Röhrig Ein Sturm wird kommen von Mitternacht
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7325-0347-6
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 701 Seiten
ISBN: 978-3-7325-0347-6
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Europa im fünften Jahrhundert. Die junge Burgunderin Goldrun wird als Geisel ins Land der Hunnen verschleppt. Ihr besonderes Gespür für Pferde lässt sie am hunnischen Hof von der Sklavin bis zur Stallmeisterin aufsteigen. Dabei lernt sie den jungen Prinzen Ernak kennen und lieben. Doch ihre Liebe steht unter einem unheilvollen Stern, denn Ernaks Vater ist der Großkönig Attila, den man 'die Geißel Gottes' nennt ... Dieses E-Book ist als Taschenbuch auch unter dem Titel 'Die Burgunderin' erschienen.
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Warum? Die Frage war zu groß, keine Antwort würde je ausreichen. Goldrun irrte über das Schlachtfeld, die Augen geweitet. Die Lippen bebten beim Anblick der Pferdeleiber, der toten Kämpfer, hingemäht durch Pfeile, Speere und Schwerter.
Niemand hatte die Zehnjährige zurückgehalten, selbst ihre Mutter nicht. Unvermittelt war sie aufgestanden, hatte den seilumspannten Pferch der Gefangenen verlassen und war an den Zelten der Wachposten vorbeigegangen. Eine zarte Gestalt, das Kittelhemd mit einem Lederriemen gegürtet; vom Stirnband wurde ihr goldrot schimmerndes Haar gebändigt und fiel erst im Nacken lockig über die Schultern. Sah sie zum blassen Himmel und weiter nach Westen in den versinkenden Sonnenstreifen am Horizont, schien ihr die Welt so friedvoll wie gestern, blickte sie zu Boden, schrie der Tag sie aus aufgerissenen Gesichtern der Erschlagenen an.
Goldrun wich aus, suchte immer wieder einen neuen Pfad. »Es ist nicht wahr.« Verwundert lauschte sie ihrer Stimme; der helle Klang hob sich über das Elend und kehrte zu ihrem Mund zurück. »Ich weiß es.«
Schon am Rande der ausgedehnten Flussniederung war das Gras nicht mehr grün gewesen, war getränkt vom schwärzlichen Blut, die Blumen zertreten. Jetzt aber gab es kaum noch einen freien Fleck, auf den sie ihren Fuß setzen konnte. Unzählige Hügel aus Schilden, Helmen und Körpern mit zerrissenen Kleidern, zerfetzten Panzerhemden türmten sich vor ihr auf. Wie kahle Strünke wuchsen Pfeile und Speere aus den Toten. »Aber er wartet doch auf mich.« Zitternd stieg Goldrun über die Leichen, war bemüht, nur auf Eisen zu treten, ihre Sandalen aber rutschten immer wieder ab. Mit einem Mal bemerkte sie, dass lichtlose Augen sie von unten anstarrten und sie spürte das Grauen zwischen ihren nackten Beinen hochkriechen, sich in die Haut ein nisten. »Nicht. Lasst mich.« Goldrun tastete nach dem ledernen Amulettbeutel unter ihrem Hemd und stapfte weiter.
Bilderfetzen kamen, drängten sich auf: In der Frühe hatte der Vater lachend von der Mutter Abschied genommen und war hoch zu Ross, gerüstet mit Kettenpanzer, Schwert, Lanze und Schild aus dem Hof geritten. »Heil König Gunther! Heute werden wir den Feind besiegen und davonjagen!«
Wie stets, wenn er in den Kampf zog, wartete Goldrun draußen vor dem Tor auf ihn. Sie wollte die Letzte sein, der er Lebewohl sagte. »Schönste Dame meines Herzens!« Er senkte die Lanze. »Kein Gegner wird mich daran hindern, zu Euch heimzukehren.« Goldrun hatte ihm noch lange nachgewunken. Die Morgensonne ließ den Helm blinken. So stark wie der Vater ist kein anderer Ritter im ganzen Reich der Burgunder, hatte sie voller Stolz gedacht. Ganz allein kann er den König und uns beschützen.
