Röggla Nachtsendung
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-403682-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unheimliche Geschichten
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-10-403682-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg, arbeitet als Prosa- und Theaterautorin und entwickelt Radiostücke. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der SWR-Bestenliste (2004), dem Arthur-Schnitzler-Preis (2012) und dem Wortmeldungen-Literaturpreis (2020). Sie veröffentlichte unter anderem die Prosabücher »Niemand lacht rückwärts« (1995), »Abrauschen« (1997), »Irres Wetter« (2000), »really ground zero« (2001), »wir schlafen nicht« (2004), »die alarmbereiten« (2010), »Nachtsendung. Unheimliche Geschichten« (2016) sowie gesammelte Essays und Theaterstücke unter dem Titel »besser wäre: keine« (2013). Zuletzt erschienen ihr Roman »Laufendes Verfahren«, für den sie den Heinrich-Böll-Preis für Literatur (2023) erhielt, sowie der Essayband »Nichts sagen. Nichts hören. Nichts sehen.« (2025). Kathrin Röggla ist seit 2020 Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Literaturpreise: Heinrich-Böll-Preis für Literatur (2023) Österreichischer Kunstpreis für Literatur (2020) Wortmeldungen-Literaturpreis (2020) Mainzer Stadtschreiberin (2012) Arthur-Schnitzler-Preis (2012) Franz-Hessel-Preis (2010) Anton-Wildgans-Preis (2009) Solothurner Literaturpreis (2005) Internationaler Preis für Kunst und Kultur des Kulturfonds der Stadt Salzburg (2005) Förderpreis des Schillergedächtnispreises (2004) Preis der SWR-Bestenliste (2004) Bruno Kreisky Preis 2004 für das beste politische Buch Alexander von Sacher-Masoch-Preis (2001) Italo-Svevo-Preis (2001) Nossack-Förderpreis (2003) RIAS Preis (2003) New York Stipendium des Literaturfonds (2001 Reinhard Priessnitz-Preis (1995) Meta-Merzpreis (1995) Salzburger Landesliteraturpreis (1992)
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Frühjahrstagung, Herbsttagung
Fangen sie wieder mit ihrem Schweigeminutenmurks an! Man kann ja gar nichts mehr machen, sagte sich Kurt Felsch ein paar hundert Kilometer entfernt, ohne von dieser Musik unterbrochen zu werden, die die nächste Schweigeminute ankündigt. Alle hielten inne, stellten sich auf und richteten sich nach vorne aus, oder was sie für vorne hielten, und ließen ihre Blicke nach innen fallen. Während der Schweigeminute passierte dann erst einmal nichts, doch, so war ihm klar, das stimmte gar nicht, weil jede Menge passierte, allerdings um die Schweigeminute außen herum. Er wusste: »Die Zeit steht nicht still, nur wir verlieren wertvolle Sekunden. Die Ökonomie arbeitet gegen einen in solchen Momenten«, was aber keinen zu interessieren schien. Sie waren ja auch mit anderem beschäftigt, denn wie immer brauchte es einen enormen Aufwand, um öffentliche Stille zu inszenieren. Man fuhrwerkte schon eine ganze Weile an dieser Schweigeminute herum, arbeitete angestrengt am Innehalten für einen Moment. »Dabei gibt es sie ja zuhauf, die Inseln der Nichtkommunikation inmitten der Extremkommunikation, inmitten des politischen Dauergesprächs auf allen Kanälen. Es wäre weitaus ökonomischer«, dachte Kurt Felsch, »dieses ganze Mikroschweigen zusammenzukehren zu einem einzigen Großschweigen, sie hätten plötzlich einen Sinn, die Kommunikationslöcher, die geistlosen Momente, das Abdriften, das uns alle hin und wieder befällt«, aber darauf kam natürlich niemand, sie verschwendeten wertvolle Redezeit in ihrer konzertierten Großaktion, um ein Zeichen zu setzen, ein wirkliches Zeichen, sozusagen ein unverwechselbares Schweigen, das nichts zu tun