polar 11: Sicherheit | Buch | 978-3-593-39520-3 | www.sack.de

Buch, Deutsch, Band 11, 192 Seiten, KART, Format (B × H): 160 mm x 230 mm

Reihe: polar - Magazin

polar 11: Sicherheit

wild & gefährlich
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-593-39520-3
Verlag: Campus

wild & gefährlich

Buch, Deutsch, Band 11, 192 Seiten, KART, Format (B × H): 160 mm x 230 mm

Reihe: polar - Magazin

ISBN: 978-3-593-39520-3
Verlag: Campus


Sicherheit war bislang die Leitmelodie der Konservativen. Heute vernimmt man das Leiden an Flexibilisierung und Mobilisierung nicht minder auf Seiten der Linken. 'Lebe wild und gefährlich' – das war einmal. Unter dem Eindruck von prekären Arbeitsverhältnissen, Finanzkrise und Klimazerstörung hat sich die Wahrnehmung verschoben, die Nachfrage nach Stabilität wächst. Wenn wir über Sicherheit reden, reden wir auch über Freiheit. Was wird aus Selbstbestimmung und Emanzipation? Freiheit kann Sicherheit gefährden, aber gelebte Freiheit setzt auch Sicherheit voraus. 'polar' geht diesem schwierigen Verhältnis nach, dem Widerspiel von Sicherheit und Risiko in allen Lebensbereichen. Ein Heft über innere und äußere Sicherheit, über eine Politik der Angst, über Casino-Kapitalismus und Sozialstaat.

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Weitere Infos & Material


Inhalt

Sorge

Sicherheit und Freiheit 9
Eine falsche Gegenüberstellung
Herfried Münkler

Die Ich-GmbH 15
Alternativen zum stahlharten Gehäuse der Verantwortung
Thomas Biebricher/Frieder Vogelmann

Kinder der Sorge 21
Ein Mythos über die Sicherheit
John T. Hamilton

Zuviel des Guten 29
Sicherheit als Aufgabe des Staates nach Hobbes
Achim Vesper

It’s out there… 35
Pathologie der Sicherheit und Poetik der Überempfindlichkeit in Todd Haynes’ Safe
Dirk Setton

Soziale Sicherheit 43
Ein unstillbares Bedürfnis
Berthold Vogel

Ist es links?: >GrundeinkommenNur duPermanenter StressBefestigtes LagerLiteraturMusikFilmSchutzschild<174
Martin Saar

Schönheiten

Eindringlinge 177
Rodrigo Plàs Die Zone
Franziska Schottmann

Entwarnung 178
Die Shell Jugendstudie
Kendra Briken

Ohne Bindung 179
Glenn Gould spielt das E-Moll Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier
Johannes Kleinbeck

Paranoia 180
Rainald Goetz’ früher Roman Kontrolliert
Charis Goer

Ohne Gewähr 181
Der Schwätzer von Louis-René des Fôrets
Anna Sailer

Gefangen 183
Foucaults Überwachen und Strafen
Christoph Raiser

Sagbares 184
Gilles Roziers Un amour sans résistance
Luisa Banki

Mehr vom Leben 185
Wie Versicherungen heute Überschreitung denken
Jan Engelmann

Unschuldig186
G.K. Chestertons Roman Menschenskind
Hester Euteneuer

Unverstanden187
Max von der Grüns Irrlicht und Feuer
Steffen Stadthaus

Roundtable 188
Autorinnen und Autoren 190
Impressum 192


Interview Christiane Rösinger
'Love is dead'

Die Sängerin, Songwriterin und Autorin Christiane Rösinger wurde mit den Lassie Singers berühmt und war Frontfrau der Band Britta. Gerade hat sie ihr erstes Solo-Album Songs of Love and H. veröffentlicht. Ihr neues Buch Liebe wird oft überbewertet geht der Frage nach, warum es glücklichen Singles in der paarorientierten Gesellschaft doppelt schwer gemacht wird. Im polar-Gespräch mit Julia Roth erörtert die Kuratorin der legendären Kreuzberger 'Flittchenbar'-Gala-Abende das fatale Wechselspiel zwischen einem neu entflammenden Bedürfnis nach Sicherheit und der Vergötzung der Liebe.

polar: Das großartige Stück 'Die Pärchenlüge' Deiner früheren Band Lassie Singers ist eine Kampfansage an das Diktat der Sicherheit und kuschelige Zweierbeziehungen. Beim Record-Release-Konzert Deiner neuen Soloplatte Songs of Love and H. neulich in Berlin hast Du es als das einzige Lied bezeichnet, hinter dem Du immer noch vorbehaltlos stehst.

