Pung Ungeschliffener Diamant
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-942374-54-5
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 11, 344 Seiten
Reihe: edition fünf
ISBN: 978-3-942374-54-5
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Ungeschliffener Diamant', 2007 als bestes australisches Debüt ausgezeichnet, erzählt von den Herausforderungen des Erwachsenwerdens in einer globalisierten Welt: Als Tochter chinesisch-kambodschanischer Einwanderer wächst Alice mitten in Melbourne zwischen Hausgöttern, Aberglauben und strengen Traditionen auf. Doch schon bald kommt ihr die Welt der Eltern exotischer vor als die neue Heimat. Mal ernst und verzweifelt, dann wieder augenzwinkernd ironisch entfaltet dieses erzählerische Juwel seinen unwiderstehlichen Charme.
Alice Pung (*1981) lebt als Anwältin und Schriftstellerin in Melbourne, engagiert sich an Schulen und hält zahlreiche Vorträge an Universitäten in aller Welt. 'Ungeschliffener Diamant' ist ihr erster Roman, er erschien 2006, stand auf zahlreichen Shortlists und wurde 2007 als bestes australisches Debüt ausgezeichnet.
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ERSTER TEIL
Hier stehen sie alle an einer Straßenkreuzung, sorgsam am Bordstein aufgereiht, meine Großmutter, mein Vater, meine Mutter und meine Tante Que. Es ist frühmorgens, und sie grinsen alle so breit, dass man meinen könnte, sie hätten sich gestern Abend aus Platzgründen im Midway Migrant Hostel mit Kleiderbügeln im Mund zum Schlafen in den Schrank gehängt. »Wah! Seht nur!«, ruft meine Großmutter immer wieder, während sie in feinstem Zwirn durch die Straße schlendern – frisch eingetroffenen Exklusivitäten aus dem Saint-Vincent-Laden. Den dicken Bauch meiner Mutter bedeckt eine weite Polyesterbluse mit lila Stiefmütterchen, und dazu trägt sie niedrige weiße Pumps, sorgfältig mit pinkfarbenen Adidas-Hosen kombiniert. Tante Que schreitet in einem braunen Kleid und einer Jacke für fünfzig Cent einher, mit echtem Pelz am Kragen und echten Mottenkugeln in den Taschen. Hinter ihr folgt mein Vater in einer flotten Jeans mit Schlag und braunen Plastikflipflops. Er trägt ein Hemd mit breitem Kragen, dessen Spitzen wie Pfeile auf die Frauen rechts und links neben ihm zeigen. Hallo, alle mal hersehen, da meine tolle Schwester und da meine wunderbare Frau. Und den Schluss bildet meine Großmutter, die in einem selbst genähten, hellblauen, pyjamaähnlichen Baumwollanzug einhertappt. Oben auf ihrem Kopf sitzt eine Sonnenbrille – ein zweites Paar Augen, das gen Himmel schaut und Buddhas Segen für Saint Vincent erbittet, weil er ihre Familie so prächtig eingekleidet hat. »Wah!«, ruft meine Mutter noch einmal und zeigt auf einen alten Mann, der an einem Pfosten auf einen weichen Knopf aus schwarzem Gummi drückt. Der Rest der Gang dreht sich um. »Die Autos haben für den Alten da angehalten!«, ruft meine Großmutter. Tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick macht die Ampel, und als das grüne Männchen aufleuchtet, wirft der alte Mann der Truppe, die auf ihn zeigt, einen misstrauischen Blick zu und humpelt dann schnell zur anderen Straßenseite. »Wah!«, ruft meine Großmutter. »Seht mal da drüben! Auf der anderen Seite! Die Autos haben sogar für die kleinen Mädchen angehalten!