Buch, Deutsch, 72 Seiten, PB, Format (B × H): 210 mm x 210 mm, Gewicht: 270 g
Buch, Deutsch, 72 Seiten, PB, Format (B × H): 210 mm x 210 mm, Gewicht: 270 g
ISBN: 978-3-943391-23-7
Verlag: Biberacher Verlagsdruckerei
63 Menschen mit geistiger Behinderung stellen ein Selbstporträt her, das nicht nur ihr Selbstbild beeinflusst, sondern auch auf unsere Wahrnehmung zielt. Darf man Menschen so zeigen?, fragen sich viele Betrachter. Tut man ihnen damit wirklich einen Gefallen? Oder steckt nicht schon in solchen Bedenken eine Bevormundung???Randständige in unserer Gesellschaft rücken sich selbst in den Mittelpunkt des Bildes. Sie rücken damit unser Bild von ihnen zurecht. Was für ein emanzipatorischer Akt!
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Gesicht zeigen
Diese Fotos verstören uns, weil sie uns stören. Wir wechseln das Café, wenn geistig Behinderte in Gruppen die Nebentische besetzen. Tauchen sie im Swimmingpool der Ferienanlage auf, rechten wir mit den Veranstaltern um Reisekostenrückerstattung. Menschen mit geistiger Behinderung führen eine Schattenexistenz. Sobald sie den Bannkreis der spendengeförderten Betreuungseinrichtung verlassen, zeigt unser Mitgefühl Grenzen. Falls wir ihnen einmal doch nicht aus dem Weg gehen können, schauen wir lieber weg. Wir fürchten, dass sie uns in ihrer offenen Art anstarren, sich angesprochen fühlen und Kontakt suchen könnten. Dennoch wollen wir den Blick nicht von ihnen lassen. Verstohlen mustern wir aus den Augenwinkeln ihre bizarr anmutende Gestalt, weiden uns an ihrem Gesicht, das uns alles andere als wohlgeraten erscheint.
Der Künstler Andreas Reiner lässt das Verstohlene nicht zu. Er hat geistig Behinderte gebeten, sich selbst zu porträtieren. Könnten wir diesen Blicken auch im Alltag standhalten? So viel Unmittelbarkeit von Fremden empfinden wir als zudringlich. Schlagen diese Fremden auch noch aus der Art, dann erst recht. Zeigt uns hier jemand, der Mimik und Gestik nicht unter Kontrolle hat, sein wahres Gesicht, wo wir doch mühevoll lernen mussten, das unsrige hinter einer Charaktermaske zu verbergen? Ist die Fähigkeit zur Verstellung und Lüge nicht die ursprünglichste aller Intelligenzleistungen des Homo sapiens? Mit solcherart Direktheit möchten wir normalerweise nicht konfrontiert werden. Unsere Wahrnehmung will nicht wahrhaben, dass geistig retardierte Menschen eigensinnige Persönlichkeiten mit einem freien Willen sind, mit differenzierten Gefühlen und Gedanken. Nur ihre Angehörigen wissen es besser. Aber die sollen bitte auch dafür sorgen, dass wir nicht von ihnen behelligt werden.
Behindertentherapeuten erzählen, ihre Schützlinge seien besonders authentisch und meist schonungslos direkt. Bescheinigen wir einem Menschen, der sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte wähnt, dass er eine authentische Persönlichkeit ist, schwingt dabei stets Bewunderung mit: „Der ist ganz bei sich“, heißt es dann, „der ist ehrlich, echt und unverbogen.“ Geistig Behinderten wird diese Tugend eher selten zugute gehalten. Narrenmund tut Wahrheit kund, heißt es stattdessen im Volksmund. Diese Art von Authentizität, die im wahren Leben nicht gern gesehen ist, wird in der Kunst umso mehr idealisiert. Mit Ekelfaszination blicken wir im Museum auf jedes Gemälde oder Foto, das uns Hässliches und Abseitiges schonungslos vor Augen führt. Dort halten wir heldenhaft dem Unfassbaren stand. Das schaffen wir spielend, weil das Unfassbare hübsch im Rahmen bleibt und unseren Blick nicht erwidert. Auf der Straße würden wir uns dieser Konfrontation keine Sekunde lang freiwillig aussetzen. Nur einer gefilterten, stilisierten Bilderwelt begegnen wir noch offenen Auges und Herzens. Der französische Filmemacher Jean-Luc Godard sprach in seinem Film „Vorname Carmen“ vom „Terror der Schönheit“, die uns „an die Grenze dessen bringt, was wir ertragen können“.
