E-Book, Deutsch, 592 Seiten
Quaderer Für immer die Alpen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-24964-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 592 Seiten
ISBN: 978-3-641-24964-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Benjamin Quaderer hat einen tollkühnen Debütroman geschrieben über die Macht des Geldes und die Macht des Erzählens. Das Porträt eines Hochstaplers, der die Gesellschaft spiegelt, die er betrügt.
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1.
Wie kalt die Welt war. Wie ungemütlich und trist. Das Licht im Kreißsaal war schwach, Regentropfen schlugen gegen die Fenster. Alfred saß am Bett und hielt sich das Bein. In einem Anflug schweren Ärgers hatte er gegen den Kaffeeautomaten im Flur des Landesspitals getreten, weil der sein Geldstück verschluckt hatte, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Im Versuch, mich zum Lachen zu bringen, beugte er sich über mich und schnitt eine Grimasse. Vor lauter Entsetzen, dass ich mit diesem Menschen den Rest meines Lebens verbringen würde, stieß ich einen Schrei aus, der die Scheiben in den Fensterrahmen zum Schwingen brachte. Der Schrei echote sich aus dem Gebäude hinaus, umschwirrte die Spitze des Kirchturms und rang der Glocke darin zwölf Schläge ab. Durch den Türschlitz drang er in das Regierungsgebäude – das Gute an Vaduz ist seine Kompaktheit, alles liegt unmittelbar nebeneinander –, fegte durch den Landtagssaal und verschaffte sich Zutritt zum Büro von Regierungschef Dr. Gerard Batliner, der mit der Stirn auf der Tischplatte schlief. Als mehrere Aktenordner aus dem Regal fielen, erwachte Dr. Batliner und wusste nicht, wer er war. Der Schrei johlte hinaus in die Hauptstadt, ließ die Scheiben des Juweliers Huber zu Bruch gehen und raste den Hang hoch, bis er das auf einer Felsterrasse thronende Schloss erreichte. Er drang durch die schweren Gemäuer, jaulte im Keller an den Schätzen der Fürstenfamilie vorbei, den Picassos und Rembrandts, den Cranachs und Botticellis, ehe er in einem der oberen Gemächer das träumende Fürstenpaar von und zu Liechtenstein in einem Himmelbett liegen fand. Fürst Franz Josef II. umarmte Fürstin Gina im Schlaf, er war das kleine Löffelchen, sie das große, dann fegte der Schrei an den schlafenden Prinzen und Prinzessinnen vorbei ins Zimmer des ältesten Sohnes und Thronfolgers Hans Adam II. Dieser erwachte, hörte den Schrei rumoren und zog die Bettdecke bibbernd bis über den Nasenrücken hoch. Der Schrei entschwand hinaus in die Nacht, stieg bis an den höchsten Punkt des Kleinstaats, 2599 Meter lag der Gipfel des Grauspitz über dem Meer, ehe er in tosender Lautstärke explodierte. Sein Echo hörte man noch lang in den Tälern: der Datendieb, der Datendieb ist geboren.
»Ein typischer Widder«, sagte die Hebamme lächelnd. Alfred stand beleidigt am Fenster. Der Himmel riss auf und gab die Sicht auf einen sichelförmigen Mond frei, der den Kreißsaal in silbernes Licht tauchte.
»Das ist interessant«, sagte die Hebamme und deutete in den Sternenhimmel: »Sehen Sie nur, Herr Kaiser, im zweiten Haus, dem Haus des Stieres, ist eine große Konzentration von Planeten zu beobachten.«
»Ah ja«, sagte Alfred.
»Sie müssen wissen, dass das zweite Haus die Welt der konkreten Gegenstände symbolisiert. Mond, Venus, Saturn und der Kleinplanet Chiron sind in dieser Nacht anwesend.«
Alfred nickte lustlos.