Christiane Rösinger: Gleichzeitig war es auch eine Marketingmaßnahme für mein Buch Liebe wird oft überbewertet (lacht). Das Lied hatten wir vorher fünfzehn Jahre lang nicht gespielt, und als wir es jetzt wieder ins Programm aufgenommen haben, fand ich es in seiner Radikalität ganz gut. Wenn man sagt: 'Pärchen stinken und lügen'. Es hat mir gefallen, dass ich früher schon den Mut hatte, diese unbequeme Wahrheit auszusprechen.

polar: Hat sich am Sicherheitsbedürfnis, das hinter dieser ›Pärchenpflicht‹, wie Du sie nennst, steht, Deiner Meinung nach etwas geändert?
Rösinger: Es ist manchmal erschreckend, dass junge Leute so arg spießig geworden sind. Es ist schon seltsam, dass bestimmte Familienwerte wieder so hoch im Kurs stehen, selbst wenn’s gar keinen Spaß macht. Wenn die Leute glücklich sind, könnte man ja sagen: okay. Aber ich kriege es manchmal mit, dass Paare, die sich wirklich gar nicht verstehen, um der Kinder willen noch zusammen bleiben oder sich noch ein zweites Kind zumuten. In den Achtzigern hatte man sich erkämpft, dass es als nicht schlimm gilt, ein Kind alleine großzuziehen. Es ist inzwischen Gang und Gäbe, dass man das hinkriegt, dass das Kind drei Tage beim Vater, drei Tage bei der Mutter ist, auch wenn man einen persönlichen Groll hat. Eigentlich verstehen sich Mütter und Väter ja besser, wenn sie nicht mehr zusammen sind. Das wird jetzt so in Frage gestellt. Dass dieses Familienideal so hochgehoben wird, versteh ich nicht so ganz.
polar: Woran liegt das Deiner Meinung nach?

Rösinger: Manche sagen ja, es sei die Generation der Scheidungskinder, die so traumatisiert wären, die jetzt erst recht die Familie zusammenhalten wollen. Es ist auch ein mangelndes Zutrauen in sich selber. Ein Leben in Freiheit erfordert einen gewissen Mut. Wenn ich manchmal Gespräche von 28jährigen mitverfolge, die ein dreiviertel Jahr darüber nachdenken, ob sie eine Katze halten sollen oder nicht – da werden so kleine Sachen total aufgeblasen. Ich denke immer, dass es doch ein Privileg von so jungen Leuten ist, zu sagen ›das mach ich jetzt einfach mal‹. Das ist glaub ich weniger geworden. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass denen schon eingetrichtert wurde ›ihr werdet keinen Job finden, nichts ist für ewig, ihr müsst für euch selber sorgen‹. Andererseits wurde mir das auch immer eingetrichtert und ich habe auch nicht drauf gehört. Es muss gesellschaftliche Hintergründe haben, sonst würde sich ja nicht eine ganze Generation so verhalten.

polar: Du betonst zwar immer, dass das 'Berlin-Lied' auf dem neuen Album eine Hymne auf die Stadt sei. Gleichzeitig ist es sehr bissig gegen Kleinfamilien und ihre 'Arschlochkinder' …

Rösinger: Es ist eine Hymne an Berlin, weil ich ja so gerne hier wohne, aber ein Lied lebt davon, dass man alles überspitzt. Es gibt ja ganz entzückende Kinder, zum Beispiel mein Enkelkind (lacht). Aber es gibt auch jede Menge Arschlochkinder, vor allem in Berlin. Meistens sind die Eltern von Arschlochkindern schon Arschlöcher. Die verwechseln so eine Laissez-faire-Haltung oder antiautoritäre Erziehung – was ja eigentlich gut ist – damit, dass sie sich im öffentlichen Raum gar nicht um die kümmern und gar keine Rücksicht mehr auf andere nehmen. Wobei ich sagen muss, hier in Kreuzberg geht’s eigentlich. In dem Lied werden zwar keine Bezirke benannt, aber es weiß glaube ich jeder, welchen Bezirk ich meine.

polar: Ist Sicherheit da nicht oft eine Fassade für Bequemlichkeit?

