E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Roeder Frag Philomena Freud
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95728-984-1
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1. Fall: Die Perlenspinne
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-95728-984-1
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2. Kapitel, in dem ein kleiner Junge eine echte Prinzessin kennenlernt und Kaiser Franz, völlig zu Recht, Spomapanadeln macht
Philomena pfiff nach Kaiser Franz, der inzwischen genug von den einfältigen Hühnern hatte, und reihte sich mit ihm wieder in den Strom der Menschen ein. Wenn sie ihren Freund, den Wachtmeister Gabriel Wachs, noch antreffen wollte, bevor der seinen Dienst antrat, mussten sie sich nun wirklich beeilen. Dieses morgendliche Treffen war wichtig für den restlichen Tag. Der Wachtmeister informierte Philomena nämlich zuverlässig darüber, in welche Wohnungen die Sprengelfürsorgerin ihre verschnupfte Nase stecken wollte. Einmal hatte er sogar extra einen Dienstgang unterbrochen, um Philomena zu warnen, dass die Schnürschuh überraschend im Anmarsch aufs Meldeamt war und vermutlich die Berggasse passieren würde. In Windeseile hatte Philomena ihren Schuhputzstand abgeräumt und sich im Hinterhof versteckt, bis die Gefahr vorübergezogen war. Zum Dank für diese Informationen putzte Philomena Wachtmeister Wachs kostenlos die Stiefel. Dabei rätselten sie gemeinsam über die spannendsten Verbrechen Wiens, die in der Kriminalabteilung von Kommissar Kraus bearbeitet und oft nicht gelöst wurden.
Philomena schlängelte sich, so gut es mit ihrem Arbeitsgerät ging, an den Wagen mit den Fisolen und den blauroten und weißgrünen Krautköpfen vorbei. Dahinter standen die Obstbauern, welche Lageräpfel, Birnen und Walnüsse aus dem Wienerwald anboten. In großen Körben dufteten bergeweise Waldpilze. Am Beginn der Zeile, wo die Fleischhauer ihre Bretterbuden hatten, zupfte jemand von hinten an ihrem Rock. Philomena drehte sich um und entdeckte einen kleinen Jungen, dessen Schirmkappe kaum über Kaiser Franz’ Rücken reichte. Er schaute mit großen Kulleraugen zu ihr hoch und fragte: »Hast du meine Mama gesehen?« Seine Unterlippe zitterte. Nicht mehr lange, dann würden die mühsam zurückgehaltenen Tränen fließen.
»Wie sieht deine Mama denn aus?« Philomena stellte den Stuhl ab und ging in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu kommen.
Der Kleine rieb sich die Nase. »Hm. Sie ist groß und hat ihren Hut auf. Und sie ist wunderschön. So wie du, aber ganz anders. Du hast so blaue Augen und so blonde Haare und so eine kostbare Kette wie eine Prinzessin.« Er deutete auf die blank polierte Kupfermünze, die Philomena an einem Lederband um den Hals trug. Das kleine gelochte Geldstück war nichts wert. Aber Philomena bedeutete es viel, und sie trug es stets unter ihrer Bluse am Körper. Denn die Münze war 1908, im Jahr von Philomenas Geburt, in Belgien geprägt worden und zugleich das Einzige, was ihre Mutter ihr hinterlassen hatte.
»Vielleicht bin ich ja eine Prinzessin.« Philomena streichelte dem Jungen über die Wange und sah sich um. Jede zweite Frau hatte Ende Oktober einen Hut auf. Die wenigsten waren weizenblond wie sie selbst. Und weit und breit war keine zu erkennen, die aussah, als würde sie ein Kind vermissen.
»Was will die Mama denn heute kochen?«, fragte Philomena.
»Für eine Prinzessin bist du aber ganz schön dumm. Krautwickerl kocht die Mama. Weil die der Papa mag.«
»Und was magst du?«
»Das weißt du auch nicht? Ich mag süße Kipferl!«, erklärte der Kleine. »Die Mama tut mir auch immer eins kaufen, wenn wir hierher kommen.«
Mit dieser Auskunft konnte man arbeiten. Wäre sie Mutter, würde sie ihr Kind also zuerst da suchen, wo es Kipferl zu naschen gab.
Philomena schob sich das Stuhlgestell wieder über die Schulter, nahm die klebrige Hand des Buben und zog ihn hinter sich her in Richtung Leopoldgasse. Hier war der Bereich, in dem die Backwaren angeboten wurden. Sie hatte richtiggelegen. Eine aufgebrachte Frau stürmte ihnen schon vor dem ersten Stand entgegen. In ihrem Einkaufskorb schaukelten ein Weißkrautkopf und eine prall gefüllte Papiertüte. »Ernstl, da bist du ja!«, rief sie. Der Hut fiel ihr vom mausbraunen Haarkranz, als sie den kleinen Ernst an der Schulter griff und an sich presste. In Philomenas Richtung geiferte sie: »Was hattest du mit meinem Kind vor? Ich ruf die Polizei!«
An ihren zusammengepressten Kiefernknochen konnte Philomena erkennen, dass dies keine leere Drohung war.
»Die schöne Prinzessin hat mich doch zu dir gebracht!«, erklärte der kleine Ernst. »Weil du einfach weg warst.« Jetzt verstand die Frau. Ihr Blick wurde weich.