« Zwei gelangweilte Zehnjährige in gebauschten, an den Gummibund ihrer neongrünen Radlerhosen genähten Ballonröcken überqueren die Straße und verzieren dabei den Asphalt mit pastellfarbenen Tropfen von ihren schmelzenden Eiswaffeln. Mein Vater bleibt an dem gelben Pfosten stehen und drückt noch einmal auf den kleinen Gummiknopf. »Das kann selbst Mutter! Guckt, ich mache es noch einmal! Aber bitte glotzt nicht so wie Bauern aus Guangzhou, wenn es geht.« Meine Großmutter ignoriert seinen Kommentar und schaut zur Ampel hinauf. »Wir warten, bis der Mao-Tse-tung-Mann verschwindet, dann gehen wir los«, befiehlt sie. »Er hält alles an.« Sie hat das System verstanden. Als das rote Männchen verschwindet und das grüne wieder erscheint, hoppelt die Truppe im Takt zur tickenden Ampel über die Straße. Dort, wo mein Vater herkommt, hatten Autos die Vorfahrt und nicht Menschen. Um in Kambodscha ein Auto zu besitzen, musste man reich sein. Und wenn man Geld hatte, bedeutete das, dass man so schnell fahren konnte, wie man wollte. Wenn jemand die Landstraße entlangraste und dabei aus Versehen einen Bauern umfuhr, suchte er besser schnell das Weite, weil er sonst riskierte, dass das ganze Dorf mit Hacken auf ihn losging. Das grüne Ampelmännchen war das hehre Symbol eines Staates, der es sich zur Aufgabe machte, dem Volk zu dienen und es zu beschützen. Und jedes Land, das kleine grüne Ampelmännchen hatte, war gütig und unvorstellbar wohlhabend. Wah, in diesem neuen Land scheint den Leuten so vieles selbstverständlich zu sein! Es ist ein Land, in dem sich niemand bewegt, als müsste er sich verstecken. Aus dem obersten Stockwerk des Rialto-Gebäudes sehen meine Eltern, dass die Menschen unten anders gehen, und zwar nicht nur wegen der Hitze. Sie müssen nicht befürchten, dass ihnen eine Bombe auf den Kopf fällt. Hier pinkelt keiner auf die Straße, außer natürlich in einigen ausgesuchten Stadtvierteln. Hier gibt es keine Leprakranken. Keine wie schwarze Ameisen gekleidete Soldaten wie die Roten Khmer, die die Bewohner der City zum Massen-Exodus nach Wangaratta zwingen. Die meisten Menschen hier haben noch nicht einmal von Bruder Nummer Eins im sozialistischen Kambodscha gehört, in ihren ungeübten Ohren klingt sein Name wie ein osteuropäisches Eintopfgericht: »Möchten Sie ein wenig Pol Pot? Aus hundert Prozent frisch gemahlenem Leiden.« Hier ist alles so süß, und die Flüchtlinge im Midway Migrant Hilton hamstern Zucker, Marmelade und Honig vom Frühstücksbuffet. Sie sind so sehr daran gewöhnt, dass alles nur in begrenzten Mengen vorhanden und unwiederbringlich verloren ist, wenn man nicht schnell genug zugreift, dass sie ganz verwirrt sind, als am nächsten Morgen Nachschub auftaucht. Also stopfen sie sich auch diesen wieder in die Taschen, für alle Fälle. Wochen später kommt immer noch täglich Nachschub. Die neuen Flüchtlinge lernen, langsamer zu essen, und dass man ihnen das Essen nicht wegnimmt und ihre Schüsseln nicht wegkickt. Sie lernen, dass hier niemand verhungert. Deswegen ertönt am Anfang oft erstauntes »Wah«, und als mein Vater nach Hause kommt und die Tüte mit den Schweinepfoten schwenkt, bekommt er gleich das Nächste zu hören: »Wah! Sieh nur, das Wasser aus dem Hahn!«, ruft meine Großmutter und reicht ihm eine dampfende Tasse. »So sauber und heiß, dass man Kaffee damit machen könnte!