E-Book, Deutsch, 244 Seiten
Richter Nachtgedanken 2020
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-3646-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwischen Tag und Traum
E-Book, Deutsch, 244 Seiten
ISBN: 978-3-7534-3646-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurze Texte, Gedichte und Bemerkungen zu den zentralen Themen meines Alltags: Schule und Musik. Sie entstanden in den Dämmerstunden später Abende und reflektieren häufig das, was ich über den Tag hinweg erlebte. Sie sind meiner Familie, meinen Freunden, Kollegen und Bekannten gewidmet.
Helmut Richter begann mit 16 Jahren während seiner Ausbildung zum Maschinenschlosser autodidaktisch das Gitarrenspiel zu lernen. Ab 1976 Meisterschüler des Gitarristen Sieg-fried Behrend. 1981 erster Preis beim Regensburger Gitarrenwettbewerb, 1982 Prüfung zum Musikerzieher. Neben den Gitarrenstudien Studium in den Fächern Maschinenbau, Erziehungswissenschaften und Physik. Promotion zum Dr. phil. (Berufspädagogik). Zusatz-studien in Psychologie und Neurobiologie. Zahlreiche CD- und Rundfunkaufnahmen, Buchveröf-fentlichungen und Veröffentlichungen eigener Kompositionen. Bundesgeschäftsführer der European Guitar Teachers Association.
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Der Gitarrenlehrer
Horst erhob sich ächzend von seinem Platz am Küchentisch. »Verdammtes Alter«, seufzte er, »man spürt jeden Knochen einzeln.« Seitdem seine Frau ihn plötzlich und ohne Vorankündigung verlassen hatte, lebte er allein in einer kleinen Wohnung in der ersten Etage eines Wohn- und Geschäftshauses. Er hatte sich wohl oder übel an die Einsamkeit gewöhnt, die er mit einem etwa gleichaltrigen Nachbarn in der Nachbarwohnung ab und zu teilte. Dann spielten sie miteinander Schach oder hörten eine Schallplatte mit klassischer Musik, ihrer beider Leidenschaft. Seit einigen Monaten mussten sie jedoch auf längere persönliche Begegnungen verzichten. Wegen der Pandemie, die sie beide noch mehr in die Isolation getrieben hatte. Horst räumte das Geschirr vom Küchentisch und spülte es mit etwas kaltem Wasser ab. »Zeit fürs Anziehen«, murmelte er vor sich hin. Er hatte noch seinen Bademantel an, den er selbst lieber „Morgenrock“ nannte. Er hatte es morgens nicht eilig, sich ausgehfertig zu bekleiden, da er seine Wohnung nur selten und vornehmlich zum Einkaufen von Lebensmitteln verließ. Für größere Anschaffungen reichte seine schmale Rente sowieso nicht aus. Wenn einmal ein bisschen Geld vom Monat überblieb, legte er es „für schlechte Zeiten“ in eine kleine Geldkassette in seinem Schlafzimmer. Der einzige wertvolle Gegenstand, den er besaß, war eine Gitarre aus den 1950er Jahren, gebaut von dem Gitarrenbaumeister Richard Jakob, genannt Weißgerber. »Ein internationales Spitzeninstrument, eine Stradivari unter den Gitarren«, hatte er seinen Schülern früher nicht ohne Stolz erklärt. Früher, das war, als er noch als Gitarrenlehrer Unterricht an der heimischen Musikschule gegeben hatte. Fast 40 Jahre lang. Vor knapp 15 Jahren war er in Rente gegangen. Eine Zeit lang hatte er noch weiterhin einige Privatschüler unterrichtet. Aber er hatte mehr und mehr gespürt, dass mit dem Älterwerden sein Unverständnis für die von seinen Schülern gewünschte Spielliteratur zunahm. Kaum einer von denen wollte noch die Stücke der Klassiker oder Barockkomponisten, die er so liebte, spielen, die meisten wollten „Easy Listening“ oder, wie er immer verächtlich sagte, „Griffe kloppen.“ So verebbte seine Unterrichtstätigkeit allmählich, was er jedoch – abgesehen von dem Verlust des Zubrotes zu seiner Rente – innerlich begrüßte. Er selbst aber blieb „seiner“ Gitarre und der klassischen Literatur treu, und er übte täglich als ob er am nächsten Tag zu einer Konzertreise aufbräche. Das tat ihm gut und gab seinem Tag Struktur. Wegen seiner Arthrose in seinen Händen, die ihm bei längerem Spielen Schmerzen bereitete, verteilte er seine Übungen über den Tag. Von 11 Uhr bis 12 Uhr standen Streck- und Fingerübungen an, „um die müden Knochen zu wecken“, wie er immer sagte. Nach der Mittagsruhe übte er eine Stunde lang neue Stücke ein, wobei er sich auf die schwierigen Passagen konzentrierte und diese wieder und wieder einstudierte. In den Abendstunden spielte er Stücke aus seinem reichhaltigen Repertoire, das er sich im Laufe seines Lebens erarbeitet hatte. »Abends bin ich mein eigener Plattenspieler«, hatte er seinem Nachbarn einmal grinsend gestanden. Er verschwieg allerdings, dass er seiner Frau damit zuletzt heftig auf die Nerven gegangen war. Ab und zu komponierte er kleine Musikstücke für den eigenen Gebrauch. Meistens griff er dabei Formen der alten Musik auf, insbesondere liebte er die Barockmusik und ihre Komponisten. Insgesamt lebte er ein beschauliches Leben, das sich hauptsächlich um seine Gitarre und ihre Musik drehte. Horst warf einen kurzen Blick auf die Küchenuhr. Es war kurz nach 10 Uhr – es verblieb also noch etwas Zeit, um