hatte mit einem Stolpern oder einem medialen Aussetzer, der berühmten Radiostille, die ganze Nationen in Angst und Schrecken versetzen konnte – dachte Kurt Felsch, während er, wie alle anderen, seinen Blick nach vorne hin richtete, auf die leere Bühne hin, als könnte man das nicht machen: schweigen und sich ansehen. Sie standen still, ein jeder für sich und doch alle zusammen. Man würde der Opfer von F. genau 60 Sekunden lang gedenken, dann würde wieder weitergemacht – schließlich musste ein Ergebnis erzielt werden hier im Hotel P. in Berlin. Auch wenn niemandem klar war, worin es genau bestehen konnte, eine schwierige Sache für Menschen dieses Schlags, die gewöhnt waren, ausnahmslos ergebnisorientiert zu arbeiten. Und doch seien alle gekommen, hatte es in der Begrüßung geheißen: »Auch wir sind nichts als Teilnehmer dieser Tagung und sind hocherfreut, dass es diesmal wieder geklappt hat«, hatte der Moderator launig ins Mikro gesagt, »obwohl es weiß Gott mehr als drei Gründe gegeben hätte, die ganze Sache abzublasen.« Felsch wusste nicht, woher sich der Übermut des Moderators speiste, aber er sortierte auch gerade das Publikum in jene, denen das Wasser bis zum Hals stand, und jene, die dabei waren, sich neu zu orientieren, wie es der Moderator nennen würde. »Auch dürfen wir eine Reihe von Politikern in unserer Runde begrüßen, die wir bisher noch nie begrüßen durften«, schloss dieser gerade etwas unvermittelt, als schon der Grüßaugust vom Ministerium aufs Podium schoss und seinen Minister und seinen Staatssekretär entschuldigte. Politiker hatte Felsch ansonsten keine gesehen. Kaum verwunderlich, schließlich hatten sie im Moment auch anderes zu tun, es herrschte ja quasi Ausnahmezustand – »ja, der herrscht«, gab ein Herr neben ihm zu, »und dieser Typ wäre gut beraten, uns jetzt nicht im Weg zu stehen«. Felsch war sich nicht sicher, ob das als Scherz gemeint war, oder ob dieser Typ zu jenen gehörte, die davon ausgingen, es könnte gar kein Ausnahmezustand herrschen, es gäbe so etwas in seinem politischen Leben nicht, aber noch bevor er das zu Ende überlegt hatte, verschwand auch der Vertreter des Staatssekretärs wieder, und man begann mit der Schweigeminutenstartmusik.
Immerhin, so dachte er jetzt, meinte hier niemand, man würde von der Krise nichts fühlen. Die Fühlgespräche fanden ja auch woanders statt, im Raum Schinkel möglicherweise, der im anderen Trakt des Konferenzhotels lag, aus dem er geflohen war in Richtung Tatsachen. Denn hier, so hatte es geheißen, fand eine Tatsachenkonferenz statt, Unwirklichkeitsgefühle hatten hier keinen Zentimeter Raum, und es gab einige, die mächtig stolz waren, es in diese Tatsachenkonferenz geschafft zu haben, quasi per Eintritt in diesen Konferenzsaal nur noch unter Tatsachenmenschen zu stehen und die Fühlkonferenz hinter sich gelassen zu haben, all die Geistesmenschen, die über Alarmismus und Bilder des Untergangs debattierten und sich insgeheim andauernd fragten, inwieweit die Medien die Wirklichkeit noch erfassen konnten, obwohl sie nichts anderes als eben diese Medien zur Verfügung hatten.
Man nannte es Frühjahrstagung als Pendant zur Herbsttagung, wohl um dem Ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben oder um ihm jede Dringlichkeit zu nehmen, den Entscheidungsdruck zu mindern, der sich langsam bemerkbar machte. Letztendlich wussten alle, dass diese Konferenz einen Erdrutsch auszulösen in der Lage war, darüber konnten auch die Keynote Speeches und die drei vagen Panels nicht hinwegtäuschen, die ohnehin nur von ein paar Wissenschaftlern, Betriebswirte und Juristen allesamt, wahrgenommen wurden.