« Als sie mit meiner Mutter zur Blutuntersuchung im Western General Hospital gehen, sind die geteerten Straßen Anlass zum Staunen. »Wah! So schwarz und glitzernd wie der Nachthimmel! Plattgewalzt von Maschinen, nicht von Menschen, die Steine ziehen!« Als sie mit der Straßenbahn fahren, um die australische Staatsbürgerschaft zu beantragen, erfreut sich mein Vater am ordentlichen Stadtbild und sagt stolz sämtliche Straßennamen auf, die er bereits auswendig kann, so dass er sich auch gleich bestens mit der Monarchie dieses Kolonialstaats auskennt: »King Street, William Street, Queen Street, Elizabeth Street.« Meine Eltern werden zu Pionieren, die sich in einem neuen Land zurechtfinden. Zwar haben sie zu Fuß drei asiatische Länder durchreist, aber auf Rolltreppen sind sie nicht gefasst. »Los, komm runter!«, drängt der Rest der Familie meine Mutter. Doch sie steht wie angewurzelt oben und versperrt allen anderen hinter sich den Weg. Sie starrt hinunter zu ihrem Mann, ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin, die alle schon unten angekommen sind. »Aaahh. Ich habe Aaangst!« Schließlich betritt mein Vater die Treppe nach oben und sein Grinsen wird immer breiter, je mehr er sich dem oberen Ende nähert, wie ein langsamer Zoom in einem billigen chinesischen Film. »Einfach zwischen die gelben Striche treten«, sagt er. »Komm schon, du bist doch hochgefahren, also kannst du auch runterfahren! Jippie, wah, was für ein Spaß!« Auf und ab, auf und ab geht es auf den Rolltreppen im Highpoint Shopping Centre – ein 32-jähriger Mann, seine im achten Monat schwangere Frau, seine 27-jährige Schwester und die alte asiatische Großmutter im lila Wollpyjama. Jede Fahrt ist nur ein kleiner Schritt für einen Australier, aber ein riesiger Sprung für einen Wah-Sager. Als meine Mutter zum ersten Mal einen Sims Supermarkt betritt und zum ersten Mal sieht, mit welcher Unbekümmertheit die Menschen ihre Einkaufswagen vollladen, stößt sie vor Staunen ein langes, gedehntes »Waaahh« aus. Es hätte sie nicht gewundert, wenn das Baby an Ort und Stelle herausgekommen wäre. In diesem gigantischen Warenlager wären selbst den wohlhabendsten Familien in Phnom Penh die Augen übergegangen! So blitzeblank und sauber! So wunderschönes Essen! So hübsche Verpackungen! Alles in so hohen, tiefen Regalen, die Farben so strahlend und das Licht so hell, dass sie gar nicht weiß, wo sie hingucken soll. Tante Que knufft sie in die Seite: »Hey, hör auf, wie ein Bauer zu glotzen!« »Wah, soll das heißen, dass jeder in dieses große Lebensmittellager kommen kann?«, fragt meine Ma ehrfürchtig. »Natürlich.« Tante Que ist schon zum zweiten Mal hier. »Siehst du den dicken Mann da, bei dem man die Poritze über den Shorts sehen kann? Siehst du da die kleinen Kinder ohne Socken? Jeder!« Selbst der ungepflegte Herumlungerer mit Flipflops dort kann seinen Wagen mit diesen Schätzen füllen, ohne vorher rechnen zu müssen, weil alles so billig ist. Während meine Mutter staunend durch die Gänge streift, geht ihr durch den Kopf, dass sie die Erste in ihrer Familie ist, die diese Wunder zu sehen bekommt. Sie denkt an die, die sie in Vietnam zurückgelassen hat. Sie sieht ihren Vater, wie er auf dem Fußboden im Kloster schläft, und ihre Mutter, wie sie auf dem Markt bancao verkauft. Ihre unterernährten...