Rudyak | Dialog mit dem Drachen | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Rudyak Dialog mit dem Drachen

Wie uns strategische Empathie gegenüber China stärken kann
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-593-46049-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie uns strategische Empathie gegenüber China stärken kann

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-593-46049-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



China kennt uns viel besser, als wir China kennen. Je mehr wir das Land als Rivalen sehen, desto weniger wollen wir mit ihm zu tun haben. Das ist nicht strategisch gedacht, sagt die Sinologin Marina Rudyak, die lange in China gelebt und gearbeitet hat. Sie zeigt, • wie wir China, seine Beziehungslogik und seine Handlungslogik dekodieren lernen • wie die Position Chinas gegenüber Russland, Taiwan und dem globalen Süden einzuschätzen ist • welche Rolle Europa im Beziehungsdreieck mit China und den USA einnehmen sollte Ihr Buch enthält zentrale Handlungsanweisungen, um im aktuellen geopolitischen Konflikt auf Augenhöhe agieren zu können und die europäische Außenpolitik und Wirtschaft auf lange Sicht voranzubringen. Wir brauchen Chinakompetenz!

Marina Rudyak ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sinologie der Universität Heidelberg, in Russland geboren, hat viele Jahre in China gelebt und kann profunde Chinaerfahrung und Sprachkenntnis vorweisen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Chinas internationale Entwicklungszusammenarbeit, Chinas Beziehungen zu Russland und Zentralasien, sowie das internationale Diskurssystem der Kommunistischen Partei Chinas. Sie promovierte an der Universität Heidelberg zur Geschichte der chinesischen Entwicklungshilfe. Zwischenzeitlich war sie mehrere Jahre lang als wirtschaftspolitische Beraterin für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Peking tätig.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Kapitel 1
Das Ende der Geschichte ist Chinas Anfang


Was wir erleben, ist möglicherweise nicht nur das Ende des
Kalten Krieges oder einer bestimmten Periode der Nachkriegsgeschichte,
sondern das Ende der Geschichte als solcher: das heißt, der Endpunkt
der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als finale menschliche Regierungsform.

Francis Fukuyama, 19891

Im Frühjahr 2022 war ich zu einem Workshop bei einem Thinktank in New York eingeladen. Der Teilnehmerkreis: transatlantisch. Das Thema: »30 Jahre ›Ende der Geschichte‹ – Die Rückkehr des Westens?« Als ich im Freundes- und Kolleg:innenkreis von dem Workshop erzählte, waren die Reaktionen höchst gemischt. Die einen fragten, »Ach, ist er etwa wieder zurück?«, die anderen, »War er denn jemals weg?«. Abhängig war die Reaktion davon, inwieweit sich die Leute, vor allem beruflich, mit China oder »dem Rest« der Welt, also dem Westen, befassten. Diejenigen, die es taten, zählten überwiegend zum ersteren Lager. Ich auch.

Als Francis Fukuyama 1989 seinen Artikel über »Das Ende der Geschichte« schrieb, machte sich im Westen gerade die Euphorie über das Ende des Kalten Krieges breit. Man glaubte, die Demokratien hätten ein für alle Mal gewonnen. Autokratien waren gefallen, waren dabei zu fallen oder würden fallen. Ganz sicher. Bald. Die ehemaligen Ostblockstaaten wurden demokratisch. Die friedliche Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik endete mit der deutschen Wiedervereinigung. Am 31. Dezember 1991 zerfiel die Sowjetunion. Auch China, da war man sich ganz sicher, würde demokratisch werden. Selbst die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 tat dieser Hoffnung kaum Abbruch. Zwar belegte der Westen China nach dem »Tiananmen-Massaker« zwischenzeitlich mit Sanktionen, doch dann unternahm Deng Xiaoping Ende Januar 1992 seine Tour nach Südchina – bekannt als Dengs »Südtour«2 – und machte klar, dass China die »Reform- und Öffnungspolitik«, die nach Tiananmen innerhalb der chinesischen Führung infrage stand, fortsetzen wird. Chinas rasantes Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen Chancen für westliche Unternehmen legten einen Schleier über den 4. Juni3 und weckten die Hoffnung, mehr noch, die Überzeugung, dass China mit mehr Wirtschaftswachstum und Öffnung »uns« schon irgendwann gleich werden würde. Die Kommunistische Partei Chinas würde scheitern und China würde, wenn schon keine Demokratie nach westlichem Vorbild, dann doch zumindest so etwas wie ein großes Singapur werden.

30 Jahre später ist die Geschichte, die Fukuyama 1992 in seinem aus dem Artikel entstandenen Buch für beendet erklärt hatte, wieder zurück. In Europa herrscht Krieg. Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen. Der russische Präsident Wladimir Putin fühlte sich von der NATO umzingelt und bedroht und warf dem frei gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – wohlgemerkt, einem Juden! – vor, ein Nazi zu sein und die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine zu unterdrücken. In Russland selbst herrscht seit Kriegsbeginn Stalinismus 2.0. Für einen kriegskritischen Social-Media-Post drohen fünf Jahre Gefängnis.