»Der Mond«, erklärte die Hebamme, »steht für Besitz und Beständigkeit. Die Venus deutet auf Geschäftstüchtigkeit, aber auch Sinnlichkeit hin, Saturn ist ein Zeichen von Sparsamkeit, und Chiron steht für Ehrgeiz und das Bedürfnis nach Sicherheit.«
»Soso«, sagte Alfred.
»Wenn wir den Sternen Glauben schenken dürfen, wird der kleine Johann viel Energie darauf verwenden, Besitz anzuhäufen.«
Alfred horchte auf.
»Johann wird ein sparsamer Mensch sein«, sprach die Hebamme weiter, »der durch harte Arbeit zu viel Geld kommen wird.«
Alfred suchte nach meiner Hand. Die Hebamme lächelte wissend. Wie recht sie mit ihrer Voraussage haben würde, sollte sie nicht miterleben. Drei Jahre nach meiner Geburt kam sie bei einem Skiunfall in den Schweizer Alpen ums Leben.
Das Zimmer, das ich in den ersten Jahren bewohnte, war in hellblauer Farbe gestrichen, hinter der man den vormaligen Rosaton noch sachte durchschimmern sah. In der Mitte des Raumes stand ein von Holzstäben umgebenes Bett, die mir bis an die Decke zu ragen schienen. Dort lag ich und beobachtete die Schatten der Äste, die sich über die zugezogenen Vorhänge bewegten. Es war wie in Platons Höhlengleichnis.2 Während die wirkliche Welt in allen erdenklichen Farben außerhalb meines Zimmers blühte, blieb mir, dem im Gitterbett gefangenen Menschen, nichts anderes übrig, als mich mit ihren Abbildern zu begnügen. Mit farblosen, traurigen Schatten.
Am Tag war es hell und in der Nacht wurde es dunkel. Obwohl ich in den vergangenen Monaten zu einem Experten für Dunkelheiten geworden war, war diese hier anders als alle davor. Diese Dunkelheit hatte Augen. Diese Dunkelheit stach. Wie ich mich in die Richtung drehte, aus der die Bewegung kam, begann sich die Dunkelheit zu einem Körper zu formen. Hände. Diese Dunkelheit hatte hunderte Hände. Während sie mich aus der einen Richtung noch pikste, steckte sie mir aus der anderen schon einen Finger ins Ohr. Sie stupste mich an die Nase, sie zog mich am Zeh, und als ich den Mund aufmachte, um zu fragen, was das solle, flüstere sie »hör auf zu schreien du mieser Verräter« und legte mir wieder eine andere Hand auf die Lippen.
Mit dem angehenden Licht kam Mamá. In beiden Händen hielt sie zwei Zöpfe, die zu zwei identischen Gesichtern gehörten. Beide hatten buschige Augenbrauen und volle Lippen, außerdem Sommersprossen, die sich über die tränennassen Wangen verteilten. Der fehlende Schneidezahn im Mund des linken war das Einzige, was es vom rechten unterschied.
»Das sind Luise und Lotte«, sagte Mamá. »Deine Schwestern.«
Erst als sie stärker an den Haaren der Schwestern zog, sagte eine von ihnen: »Hallo.« Und die andere: »Schön, dass du da bist.« »Ich heiße Johann«, wollte ich sagen, doch ich sagte nichts, sondern schrie. »Bestimmt hast du Hunger«, sagte Mamá und öffnete ihre Bluse. Während ich aus Höflichkeit an ihrer Brustwarze saugte, sah ich die Mädchen im Türrahmen stehen. Dasjenige, dem der Schneidezahn fehlte, strich sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger langsam über den Hals.
Eine »Familie« zu haben war seltsam. Außer mir hatten alle zu tun. Die Zwillinge arbeiteten im »Kindergarten«, Alfred als »Fotograf« und Mamá an mir. Sie hatte pechschwarze Haare und die seltsame Gabe, Dinge durch die einfachsten Mittel zum Existieren zu bringen. Ein Beispiel: Sagte sie »komm« und »Kommode«, wurde etwas zu »Holz«. Sagte sie »Windel« und »wechseln«, stieg mir ein unangenehmer Geruch in die Nase. »Puder«, sagte sie dann, und der Gestank löste sich auf. »Vorhang« hieß, dass Licht in den Raum trat. »Johann« hieß, dass sie mich küsste. Am besten aber was das Wort »Tür«. Wenn man sie öffnete, geriet man ins Staunen.