Als am späten Nachmittag das Waffengeklirr in der Rheinebene schwächer geworden war, keine langgezogenen Tubastöße zum erneuten Angriff erschallten, dafür das Siegesgeheul der hunnischen Horden lauter und lauter gellte, hatte die Mutter den kleinen Giselher an sich gedrückt: »Das Glück hat sich von uns abgewandt. Der Vater kommt nicht mehr. Wir sind jetzt allein, Mädchen, du, dein Bruder und ich.«
Goldrun verstand die Worte nicht, hatte die Mutter nur verwundert angeblickt.
Dann kamen Reiter auf struppigen Pferden wie ein Sturmwind auf den Hof. Wer sich von den Knechten nicht gleich ergab, dem spalteten sie den Schädel. Die übrigen wurden zusammen mit den Frauen und Kindern wie Vieh zu den Gefangenen in die Weide neben dem flachen Tümpel getrieben. Goldrun hatte hinüber zur Hauptstadt gestarrt: Die Tore waren geborsten. Flammen schlugen aus den Häusern. Schwarze Rauchwolken stiegen. Worms brannte.
»König Gunther ist tot«, hörte sie die Frauen flüstern. Weinen und Jammern wurden lauter. »Unsere Männer sind gefallen. Großer Gott erbarme dich. Was wird nun aus uns?«
Die Mutter wiegte Giselher auf den Knien. Verloren sagte sie immer wieder vor sich hin: »Der Vater kommt nicht mehr … Der Vater kommt nicht mehr …«
Nein, das ist nicht wahr, hatte Goldrun gedacht, er wartet nur, dass ich ihn abhole. Dann war sie aufgestanden …
Nun ängstigte, bedrohte sie längst die Wirklichkeit. Süßlicher Geruch nahm ihr den Atem. »Vater!« Seit mehr als einer Stunde suchte sie schon vergeblich nach ihm. Dämmerung fiel. Inmitten der Leichen berge stand sie hilflos da. Tränen rollten ihr über die Wangen. Mit matter Stimme rief sie. »Vater, hörst du mich?«
Seufzen. Nein, es klang eher wie ein Stöhnen.
»Vater?« Hoffnung weckte ihre letzten Kräfte. »Ich bin’s.« Erneut antwortete ein Stöhnen ganz in ihrer Nähe. Sie starrte in die Richtung, folgte hastig dem Geräusch. Nach wenigen Schritten aber verstummte es wieder. Goldrun beugte sich über einen niedergestreckten Kämpfer. Er lag mit dem Gesicht nach unten. Er trug das gleiche Kettenhemd wie der Vater. Behutsam drehte sie seinen Kopf und schreckte gleich vor dem aufgerissenen starren Mund zurück. Sie ging zum nächsten, lüftete den Helm; das Haar war nicht blond. Dem Nachbarn steckte ein Pfeil in der Kehle. Goldrun stolperte weiter. Ihr Herz pochte, hämmerte. Wohin sie auch blickte, überall glaubte sie den Vater zu erkennen, eilte zu ihm, und erst wenn sie sich niederkauerte, war es ein fremder Mann. »Tot! Alle sind tot!« Die Schultern sanken, sie wehrte sich nicht länger gegen die Wahrheit. »Mutter hat Recht«, schluchzte sie. »Der Vater kommt nicht mehr.«
Tiefes Ausatmen. Direkt hinter ihr. Goldrun fuhr herum. Nichts, nur das gleiche unfassbare Elend. So schwer wurden die Beine. Müdigkeit. Du darfst nicht schlafen, befahl sie sich. »Ist da jemand?« Sie schleppte sich weiter. »Ich hab dich doch gehört.«
Wer es auch war, ganz gleich, sie wollte nur nicht allein sein. Vielleicht dort drüben? Goldrun musste einem gestürzten Pferd ausweichen. Es lag auf der Seite. Fliegen sirrten, bedeckten den wehrlosen Körper. Fast war sie schon vorüber, als sie erneut ein Seufzen vernahm. Die Stute hob den Kopf an, gleich sank er wieder zurück.