Die Kunst hat seit der Antike Abbilder geistig behinderter Menschen geschaffen. Im Bereich des Imaginären kamen sie besser weg als in der rauen Realität: Das Auge des Betrachters folgt seit je dem Faszinosum von Anziehung und Abstoßung. Beim Bild des stilisierten Idioten wechseln sich Romantisierung und Dämonisierung ab. Im Laufe der Jahrhunderte verloren die negativen Konnotationen, die im Volksglauben bis zur Aufklärung dem „Kretin“ anhafteten, an Wirkungsmacht. Nur selten wird es heute noch in unseren Breiten als ein Hausfluch und Strafe Gottes angesehen, wenn der Familiennachwuchs behindert ist. Mit dem Beginn der Moderne im frühen 20. Jahrhundert wurde dem Hirngeschädigten eine poetische Anmut zugestanden. Die Psychologie nahm sich der Geisteskranken an, ihre malerischen und dichterischen Arbeiten machten unter beschäftigungstherapeutischer Anleitung in der Kunstwelt Furore. Hans Prinzhorn schuf mit seinem Kunstkatalog „Bildnerei der Geisteskranken“ 1922 ein Standardwerk, das Picasso beeinflusste. Die Surrealisten erklärten ihn zu ihrer Bibel. Auch der österreichische Psychologe Leo Navratil leistete auf diesem Gebiet Bahnbrechendes. Der „Irrsinnige“ brachte es zu einer kunstsinnigen Lobby, der „Blödsinnige“ dagegen nicht. Beispiele für eine dichterische Verklärung des Debilen sind rar. Ein 1922 erschienenes Gedicht des expressionistischen Lyrikers Alfons Petzold trägt den Titel: „Der Dorftrottel“. In der letzten Strophe heißt es: „Heute gab ich ihm ein Päckchen Rauchtabak / Erst stand er starr vor mir, wie Knüppelholz / dann griff er schnell in den zerlumpten Sack/ und gab mir eine Rose? / Er lächelte dazu gar seltsam schön und stolz.“
Ohne jeden sentimentalen Kitsch kommt dagegen der Biberacher Fotokünstler Andreas Reiner aus. Er wagte mit seinem Ausstellungsprojekt „SichtlichMensch – Selbstporträts“ ein Experiment. In seiner oberschwäbischen Heimatstadt lud er 63 geistig Behinderte zum Fotoshooting. Diese Menschen werden von der katholischen St.-Elisabeth-Stiftung betreut, leben im Heggbacher Wohnverbund zusammen und arbeiten dort in den beschützenden Werkstätten. Bei diesen Fotosessions lief einmal alles anders: Die Freiwilligen, die sich zum Mitmachen bereitfanden, lichteten sich selbst ab – so wie sie sich selbst sehen und wie sie gerne gesehen werden möchten. Indem sie sich selbst Modell sitzen, proben sie einen kleinen Aufstand gegen die ewig alte Stigmatisierung, die durch die schönen Künste immer nur verlängert wurde: 63 Menschen mit geistiger Behinderung stellen ein Selbstporträt her, das nicht nur ihr Selbstbild beeinflusst, sondern auch auf unsere Wahrnehmung zielt. Darf man Menschen so zeigen? fragen sich viele Betrachter. Tut man ihnen damit wirklich einen Gefallen? Oder steckt nicht schon in solchen Bedenken eine Bevormundung? Randständige in unserer Gesellschaft rücken sich selbst in den Mittelpunkt des Bildes. Sie rücken damit unser Bild von ihnen zurecht. Was für ein emanzipatorischer Akt! Sie haben den mechanischen Drahtauslöser einer Kamera in die Hand genommen und die Kontrolle über ihr Image erlangt. In freier Selbstbestimmung macht jeder Einzelne ein Schwarz-Weiß-Foto von sich, zeigt es uns und beeinflusst damit unsere Sichtweise auf ihn.
Nicht alle Mitwirkenden dieses Projekts gingen mit der Kamera gleich um. Jeder benutzte sie seiner Persönlichkeit und Tagesform entsprechend. Andreas Reiner berichtet, dass manche der Mitwirkenden scheu und verhalten nur einmal den Auslöser betätigten, während andere fröhlich ganze Serien von sich schossen. Am Ende des Projekts verfügte Reiner über den immensen Bestand von 6000 Fotos. Die 63 Selbstbildnisse strahlen eine starke Autarkie aus. Aus einigen Fotos spricht auch die pure Freude an der theatralischen Selbstinszenierung. Die Freude am Posieren und mit anderen Identitäten zu spielen, hängt offensichtlich nicht vom Intelligenzquotienten ab.
Andreas Öhler
(Aus: Christ & Welt, Ausgabe 24/2012, www.christundwelt.de)