Rösinger: Für Bequemlichkeit und Zufriedenheit. Ich beschäftige mich ja gerade durch mein Buch mit dem Thema Single- gegen Beziehungsleben. Die Freiheit, die man im Singleleben hat, kann Leuten auch Angst machen. Der Soziologe Émile Durkheim sagt, die Ehe ist so gut für den Menschen, weil sie Grenzen setzt. In der Ehe lernt man, dass Wünsche nicht in Erfüllung gehen, dann beruhigt man sich, und das führt zu einer Befriedung. Bei manchen Leuten funktioniert das nicht. Sie finden sich nicht mit dieser Zufriedenheit ab und trennen sich und sind dann wieder lieber allein. In unserer paarorientierten Gesellschaft ist Alleinsein das Außergewöhnliche neben der Norm, was es auch schwierig macht, es zu akzeptieren. Vor dem Alleinsein haben viele Leute große Angst und projizieren die auf dich zurück. Das ist auch dieses Sicherheitsdenken. Das hört sich verrückt an, aber eigentlich fühlt man sich wohl, ist ausgelastet, hat Freunde. Doch ständig wird einem suggeriert, dass irgendwas nicht stimmt. Moralisch gesellschaftlich stehst du als befreiter, glücklicher Single schlechter da als jemand, der eine Scheiß Beziehung hat. Meistens bezahlen leider Frauen einen großen Preis. In meiner Forschung bin ich auf Extrembeispiele von Frauen gestoßen, die in gewalttätigen Beziehungen bleiben, weil sie allen Ernstes sagen, sie könnten sich nicht vorstellen, samstagabends allein zu Hause zu sein. Das ist schon brutal.

polar: Sicherheit geht meist auf Kosten von Freiheit. Leute mit einer Ost-Sozialisation sind oft ein wenig offener und risikofreudiger.

Rösinger: Leute, die nicht gerade aus so gutbürgerlichen Verhältnissen kommen sind auch ein bisschen risikofreudiger – Nicht-Akademikerkinder, nicht gehobene Mittelschicht. Es ist was anderes, wenn man wie ich nie viel Geld hat. Ich komme ja aus einer Bauernfamilie, die nicht wohlhabend und nicht obere Mittelschicht war, bekam dann BaFöG. Wenn man immer so lebt, gewöhnt man sich dran. Man braucht ganz viele Sachen gar nicht. Und ich glaube, wenn man schon mal in so einer gehobenen Mittelschicht aufwächst und sich an einen gewissen Standard gewöhnt hat, dann ist die Angst vor dem Abstieg wieder größer. Ich finde es immer ganz gut, dass ich ein bisschen draußen bin aus dem ganzen System. Aber den Leuten, die dieses Sicherheitsbedürfnis von den Eltern mitgekriegt haben, muss es schon sehr schlecht gehen zur Zeit.

polar: Auf Deiner neuen Platte ist Deine Gesellschaftskritik ein bisschen subtiler. Eher ein genereller Weltschmerz und mehr Ironie.
Rösinger: Wir haben gesagt, wir machen jetzt die traurigste Platte aller Zeiten. Es ist ein bisschen so ein Liebeskummer-Zyklus. Weil, selbst wenn man das alles durchschaut, dass Liebe oft überbewertet wird, ist es leider trotzdem so eine starke Ideologie – ein starkes Gift, ein süßes Gift – dass auch derjenige, der fast alles durchschaut hat, nicht davor gefeit ist, drauf reinzufallen. Von daher ist es ein Liederzyklus, der sich mit der Überwindung von Liebeskummer befasst. Es sind zehn Lieder, anfangs ist noch ein bisschen Hoffnung, und dann geht es um die Verarbeitung und die verschiedenen Phasen, die man durchläuft. Aber danach ist auch Schluss mit dem Thema.
polar: Viele Deiner Lieder sind aber schon Liebeslieder. Gibt es die Hoffnung oder die Utopie, dass es etwas geben könnte, das auf Augenhöhe funktioniert?