»Du warst es.« Goldrun hockte sich nieder, verscheuchte einen Schwarm der Plagegeister, sanft strich sie über den Nasenrücken bis zu den Nüstern. Bei der Berührung öffneten sich die langen Wimpern. Schmerz stand in dem fiebrigen Blick. Vertrockneter Speichel klebte am Maul und Kinn. »Ich helfe dir.« Sie löste die Lederriemen und streifte das Zaumzeug ab. Ihre Hand glitt tröstend über das weiche Fell an der Kopfseite und weiter zum Hals. Zorniger sirrten die Fliegen. Dann wurden ihre Fingerkuppen nass und warm. Auf Knien rutschte das Mädchen vor die Brust der Stute. Den Sattel hatte sie beim Sturz verloren, trug nur noch den schweren Schurz aus engmaschigen Eisen ringen. Dieser Schutzmantel sollte Schwerthiebe und Lanzenstiche abwehren. Am Übergang zur Schulter aber klaffte eine tiefe Wunde. Blut quoll in Stößen heraus, rann in einer breiten Spur durchs Fell und versickerte im Gras.
Es war kein Gedanke, eine innere Stimme bat: Lindere die Qual.
Goldrun legte beide Hände auf die pulsende Quelle. Das Blut war nicht einzudämmen. »Wie soll ich denn helfen?« Verängstigt blickte sie zum Himmel. »Heilige Maria, du Beschützerin. Lass uns nicht allein.« Kein Zeichen, keinen Rat erhielt sie von der göttlichen Mutter.
Nach einer Weile wischte sich Goldrun die Tränen von den Wangen. Dieser Kettenmantel ist zu eng, dachte sie, löste die Haken und schob den Schurz beiseite. »So kannst du leichter atmen«, tröstete sie mit leiser Stimme, »ich bin ja bei dir«, und wiederholte es, während sie mit hin und her wedelnder Hand die gierigen Fliegenschwärme von der Wunde fernhielt.
Lindere die Qual, verlangte die Stimme in ihr.
»Ich will es doch, aber ich weiß nicht wie.«
Goldrun presste erschreckt die Lippen zusammen. Einmal war sie Zeugin gewesen, als auf dem elterlichen Hof ein Wallach erkrankt war. Zwei Tage lag er mit aufgeblähtem Leib im Stall, Krämpfe schüttelten ihn. So sehr sich der Vater auch bemühte, alle Kräuter und Tinkturen halfen nicht. »Es ist zwecklos, mein Mädchen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir müssen das Tier von seinen Schmerzen erlösen.« Ohne Zögern nahm er sein Kurzschwert aus der Scheide, und ehe Goldrun begriff, hatte er dem Pferd mit einem harten Stoß die Klinge bis zum Heft ins Herz getrieben.
»Nein, das kann ich nicht«, flüsterte sie und strich über das klebrig braune Brustfell. Die Stute schnaubte leise. »Hab keine Angst.« Wenn ich nur das Blut stillen könnte. Entschlossen erhob sich Goldrun. Wenige Schritte von ihr entfernt entdeckte sie die Satteldecke. Mehr als die Hälfte des Tuches lag unter zwei gefallenen Kämpfern begraben. Goldrun fasste nach einem Zipfel und zerrte. Doch die Toten hielten den Schatz fest. »Lasst los, bitte.« Heftiger ruckte sie, mit einem Mal bewegten sich die Körper, rollten schwerfällig auseinander und gaben die Decke frei.
Erschöpft kehrte Goldrun zu ihrem Schützling zurück. »Ich bleibe bei dir«, tröstete sie. »Keiner von uns beiden muss allein schlafen.« Behutsam breitete sie das Tuch über die Wunde, den Hals und die Brust. Sie beugte sich nah ans Ohr der Stute. »Mehr weiß ich nicht.«
Nur halb öffnete sich das Lid. Der Schmerz war gewichen; ohne Weh, ermattet blickte das große braune Auge. Goldrun drückte ihre Lippen auf die samtige Haut über den Nüstern. »So ist es gut.«
Unterhalb der Halsbeuge rollte sie sich im blutnassen Gras zusammen, rutschte mit dem Rücken näher an den großen Leib. »Wir wärmen uns gegenseitig.« Mit der Hand zog sie einen Teil der wollenen Decke über ihren Kopf. Tief sog sie den Geruch des Tieres ein, Schweiß vermischt mit Süße. Jeder Atemzug betäubte mehr, vertrieb die furchtbaren Bilder des Tages; bunte Bänder...