Hier sei er von Insidern umgeben, hatte man ihm versichert, nichts als Insider, was ihn enorm stutzig machte. Es hatte ihn nicht gewundert, dass er erst mal auf keine Insider getroffen war, nur auf irgendwelche Stiftungsleute, die ständig auf ihn zugesteuert kamen und ihn gleich volllaberten, vielleicht, weil sie auch nicht recht wussten, wie sie ihn einordnen sollten. Als ahnten sie, man dürfte ihn keinen Moment alleine lassen, womit sie ja nicht ganz unrecht hatten. Eine Frau Efferdingen hatte sich regelrecht an ihn geklammert. Sie war an der Konferenzorganisation nicht unwesentlich beteiligt gewesen und witterte einen verwandten Funktionsträger in ihm, den man zuschwallen konnte mit den Visualisierungen, die sie habe ans Bundespresseamt schicken müssen. Das Problem mit der ministerialen Schirmherrschaft etc. und wie das Stiftungsrot ganz schnell vom Bundespresseblau verdrängt werde. Das Stiftungsrot und das Bundespresseblau hatten ihr ganzes Gespräch beherrscht, und er wusste bis jetzt nicht, von welcher Stiftung sie sprach, genervt und aufgeregt gleichermaßen. Man hatte hier ja keine Dreifarbenkennung wie bei einem dieser B2B-Specials Ende der 90er, als man grüne Geldsuchende roten Geldgebern gegenüberstellte und ihnen gelbe Berater an die Seite empfahl. Heute bräuchte man eine Dreifarbenkennung, damit sich deren Träger erinnerten, was sie eigentlich darstellen sollten. Z.B. dieser Herr Berger, der vollkommen im Ludwigerhardadenauerbewunderungsstau zu stecken schien, verquere Wirtschaftswunderbilder im Kopf, ein hochroter Kopf, ungesund.
Felsch ermahnte sich, während der Schweigeminute lieber die Liste der Personen durchzugehen, mit denen er eigentlich sprechen sollte, und sortierte die Gespräche schon mal durch: Das Gesicht der Börse, Mister Dax, würde nicht dabei sein, der Katastrophenexperte aus dem Hessischen mit seinen weltweit 6000 Ingenieuren schon eher, bloß nicht dieser Chefökonom aus Genf, den er ein paar Meter weiter entdeckte. Der zog auch nur kurz die Augenbraue hoch, als er seiner gewahr wurde. Vielleicht irgend so ein BDI-Sekretär, von denen es angeblich bei solchen Gelegenheiten nur so wimmelte, Typen vom Auswärtigen Amt, die er erst einmal herausfinden musste. Sein fundamental schlechtes Namensgedächtnis hatte ihm schon so manches Window of Opportunity, wie man hier sagen würde, wieder verschlossen und das Fehlen jeglicher Bereitschaft, die Society-Nachrichten in den Klatschzeitungen zu lesen, schon so manche Peinlichkeit eingebracht. Wen man alles kennen musste, das hatte sich ja ausgeweitet. Es waren längst keine Funktionen mehr, sondern Namen, die eine Rolle spielten. Man hatte kleine Fürstentümer aufgemacht, von denen man geglaubt hatte, man habe sie vor knapp 200 Jahren verabschiedet.
Sie hatten im Raum Bismarck das Licht nicht extra heruntergedimmt wie bei anderen Schweigeminuten, Konkurrenzschweigeminuten in Konkurrenzräumen, es war von Anfang an relativ dunkel. Vielleicht, um es gemütlicher wirken zu lassen. Irgendein Lichtdesign spukte da in den Köpfen herum, das er noch nicht ganz verstand, ein Lichtdesign des Undramatischen, sanft, aber doch abwechslungsreich, den Raum gestaltend, Nischen bietend, und doch die Gesichter verdunkelnd. Dazu passten die schwarzbraunen Holzpaneele phantastisch, die sattblauen Teppiche, die schweren Türen, die jegliches Geräusch schluckten – klopfende, pöbelnde und schreiende Menschen waren hier einfach nicht vorstellbar. Auch hatte man anscheinend darauf verzichtet, irgendein Schweigeminutenbegleitgeräusch erklingen zu lassen, ja, ihm fiel erst jetzt auf, dass es nicht einmal die Musik, die ewige Schweigeminutenmusik gab, die das Ganze normalerweise untermalte. Immerhin nicht die Nationalhymne, wie es im Raum Potsdam der Fall gewesen wäre. In diesem Raum schien die kleine Startmusik zu reichen. Aber man hatte wohl auch nicht zu viele Gedanken auf die Beendigung der Aktion verschwendet, denn niemand machte Anstalten, ein Ende anzudeuten, obwohl seines Erachtens eine Minute nur 60 Sekunden hatte. Mittlerweile war schon eine kleine Unruhe, eine Schweigeminutenunruhe entstanden, d.h. der Mann mit der rosa Krawatte bewegte sich vorsichtig aus dem Raum, als...