den Morgenmantel gegen seine verschlissene Hose und das zerknitterte Hemd zu tauschen. Auf dem Weg zum Badezimmer wurde seine morgendliche Routine durch ein Klingeln an der Wohnungstür unterbrochen. Langsam schlurfte er zur Tür. »Wahrscheinlich der Postbote«, dachte er, denn er erwartete eine Lieferung von Noten, die er mittels einer Postkarte bei einem Musikalienhändler bestellt hatte. Er besaß weder einen Computer noch ein Handy. Er wollte mit diesem „neumodischen Kram“ nichts zu tun haben. Und noch war es möglich, alles Notwendige auf die „gute alte Art“ zu tun. Er drückte auf den Knopf des Türöffners und wartete auf das Geräusch der sich öffnenden Haustür. Nichts. Erneut klingelte es. Horst nahm an, dass der Briefträger bereits Einlass ins Haus gefunden hatte und nun mit der Postsendung in seinen Händen vor seiner Tür stand, weil der Briefumschlag mit den bestellten Noten mit dem entsprechenden Überformat nicht in seinen Briefkasten passte. Also legte er seine Corona-Maske, die, damit er sie beim Verlassen der Wohnung nicht vergaß, an der Türklinke der Wohnungstür baumelte, an und schloss die sich nach innen hin öffnende Tür auf. Mit einem Mal wurde er kräftig und brutal nach hinten geschleudert. Das Türblatt traf seine Nase, sodass sein Nasenbein fast brach. Halb benommen und überrumpelt taumelte er nach hinten, konnte sich aber mit letzter Kraft noch auf den Beinen halten. Ehe er sich’s versah, hatte ein großer, kräftiger Mann seine Wohnung betreten und die Tür hinter sich geschlossen. Auch er trug eine Maske. »Kein Wort«, zischte der Mann, »halt die Klappe, Alter.« Horst hatte sich trotz seines hohen Alters wieder gefangen und blieb ruhig stehen. »Bist du alleine?«, wollte der unbekannte Eindringling wissen. Dabei sah er sich nervös, fast gehetzt im Wohnungsflur um. Von da aus konnte er durch die geöffnete Tür in die Küche blicken. »Und lüg‘ mich nicht an«, setzte er drohend fort. Horst nickte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Trotzdem, oder vielleicht auch deswegen, versuchte er, sekundenschnell die Situation zu erfassen und nach Lösungen zu suchen. Da stand ein fremder, offensichtlich gewaltbereiter Mann in seinem Flur, er war allein und lange nicht so kräftig wie sein Gegenüber. Er realisierte, dass er erst einmal keine Chance gegen den ungebetenen Gast hatte. »Was? «, fragte der Fremde unwillig, »bist du allein? « »Ja, bin ich«, würgte Horst hervor. Seine Antwort schien den Fremden erst einmal etwas zu beruhigen. Langsam bewegte er sich in Richtung der Küche, ohne Horst aus den Augen zu lassen. »Geh‘ du vor«, zischte er zu Horst. »Ich will alles sehen.« Langsam schob Horst sich an dem Mann vorbei und ging in die Küche. Seine Knochen schmerzten, nicht nur wegen seiner Arthrose, sondern auch wegen des gerade noch glücklich abgefangenen Sturzes an der Haustür. »Wohnzimmer«, befahl der Mann, nachdem er die Küche inspiziert hatte. Wieder drücke Horst sich an dem Mann vorbei und zeigte ihm das Wohnzimmer, in dem seine Gitarre neben dem Notenständer und seinem Spielstuhl stand. »Jetzt das Schlafzimmer«, befahl der Fremde knapp, „und dann noch das Bad.« Horst tat, wie ihm geheißen wurde. Sichtlich befriedigt schloss der Eindringling die Wohnungsbesichtigung ab. Er ging zurück ins Wohnzimmer und riss das Kabel des Telefons aus der Anschlussdose. »Computer und Handy?«, wollte er wissen. Horst schüttelte verneinend seinen Kopf. »So etwas besitze ich nicht.«, sagte er. Der Fremde schien ihm Glauben zu schenken. Horst warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war fünf Minuten nach 10 Uhr. Durch das „auf Kipp“ gestellt Fenster drangen schnell anschwellende Töne von Martinshörnern der Polizei in seine Wohnung. Horst wurde sofort klar, dass ein Zusammenhang zwischen dem Einbrecher und dem Polizeieinsatz bestand. Als könnte er Horsts Gedanken lesen, sagte der Eindringling »Die suchen mich«, und stellte eine Sporttasche, die Horst erst jetzt wahrnahm, auf den Boden. »Ich habe dem Juwelier unter deiner Wohnung einen kleinen Besuch abgestattet«, setzte er fort. »Irgendwie hat dieser Idiot es geschafft, den Alarmknopf zu drücken. Ein stiller Alarm, aber ich habe es mitbekommen. Ich bin dann durch die Hintertür des Geschäftes im Hausflur gelandet und auf der Treppe nach oben gestiegen.« Langsam bewegte er sich auf einen Sessel zu und ließ sich fallen. Mit einer kurzen, zackigen Bewegung seines Kopfes bedeutete er Horst, es ihm gleichzutun. Nachdem Horst sich hingesetzt hatte, holte der Mann sich seine Sporttasche, setzte sich wieder in den Sessel und öffnete sie. Sichtlich befriedigt betrachtete er seine Beute, die er trotz des unverhofften Alarms hatte mitnehmen können. »Das wird für einige Zeit reichen«, murmelte er. Dann sah er Horst wieder an. »Nur keine Panik, Alter«, sagte er fast mitleidig. Mittlerweile war er ruhiger geworden. »Pass auf. Ich warte hier ab, bis die Bullen da unten abgezogen sind, dann haue ich...