»Entschuldige bitte! Heutzutage kann man doch keinem mehr trauen«, erklärte sie verlegen. »Die ganze Stadt ist voll von Verbrechern. Du musst nur einmal die Zeitung aufschlagen, da wird dir angst und bang!«
»Aber natürlich! Ich verstehe, dass Sie sich Sorgen um Ihren Kleinen gemacht haben.« Philomena hatte inzwischen den Hut aufgehoben und reichte ihn der Frau. Dann verabschiedete sie sich von Ernst. »Ab jetzt schön bei der Mama bleiben, Ernst! Die Prinzessinnen haben nicht immer Zeit, um auf dich aufzupassen. Die müssen gegen wilde Drachen kämpfen und ihr Volk regieren.« Sie wollte sich zum Gehen wenden.
»Wart mal, Mädchen. Nimm das hier!«, rief Ernsts Mutter und drückte Philomena die Papiertüte aus ihrem Korb in die Hand. »Die Kipferl sind unser Dankeschön für dich, eines von mir und eines vom Ernstl!« Der Kleine protestierte lautstark, doch seine Mutter hob ihn einfach auf den Arm und stellte sich erneut in der Warteschlange vor Maislingers Feinbäckerei an.
Philomena konnte ihr Glück kaum fassen. Ein Ei und zwei Kipferl! Das war besser als Weihnachten und Geburtstag zusammen! Wie würde August die Augen aufreißen, wenn sie ihn heute Abend zu diesem Festmahl einlud!
Aber erst einmal musste sie zur Arbeit. So schnell es ihr mit Klappstuhl und Putzkasten möglich war, verließ sie den Marktplatz und lief die Gasse hinauf. Kaiser Franz trabte aufmerksam neben ihr her. Er schien zu wissen, dass nun Eile angesagt war.
Nach knapp zehn Minuten überquerten sie den Donaukanal und kamen an die Treppenanlage, die vor den Gleisen der stillgelegten Dampfbahnlinie zur Straße hinaufführte. Dort oben thronte die »Liesl«. Das mächtige Polizeigebäude mit Gefangenenhaus verdankte seinen fröhlich klingenden Spitznamen der Straße, an der es erbaut worden war. Die hatte bis zur Abschaffung der Monarchie noch Elisabeth-Promenade geheißen. Philomena rannte keuchend die Stufen zur Straßenebene hinauf. Der Schuhputzkasten schlug ihr dabei gegen den Oberschenkel, und die Querstrebe des Klappstuhls stieß gegen ihre Wade. Aber nun war es geschafft. Der Haupteingang der Liesl kam in Sicht! Hoffnungsvoll reckte Philomena den Hals. Da stand auch jemand unter dem Türbogen! Doch als sie die Gestalt genauer sah, musste Philomena enttäuscht feststellen, dass es sich nicht um die bärenhafte Figur von Wachtmeister Wachs handelte. Das dort war nur ein zerlumptes, altes Mütterchen mit einem Wäschesack. Philomena sah sich um. Der Wachtmeister war auch sonst nirgendwo zu sehen. Also saß er schon an seinem Schreibtisch oder war zu einem Einsatz gerufen worden.
»Mist, Mist, Mist!«, entfuhr es ihr. »Hätte ich nur nicht so lange mit dem Eiermann getratscht!«
Kaiser Franz fiepte beunruhigt. Schließlich hatte auch er getrödelt und sich von den Hühnern ablenken lassen.
»Wird eh gutgehn«, beruhigte Philomena ihn und zugleich auch sich selbst. »Die Schnürschuh hat in der Berggasse nichts zu tun, da wohnen nur Reiche. Die treibt sich lieber am Bahnhof rum und schikaniert dort die armen Familien mit ihren Hygiene-Vorschriften. Das wär schon ein blöder Zufall, wenn sie ausgerechnet heute zum Meldeamt wollte.«
Sie überquerten die ehemalige Elisabeth-Promenade, die nun Rossauer Lände hieß, und begannen nebeneinander, die Berggasse hinaufzulaufen.
Doch kurz vor der nächsten Kreuzung wurde Philomena schon wieder von Kaiser Franz ausgebremst. Bockig wie ein Esel blieb er plötzlich stehen, völlig reglos. Nur wenn man ihn genau beobachtete, konnte man Zuckbewegungen an seiner Schnauze wahrnehmen. Philomena beobachtete immer genau. Welcher Geruch war ihm wohl gerade in die Nase geweht? Außer dem alten Mütterchen mit ihrem Wäschesack, das hinter ihnen herhumpelte, war nichts Auffälliges zu entdecken. Trug die Frau darin vielleicht etwas Essbares? Wahrscheinlicher war, dass sich eine schmackhafte Ratte zwischen den Mistkübeln in der dunklen Hauseinfahrt neben ihnen versteckte.
»Ihre Majestät Kaiser Franz Joseph!«, sagte Philomena, »Bewegen Sie bitte den durchlauchtigsten Popsch. Wir wollen unsere Kunden und Kundinnen nicht warten lassen.«
Sie versuchte, den Riesenschnauzer weiterzuschieben. Aber ein Zentner Hund lässt sich schlecht bewegen, wenn er nicht will und wenn man selbst eher...




