herz.
Ich darf nicht daran denken.
Ich stelle den Kaffee von gestern zum Aufwärmen auf den Herd, mache das Fenster weit auf und lasse die Sonne und ihre Kraft herein. Lissabon wird nicht umsonst die »Stadt des Lichts« genannt.
Und gerade jetzt brauche ich einen Ort, der mich daran erinnert, dass jeden Morgen die Sonne wieder aufgeht und einen neuen Tag bringt. Ich hole tief Luft und sage mir, dass alles in Ordnung ist. Noch ist der nächste Abend mit seinen Schatten weit weg.
Zunächst aber erwartet mich draußen ein heller Tag.
Die Straßen scheinen direkt in den Himmel hinaufzuführen, der dunkelrot leuchtet. Wenn ich in eine von ihnen einbiege, stelle ich mir vor, dass an ihrem oberen Ende das Nichts beginnt. Ich laufe ziellos herum, ich muss meinen Kopf freikriegen. Pastellfarbene Häuser, Mosaikfliesen, ein alles beherrschendes Weiß.
Die ganze Stadt ist weiß, und ich fühle mich wie ein schmaler dunkler Umriss auf einem weißen Blatt Papier.
Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte, der Umzug würde mir helfen, dich zu vergessen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Da ist nämlich etwas, das mich geradezu zwingt, öfter an dich zu denken, als mir lieb ist.
Und es schmerzt, dass du nicht anrufst. Als ob ich aus deinen Gedanken verschwunden wäre, so wie ich manchmal von dieser Welt verschwunden zu sein scheine.
Dann wieder sage ich mir, dass all das nur Gefühle sind. Das Gehirn ist voller Gift, wenn es unter Stress steht. Um den abzubauen, esse ich viel Gemüse, vor allem Brokkoli, und trinke Wasser mit einem Schuss Zitrone wegen der Vitamine.
Obwohl ich mir immer wieder einrede, dass ich jung und stark bin und das ganze Leben noch vor mir habe und dass sich mir gerade die Chance schlechthin bietet, kann ich einfach nicht vergessen, was du mir bedeutet hast. Deshalb setze ich mich auf meinen Streifzügen immer wieder auf eine Bank und breche in Tränen aus.
Und frage mich, ob du mich hörst.
Ich bin dreißig und attraktiv, vielleicht sogar schön. Meine Augen sind schmal und grün. Wie bei einer Spionin, hast du immer gesagt. Dazu gelockte, schulterlange Haare, weizenblond, zwischen denen ich vor einigen Tagen ein weißes entdeckt habe. Meine Figur ist noch immer schlank, wenngleich meine wohlgerundeten Hüften und meine Brüste nicht mehr die eines jungen Mädchens sind. Aber ich habe es satt, ständig über mein Aussehen nachzudenken – jetzt, da ich meinen Zenit zu überschreiten beginne, wird mir bewusst, wie unwichtig mir das eigentlich ist. Wenigstens für eine Weile will ich das ausblenden. Schließlich bin ich in diese Stadt gezogen, um nicht mehr nachzudenken.
An nichts zu denken.
Kein Ziel zu haben.
Bis zur Erschöpfung spaziere ich durch Lissabon. Damit fülle ich die Leere. Ganz egal, welche Straße ich nehme, früher oder später lande ich fast immer auf der Praça do Comércio, einem der zentralen Plätze der Stadt, und betrachte das Meer und den Fluss. Heute ist das nicht anders.
Als ich wieder zu Hause bin, habe ich weiche Knie, und meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Stille umfängt mich, ein angenehmes und zugleich schmerzhaftes Gefühl. Die leere Leinwand in der Mitte des Raumes starrt mich vorwurfsvoll an und erinnert mich daran, wie schwer es ist, alles zurückzulassen.
Vielleicht sogar noch schwerer als für das zu kämpfen, was einem wichtig ist. Du hingegen hast es schon so viele Male getan, hast einfach alles hinter dir gelassen, und vielleicht sollte ich ebenfalls lernen, im Hier und Jetzt zu leben, den Moment zu genießen. Heute Abend jedoch, vor dieser leeren Leinwand, fühle ich mich vollkommen kraftlos.
Heute ist Samstag, und die Sonne geht langsam zwischen den Wolken unter. Ich lasse das Fenster einen Spaltbreit offen, und obwohl es noch früh ist, schlüpfe ich ins Bett und lasse mir unter meiner Decke von der Lissabonner Luft das Gesicht streicheln. Und während ich auf den tröstenden Schlaf warte, wandern meine Gedanken in eine Zukunft, in die du nicht eingeladen bist.
Nach nicht einmal zwei Stunden schrecke ich hoch. Ich habe schlecht geträumt, und mir ist kalt. Außerdem hat eine Windböe das Fenster zugeschlagen. Ich stehe auf und verriegele es, hole mir einen Pulli und rolle mich auf dem Sofa zusammen.
Ich schaffe es nicht, an etwas Schönes zu denken. Jedes Mal, wenn ich früh einschlafe und plötzlich wach werde, bin ich schlechter Laune.
Was soll ich machen?
Es ist fast neun. Ausgehen kommt nicht infrage. Draußen ist es dunkel, das Licht hat mich verlassen. Seit einigen Monaten habe ich Angst vor der Dunkelheit.