»Wohnzimmer«, »Küche«, »Garage«. Faszinierend, was es in einem »Haus« alles gab. Da waren »Teppiche«, »Kissen« und »Sofas«, »Lampen« gab es und »Gardinen«, und wie die »Gardinen« die »Fenster« umgaben, umgab das »Draußen« das Haus. Das »Draußen« hieß »Mauren«. Und in Mauren waren »die Bäume«. Es gab einen »Himmel«, und die weißen Flecken daran waren »die Wolken«, und wenn die »Nachbarn« »Kapuzen« auf den »Köpfen« trugen, hieß das, dass es aus den Wolken heraus tropfte. Das war der »Regen«. Nur »Trottel« verließen bei Regen das Haus. Zum Beispiel »Alfred«. Alfred verließ das Haus jeden Tag.
Der seltsamste Gegenstand dieses an seltsamen Gegenständen kaum zu überbietenden Hauses befand sich in einem Raum, den Mamá »mein Schlafzimmer« nannte. Sie sperrte die Zimmertür auf, deutete auf den Schrank in der Ecke und sagte »schau«. Im Holz war ein rechteckiges Fenster eingelassen, durch das man in den Schrank hineinsehen konnte. In seinem Inneren lebten zwei Menschen. Eine Frau und ein Baby. Wie wunderschön die Frau war. Und das Baby. Was für ein wunderschönes Baby. Die Frau schien dasselbe zu denken. Als sie dem Baby den Kopf zu streicheln begann, spürte ich eine Berührung im Haar. »Das bist du«, sagte Mamá, worauf die Frau mit ihrem Finger auf mich deutete. »Das bin ich«, sagte sie, und die Frau im Schrank zeigte auf sie. Das Baby schien nicht zu verstehen. Es streckte seine Hände aus und griff der Frau an die Wange. Mamás Haut war ganz warm. »Mein Liebling«, sagte Mamá. »Wenn du groß genug bist«, sagte sie und deutete auf ein Foto, das über dem Schrankfenster klebte, »ziehen wir um.« Auf dem Bild war eine Sonne zu sehen, die sich über Hausdächern erstreckte. »Spanien«, sagte Mamá. »Das hat Alfred versprochen.« Weinte die Frau im Spiegel etwa? »Verstehst du?« Ich gluckste. Sie küsste mich auf die Stirn und sagte: »Genie.« Das Baby nickte mir unmerklich zu.
An Tagen, an denen das erschien, dienstags, donnerstags und samstags, besuchte mich Alfred. Die Zeitung unter den Arm geklemmt betrat er das Zimmer und gab mir zur Begrüßung die Hand. Er zeigte mir die Fotos, die er gemacht hatte, und las mir die Artikel vor, die er für besonders gelungen hielt. Vor dem Kommunismus sei sich in Acht zu nehmen, sagte er eines Dienstags, als er auf den sowjetischen Satelliten zu sprechen kam, der seit ein paar Tagen weit über unseren Köpfen seine Kreise drehte. »Die Sowjets sind überall.«
Als ich eines Nachts ein rotes Blinken in meinem Zimmer bemerkte, ballte ich meine Hände zu Fäusten. »Bleib stehen«, rief ich dem sowjetischen Satelliten entgegen, der gekommen sein musste, um mich zu holen. Ich kletterte aus dem Bett und folgte dem Glühen, bis ich ein Zimmer erreichte, in dem Alfred schlafend auf einer Couch lag. Der Satellit schwirrte um seinen Kopf, ich trat vorsichtig näher, bis ich nur noch Zentimeter entfernt war. Ich spürte seine Wärme, sein...