Russland steht damit nicht alleine, weltweit weist die Entwicklung in eine ähnliche Richtung, autoritäre Regime erleben eine Renaissance: Die Zahl der liberalen Demokratien ist von einem Hochstand von 44 im Jahr 2009 auf 32 im Jahr 2022 gesunken. 5,6 Milliarden Menschen, also 72 Prozent der Weltbevölkerung, lebten 2022 in Autokratien. Damit ist die Welt auf den Stand von 1986 zurückgefallen.4

Und der angeblich »mächtigste Mann der Welt«? Ist ein Autokrat. So bezeichnen zumindest die Journalisten Stefan Aust und Adrian Geiges in ihrem gleichnamigen Buch5 Xi Jinping, seit 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und seit 2013 auch Chinas Staatschef. Der bedeutende Sinologe Geremie R. Barmé betitelt Xi wegen seiner Machtfülle als »Chairman of Everything«.6

Seit Xis Machtübernahme hat China einen radikalen Außenpolitikwandel vollzogen. Xi machte Schluss mit der von Deng Xiaoping begründeten und von dessen Nachfolgern weitergetragenen defensiven Außenpolitik und wandte sich einer proaktiven Großmachtdiplomatie zu. Die sichtbarste Manifestation davon ist die 2013 verkündete Neue-Seidenstraße-Initiative, auch bekannt unter der englischen Bezeichnung Belt and Road Initiative (BRI). Ursprünglich dazu gedacht, Chinas Beziehungen zu den eigenen Nachbarn zu verbessern, wurde die Initiative schnell zum weltweit größten Infrastruktur- und Handelsprojekt. Sie umfasst nahezu alles: Finanzen, Infrastruktur, Innovation, Handel, Transport, Nachhaltigkeit und interkulturelle Beziehungen. Mehr noch, Peking präsentierte die BRI als einen alternativen und besseren Multilateralismus chinesischer Prägung, einen Gegenentwurf zum bestehenden internationalen System, das seiner Ansicht nach nicht fair und gerecht ist, sondern vor allem die Eigeninteressen einer bestimmten Gruppe von Staaten, nämlich des Westens, schützt.7 Auch wirtschaftlich will China zu den stärksten Mächten der Welt zählen. Das 2015 ins Leben gerufene milliardenstarke Investitionsprogramm »Made in China 2025« soll den Wandel von der verlängerten Werkbank internationaler Konzerne zu einer Technologieführerschaft in wichtigen Schlüsselbranchen sicherstellen. Es war so erfolgreich, dass die USA am 7. Oktober 2022 verkündeten, keine hochwertigen Chips mehr nach China zu liefern und zudem verhindern zu wollen, dass es andere Länder tun.8 Bereits im März 2019 hatte die EU-Kommission in ihrem »Strategic Outlook« erklärt, dass sie China nicht länger als ein Entwicklungsland, sondern als einen globalen Akteur und eine führende Technologiemacht betrachtet. China sei nunmehr gleichermaßen ein Kooperationspartner bei gemeinsamen (globalen) Zielen, ein Wettbewerber im Kampf um technologische Führerschaft und mit seinem politischen System ein systemischer Rivale.

Xi Jinping selbst griff Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte« bei mehreren Gelegenheiten auf. In einer Rede zum 95. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei 2016 erklärte er, dass »die Geschichte nicht zu Ende ist und gar nicht enden kann«, die Partei und das chinesische Volk hätten vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, chinesische Lösungen für die Herausforderungen der Menschheit und ein besseres gesellschaftliches System zu finden.9 Im Wettbewerb mit dem Westen positioniert China also sein Modell Entwicklungsländern gegenüber als das effizientere und für sie besser geeignete. In der ersten politischen Rede seiner beispiellosen dritten Amtszeit im Februar 2023 erklärte Xi – vor allem an den Globalen Süden gerichtet –, die »Modernisierung chinesischer Prägung« habe mit dem Mythos gebrochen, dass Modernisierung zwangsweise »Verwestlichung« bedeuten müsse, und zeige Entwicklungsländern einen alternativen Pfad zur Modernisierung.10 »Alternativ« bedeutet hier: Seht her, Modernisierung ist auch ohne Demokratie möglich!

»The Land That Failed to Fail«


Dabei hätte es China, so wie es heute existiert, eigentlich gar nicht geben dürfen. Das Pekinger Regime hätte scheitern müssen, zumindest, wenn man allen gängigen Annahmen der vergleichenden Politikforschung glaubt.11 Demnach könnten Markwirtschaft und Autoritarismus nicht dauerhaft nebeneinander bestehen. Wirtschaftliche Öffnung und Strukturreform zögen zwangsläufig auch politische Reformen nach sich – das war die Lehre aus den Systemumbrüchen in den zentral- und osteuropäischen Staaten der 1980er Jahre. Eine wachsende Mittelschicht, so die westlich geprägte Theorie, würde irgendwann demokratischen Wandel einfordern. Einkommensdisparität und zunehmende Ungleichheit würden zur Destabilisierung und letztendlich zum Fall autoritärer Regime führen. Hierarchisch organisierte Zentralstaaten seien nicht in der Lage, flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren. Das gelte erst recht für leninistische Staatsparteien, denen unterstellt wird, nicht lern- und anpassungsfähig...



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