Rösinger: Es handelt meistens davon, dass man denkt dass es diese RZB, wie ich es nenne, diese Romantische Zweierbeziehung, gibt. Diese Idee hat etwas sehr verführerisches, wie eine Drogenwirkung: Dann ist alles schöner. Aber die Lieder handeln schon davon, dass es nicht funktioniert. Ich kann mich nicht erinnern, dass bei den vielen Liedern, die ich geschrieben habe, eins dabei ist, wo das anders ist. In der Wirklichkeit ist es halt zeitlich begrenzt. Danach, wird immer gesagt, würde das Gefühl umgewandelt in echte Liebe. Liebe sei Arbeit. Es gibt ja dieses Schlagwort von der Vergötzung der Liebe. Die Liebe muss für so viel herhalten. Und das kann sie natürlich nicht. Das konnte sie ja auch noch nie. Heiraten und Partnerschaft wird ja seit dem späten achtzehnten Jahrhundert erst mit dem Liebesgedanken verknüpft. Aber sie ist die Religion, die man jetzt noch hat. Wenn man heute behaupten würde, Liebe gibt es gar nicht, das ist eine Erfindung, oder ein Konstrukt, das wäre so ähnlich wie im neunzehnten Jahrhundert zu sagen, Gott ist tot oder vielleicht nur eine Idee. Wenn man sagen würde, die gibt’s gar nicht, würde alles zusammenbrechen.

polar: Anstelle der Negation von Liebe gibt es auch ein Liebesverständnis von vielen unterschiedlichen und gleichwertigen Formen von Liebe: Liebe zu Kindern, Liebe zum Hund, auch grausame Liebe.

Rösinger: Das sag ich auch. Natürlich gibt es Liebe zur Natur, zum Hund, zum Stein, zur Pflanze, zum Mitmenschen, zur Literatur. Überbewertet wird die RZB, die Romantische Zweierbeziehung.

polar: Wäre die vielbeschworene Polyamorie eine Alternative zur Pärchenlüge?

Rösinger: Interessant, aber wahnsinnig anstrengend, glaub ich. In der Frage, ob es so was wie eine Alternative zu diesem ganzen Pärchen-Elend gibt, könnte man die offene Beziehung, die Polyamorie, serielle Monogamie nennen, das habe ich in meinem Buch alles zur Sprache gebracht. Wenn niemand dabei verletzt wird, kann man das ja alles machen. Für mich persönlich wäre es nichts – das ganze Reden und diese Aussprachen. Ich nehme alles zu ernst. Außerdem gefällt mir so selten jemand, und da müsste ich ja gleich mehrere finden. Ich würde gar nicht so einen Pool von Leuten zusammenkriegen!

polar: Du hast mal in einem Interview gesagt, am kreativsten seist du immer dann gewesen, wenn Du nicht in einer Beziehung gelebt hast.

Rösinger: Auch am glücklichsten eigentlich. Ich habe das Sprichwort geprägt ›sitzt der Freund erst auf dem Sofa, hilft kein Auto, hilft kein Mofa‹. Man verspießert ja in so einer Beziehung, geht weniger raus, wird bequem, es ist ja immer jemand da. Man gibt sich nicht so viel Mühe, und der andere gibt sich natürlich dann auch nicht mehr so viel Mühe. Manche machen schon auch tolle Sachen zusammen. Das ist aber natürlich auch immer schade für die anderen. Wenn man verreisen will zum Beispiel. Die Pärchen verreisen dann immer zusammen, die brauchen ja niemanden, die haben ja sich. Wenn man keine Beziehung hat, muss man sich immer etwas einfallen lassen. Man verabredet sich mit Leuten, sucht Gespräche. Man geht mehr nach außen, macht sich mehr Gedanken. Ich mache jetzt die Flittchenbar.

polar: Siehst Du in dieser neuen Bürgerlichkeit, dem erneut starken vermeintlich gleichberechtigten Familien-Sicherheits-Narrativ, ein Nichteingestehen uneingelöster Emanzipationsversprechen?

Rösinger: Das ist unterschiedlich. Man sieht Leute, die sich das wirklich aufteilen. Es gibt aber auch Milieus in denen man es nie erwartet hätte, Beziehungen, wo alles an den Frauen hängen bleibt. Es ist immer noch so, dass die Arbeit außer Haus mehr gilt als Kinder- und Hausarbeit und mehr Prestige hat. So lange das so ist, werden die Männer, denen man die Möglichkeit gibt, immer gerne was anderes machen. Ich habe mich in meinem Leben ja so azyklisch verhalten, dass Freundinnen, die ein bisschen jünger sind, noch auf den letzten Drücker Kinder kriegen, ich bin aber jetzt Großmutter. Ich bin froh, dass ich die Sorgen nicht habe. Ich war nie länger als ein oder zwei Jahre mit jemandem zusammen, habe das Kind alleine großgezogen. Mir sind solche Auseinandersetzungen in der Beziehung – wer geht jetzt arbeiten, wer macht den Haushalt – eigentlich total fremd. Das würde ich nie im Leben mitmachen. Sich auf einen Menschen einzustellen ist schon ein Gewinn, aber sich auf ein Verhältnis einzulassen, wo man ein weniger schönes Leben hat – warum sollte man das machen?