Ich starre auf einen Punkt im Nichts, streiche abwesend über meine Haare, rufe mir Situationen aus meinem früheren Leben ins Gedächtnis, die jetzt schmerzliche Erinnerungen sind.
Ein Geräusch am Fenster lässt mich zusammenfahren.
Durch die Scheibe sehe ich einen Schatten, auf dem Balkon bewegt sich etwas, ich stehe auf, um nachzuschauen. Mein Herz schlägt schneller. Draußen auf dem Balkon frisst eine Möwe einen kleineren Vogel. Ich habe einen Moment gebraucht, bis ich es erkannt habe, denn die Flügel der Beute sind bereits vom Körper gelöst und liegen auf der anderen Seite des Balkons.
Als die Möwe mich bemerkt, sieht sie mich aus ihren gläsernen schwarzen Augen an. Ihr Schnabel ist blutverschmiert. Die Brust ihres Opfers hat sie bereits gefressen, nur der Kopf ist übrig, wenngleich kaum noch als solcher zu erkennen.
Ich traue mich nicht, die Türen zu öffnen und sie zu verscheuchen, zu groß ist meine Angst, sie könnte mich angreifen. Während sie mich anstarrt, einen undefinierbaren Fetzen im Schnabel, wird mir schlecht – so schlecht, dass es mir hochkommt und ich ins Bad renne.
Nachdem ich mich übergeben habe, atme ich tief durch, um mich zu beruhigen und mich der Situation erneut zu stellen.
Ich zwinge mich, ins Wohnzimmer zurückzugehen und einen Blick auf den Balkon zu werfen, aber die Möwe ist nicht mehr da. Außer den Flügeln hat sie nichts von dem Vogel übrig gelassen. Ob ich mich überwinden kann, den Balkon sauber zu machen? Vielleicht kann ich die Überreste ja einfach runterwerfen.
Als ich gerade Schaufel und Besen aus der Küche hole, klingelt das Handy, und das Display leuchtet auf.
Mein erster Gedanke ist, dass du es sein könntest. Doch dann fällt mir ein, dass du meine neue Nummer gar nicht hast. Die Einzige, der ich sie gegeben habe, ist meine Mutter. Außer dem Anruf sind eine Menge WhatsApps eingegangen.
Der Anruf kommt aus Frankreich, das erkenne ich an der Vorwahl.
»Hallo?«
Mir antwortet eine weibliche Stimme auf Französisch, die ich nicht gleich identifizieren kann. » Thérèse, hier ist Tante Louise. Wir haben uns schon eine Weile nicht mehr gesprochen, ich hoffe, es geht dir gut.«
Sie übergeht die Tatsache, dass meine Großmutter sich vor zwei Jahren eine neue Nummer zugelegt und es nicht für nötig gehalten hat, sie mir mitzuteilen.
»Ich habe euch doch einen Brief geschickt, weil ich euch telefonisch nicht erreichen konnte«, erwidere ich.
»Wir haben gar nichts bekommen. Wie schade.«
»Na so was, das ist ja wirklich seltsam.«
»Stimmt«, antwortet sie und fährt gleich fort: »Jedenfalls habe ich gute Nachrichten für dich: Großmutter teilt das Erbe auf, sie will dir eines ihrer Häuser auf Korsika vermachen. Dazu müsstest du allerdings herkommen und die Eigentumsübertragung unterschreiben.«
»Oh.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die ganze Sache ist irgendwie komisch. Ich bin sicher, dass Großmutter mir das Haus nur deshalb vermachen will, damit mein Vater es nicht erbt, was meine Tante natürlich mit keiner Silbe erwähnen wird.
»Wann soll ich denn kommen?«
»So schnell wie möglich.«
»In Ordnung … Ich muss mal sehen, wie ich am besten anreise.«
Ich frage sie nach Großmutter. Sie sagt, es gehe ihr gut und sie wolle mich sehen. Was natürlich gelogen ist, aber egal.
Ein Haus könnte ich gut gebrauchen, ich könnte es verkaufen und mir eine Wohnung in Lissabon zulegen. Oder in Barcelona, wo ich vorher gelebt habe. Ich könnte selbst darin wohnen oder sie vermieten und von den Mieteinnahmen leben. Eine Wohnung, die ganz allein mir gehört.
Mit wem sollte ich sie auch teilen?
»In Ordnung«, sage ich also, »ich schaue nach einem Flug. Ist das deine Nummer? Gut, geht klar, ich danke dir.«
Nachdem ich aufgelegt habe, ist mir seltsam zumute. Mein Rücken ist schweißnass, und aus irgendeinem Grund zittere ich am ganzen Körper.
Ich schaue mir die WhatsApps an, sie sind alle von meiner Mutter.
, schreibt sie. . Dann: Irgendwie beunruhigt mich die Neuigkeit. Auch wenn es eine erfreuliche Nachricht ist, sagt mir irgendetwas, dass ich vorsichtig sein muss. Außerdem will ich mich nicht mit meinem Vater überwerfen. Eigentlich wollte ich mit keinem von ihnen mehr etwas zu tun haben. Korsika ist für mich zu einem schwarzen Loch geworden, in das meine...