Das Interview führte Julia Roth

Thomas Biebricher/Frieder Vogelmann
Die Ich-GmbH
Alternativen zum stahlharten Gehäuse der Verantwortung

2002 wurde die 'Ich-AG' zum Unwort des Jahres gewählt, doch ihre Bedeutung geht weit darüber hinaus. Sie ist der Schlüsselbegriff der die letzten anderthalb Dekaden in vielerlei Hinsicht auf den Punkt bringt. Das zum Vorbild individueller Verhaltensmodellierung aufgestiegene, strikt am Gewinnstreben orientierte Unternehmertum findet sich nicht nur in der Figur des Arbeitskraftunternehmers analysiert, sondern wird planmäßig vom aktivierenden Wohlfahrtsstaat produziert, dessen tiefe Eingriffe Eigeninitiative aus dem Tagebau 'Individuum' fördern und zugleich dessen Mithilfe bei der eigenen Disziplinierung fordern.

Theoretisch vorbereitet wurde diese Sichtweise des Individuums als Unternehmer seiner Selbst gleichwohl schon Anfang der 1970er Jahre, als der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker seine Theorie des Humankapitals entwickelte, nach der Individuen letztlich als Kapitalisten zu verstehen sind, die unterschiedliche Investitionen in eigene Fähigkeiten und Ausstattungen in der Hoffnung auf eine möglichst hohe Rendite vornehmen. Der tatsächliche Unternehmer, der in Arbeitskräfte, neue Fertigungsprozesse, technologische Innovationen etc. investiert, ist strukturell nicht mehr von diesem unternehmerischen Selbst zu unterscheiden.
Es ist an der Zeit, die Umkehrung der Beziehung von Ökonomie und Individuum ernst zu nehmen. Konnte es der französische Philosoph Gilles Deleuze in den 1990er Jahren noch für die 'größte Schreckens-Meldung' halten, dass nun auch Unternehmen eine Seele bekommen sollten, so sind wir längst einen wichtigen Schritt weitergekommen und haben die Seelen zu Unternehmen gemacht. Insofern schlägt auch das Buch The Corporation, mit dem der kanadische Jurist Joel Bakan vor einigen Jahren Aufsehen erregte, noch die falsche Richtung ein, als er mit Kriterien menschlichen Verhaltens am Handeln der Konzerne Kritik zu üben versuchte. Seiner Analyse lag die Beobachtung zugrunde, dass Konzerne als juristische Personen oftmals ähnliche Rechte geltend machen können wie natürliche Personen. Doch sollten Konzerne tatsächlich wie Individuen behandelt werden, und was ließe sich in diesem Fall über sie sagen? Bakan kam zu dem Ergebnis, dass Individuen, die ihre Verhaltensmuster an denen von Konzernen ausrichten würden, am besten in klinischen Kategorien erfassbar wären. Wäre umgekehrt also ein Konzern tatsächlich eine natürliche Person, so müsste man ihn als Psychopathen bezeichnen, der seine Ziele rücksichtslos verfolgt und für den die Bedürfnisse und Interessen anderer keinerlei Bedeutung haben. Doch verkannte Bakan damit, dass es längst zu einer Umkehrung der Kriterien gekommen ist: pathologisiert werden in unserer Gesellschaft vor allem diejenigen, die nicht wie Konzerne handeln.
Kritik wurde hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, von linksliberalen Kommentatoren geäußert, die in dieser besonderen Ausprägung des homo oeconomicus die Ausweitung der kapitalistischen Kampfzone zu beobachten meinen, die individuelle Moralität in Gefahr wähnen oder den Zynismus der Euphemismen geißeln, die auch den urbanen Flaschensammler noch als Unternehmer bezeichnen. Allerdings ist diese Kritik in etwa so wirksam wie die Forderungen nach mehr 'Corporate Social Responsibility' und hat denselben Realitätsgehalt wie die ökologischen Kampagnen von British Petroleum, weil sie wie die beispielhaft erwähnte Analyse Bakans das Ausmaß verkennt, in dem sich die Beziehung von Ökonomie und Individuum zusammen mit den verfügbaren Beurteilungskriterien verschoben hat.

Risiko und Scheitern

Dagegen wollen wir an dieser Stelle versuchen, den Imperativ 'Handle unternehmerisch!' ernst zu nehmen und zu Ende zu denken. Der unablässig 'mehr Verantwortung' vor sich hin trällernde Backgroundchor der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, der das Unternehmertum mit seinen positiven Konnotationen eines heroischen Wagemuts gepaart mit einer nüchtern kalkulierenden (Selbst-) Disziplin gegen die 'Finanzhasardeure' beschwört, liefert dafür die ideale Vorlage. Die persönliche Geschichte der Ikonen des goldenen Zeitalters kapitalistischen Unternehmertums ist oftmals die von wiederholten und grandiosen Fehlschlägen, an deren Ende dann jedoch der durchschlagende Erfolg stand. Doch der Mythos von Pioniergeist und Risikofreudigkeit im Angesicht der Möglichkeit fatalen Scheiterns ist nur ein Teil der Geschichte des Unternehmertums im 20. Jahrhundert. Denn bei aller individueller Bereitschaft, Risiken einzugehen und sich den Launen des Marktes auszusetzen, konnten doch die 'Kosten' im Falle des Scheiterns derart dramatisch bis hin zur Existenzgefährdung ausfallen, dass viele potentielle Unternehmer unvermeidlich abgeschreckt wurden.
Zur politisch gewollten Förderung des Unternehmertums wurde deshalb die Rechtsform der Gesellschaft mit beschränkter Haftung entwickelt, wobei hier Deutschland, in dem die entsprechenden Rechtsnormen schon seit 1892 gelten, eine internationale Vorreiterrolle einnimmt. Die der GmbH zugrunde liegende Logik ist klar, hält man sich die Ausgangslage potentieller Unternehmer_Innen vor Augen, die über eine innovative Idee verfügen, bei der jedoch ob der Undurchsichtigkeit des Marktes gerade bei radikalen Neuerungen nicht zu ermitteln ist, ob sie sich als profitabel erweist. Ein mehr oder weniger großes Risiko bleibt bestehen, und der Profit des Unternehmers ist schließlich auch eine Dividende auf die Bereitschaft, dieses Risiko einzugehen. Doch nur Hasardeure würden ihre gesamte Existenz auf den Markterfolg eines Produktes setzen. Die GmbH lässt sich nun als Anreiz verstehen, dennoch unternehmerisches Risiko einzugehen, indem diese Rechtsform das private Vermögen der Gesellschafter im Falle der Insolvenz unangetastet lässt und nur das Geschäftsvermögen zur Tilgung von Schulden herangezogen wird. Seit 2008 liegt die Mindesteinlage für sogenannte Mini-GmbHs bei nur noch 12.500 Euro, das englische Recht ermöglicht – auch in Deutschland – sogar die Bildung von 'Limiteds', deren Haftungskapital bis auf nur ein englisches Pfund reduziert werden kann.
Die wirtschaftspolitische Stoßrichtung dieser juristischen Regelungen liegt auf der Hand: Geht Risiken ein! Im Falle des Markterfolges profitiert nicht nur Ihr, sondern auch all jene Marktteilnehmer_Innen, deren Bedürfnisse nun besser befriedigt werden. Im Falle des Scheiterns schützen wir Eure Existenz und ermutigen Euch – unbelastet von persönlichen Schulden – ein neues unternehmerisches Projekt anzugehen.

Das Prinzip einer beschränkten Haftung

Wenn es nun zutrifft, dass Individuen wie Unternehmen handeln sollen, dann ergeben sich aus dieser Konstellation zwei mögliche Schlussfolgerungen: Zum einen kann man das Prinzip der beschränkten Verantwortlichkeit bzw. Haftung mit Bezug auf Unternehmen in Frage stellen. Den ordnungspolitischen Vordenkern von Walter Eucken bis Wilhelm Röpke war die GmbH suspekt, da sie eben den Zusammenhang zwischen Risiko, Gewinn und Haftung verwässerte. Wer nun allerdings etwa die Boni-Regelungen von Banken und Konzernen als Illustration dieser Sorge anführt, sollte bedenken, dass diese Regelungen im 19. Jahrhundert eingeführt wurden, um die Manager stärker an das Unternehmen zu binden – insofern waren sie die damalige Antwort auf den auch heute wieder ohrenbetäubend lauten Ruf nach mehr Verantwortlichkeit. Schwerwiegender jedoch ist gegen die Vorstellung eines immer engmaschigeren Netzes von Verantwortung einzuwenden, dass schon die Neoliberalen des frühen 20. Jahrhunderts wussten, dass der Erfolg am Markt im Wesentlichen auf Zufall beruht. Wie etwa Friedrich von Hayek nicht müde wurde zu wiederholen, bräuchte man vom Wettbewerb getriebene Märkte nicht, wenn diese nicht zu unvorhersehbaren Ergebnissen führten. Warum aber sollten wir das Netz der Verantwortlichkeiten zum stahlharten Gehäuse ausbauen, wenn das doch nur den glücklichen Erben und Gewinnern der Marktlotterie nutzt?
Die zweite Schlussfolgerung ist dagegen jene, die dem Imperativ des unternehmerischen Handelns gemäß davon ausgeht, dass sich das Prinzip einer beschränkten Haftung auf unternehmerischer Ebene durchaus bewährt hat und dass die darin liegende Freiheit dann auch den Individuen zugutekommen sollte. Solange man nicht die oben beschriebene Verkehrung der Kriterien, unter denen Ökonomie und Individuum zueinander sich verhalten, insgesamt infrage stellen will oder kann, scheint die logische Konsequenz zu sein, den Unternehmer_Innen ihrer Selbst Haftungsbeschränkungen einzuräumen, die denen von wirklichen Unternehmen gleichen. Auf eine Formel gebracht: Ich-GmbH statt Ich-AG. Denn falls Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen tatsächlich Humankapitalisten sind, so stehen auch sie letztendlich vor der risikobehafteten Entscheidung, welche Investitionen sie vornehmen sollen, und es ist wirtschaftlich durchaus wünschenswert, dass sie hierbei Risiken eingehen, beispielsweise in Form von hochspezialisierten Ausbildungen für Tätigkeiten in Nischensektoren, die gerade im deutschen Mittelstand weitverbreitet sind. Allerdings birgt das die Gefahr des Scheiterns etwa durch technologische Innovationen oder andere Marktvolatilitäten. Der deutsche Sozialstaat hat sich im Laufe der letzten Jahre immer mehr dahingehend neu ausgerichtet, die Möglichkeit solchen Scheiterns mit Strafe zu bedrohen, nämlich durch die Hartz-IV Gesetzgebung, ihre verschärften Zumutbarkeitsregelungen, geringere Regelsätze etc. Als letzter Ausweg bietet sich schließlich noch die Privatinsolvenz, welche jedoch an umfangreichere Bedingungen geknüpft ist als bei GmbHs und darüber hinaus die Betroffenen keineswegs in gleichem Maße 'vom Haken lässt' wie im Fall der Geschäftsinsolvenz. Die Botschaft ist auch hier klar: Wer Risiken eingeht und dabei scheitert, muss mit sozialer Stigmatisierung und sozio-ökonomischer Exklusion rechnen, ein Bedrohungsszenario, dessen Abschreckungswirkung bis tief in die Mittelschicht reicht. Dass die Angst vor dem sozialen Absturz Produktivität und Innovation anspornt, ist sicher nicht auszuschließen – ob es nicht andere bessere Möglichkeiten gibt, dies zu erreichen, aber wäre die richtige Frage.
Wir sind der Meinung, dass etwa ein Arbeitsmarktregime nach dem Vorbild der dänischen 'Flexicurity' Pate für die Vorstellung der Ich-GmbH stehen könnte. Hier werden Arbeitnehmer_Innen zu risikoreichen Humankapitalinvestitionen und allgemeiner Produktivität gerade mit dem Verweis ermuntert, dass sie im Falle des Verlustes des Arbeitsplatzes – was in Dänemark leicht möglich ist – eben nicht mit Bestrafung sondern mit generösen Transferleistungen (finanziell, aber auch in Form von Fortbildungen oder Umschulungen) über lange Zeithorizonte hinweg rechnen können. Weiterhin nach mehr Verantwortung zu schreien, um ja keine ernsthaften Veränderungen vornehmen zu müssen, bleibt allerdings einfacher.



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