E-Book, Deutsch, 346 Seiten
Rüther Aus dunklen Federn 2
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95824-626-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Horror-Stories von Markus Heitz, Kai Meyer, Thomas Finn und vielen anderen
E-Book, Deutsch, 346 Seiten
ISBN: 978-3-95824-626-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gänsehaut und Horrorfreuden: Erleben Sie mit 'Aus dunklen Federn 2' Schauergeschichten, feinsten Splatter und dunkle Fantasien als eBook bei dotbooks. Wenn die helfende Hand, die du hoffnungsvoll ergreifen willst, messerscharfe Klauen hat ... Die kleine Anna ist mutterseelenallein und wünscht sich von ganzem Herzen einen Freund. Ein freundliches Ehepaar will nicht länger die Schikanen ihres sadistischen Nachbarn hinnehmen. Yvonne flieht vor dem Alltagsgrau in eine Fantasiewelt, in der sie eine mutige Heldin ist. Doch sie alle ahnen nicht, welche grausamen Folgen dies für sie haben wird! Die Bestsellerautoren Markus Heitz und Kay Mayer, Thomas Finn, Boris Koch und viele andere öffnen die Türen der Realität - und entfesseln in ihren meisterhaften Horror-Storys, die ungeahnten Schrecken, die in der Dunkelheit lauern. Ein faszinierendes, abgründiges Lesevergnügen für alle, denen Rabenschwarz schon immer lieber war als Glitzerrosa ...
Autoren/Hrsg.
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Nicole Zöllner
Photosynthese
Jeder von uns hat in seiner Schullaufbahn wohl mindestens einen Lehrer kennengelernt, den er abgrundtief hasste. Einen, von dem man ganz genau wusste, dass er einen auf dem Kieker hatte. Der unangemessen streng agierte und für den Strafarbeiten gewissermaßen ein fester Bestandteil des Lehrplans waren.
Bei mir war es Herr Werner. Er war mein Sport- und Biologielehrer in der siebten Klasse der Realschule.
Er war neu an unsere Schule gekommen, und die Gerüchteküche brodelte anfangs ziemlich stark, weil Herr Werner irgendwie ausgedörrt und vertrocknet aussah. Die Haut in seinem Gesicht war faltig und übermäßig gebräunt, seine grauen, fast weißen Haare erschienen wie dünne Drahtfäden, und wenn man in seiner Nähe stand, roch es immer so seltsam nach Sonne und Zuckerwasser. Zudem schleppte er stets einen kleinen Holzkasten mit sich herum.
Überall auf dem Schulhof und in den Gängen wurde getuschelt, wann immer er in Sichtweite kam.
Wo kam er her? Was war in dem Kasten? Und wie zum Teufel konnte er es sich leisten, ständig an den Strand zu fahren?
Die Erklärung lieferte er gleich in der ersten Stunde, die wir bei ihm hatten.
»Ich habe einen seltenen Gendefekt, der mich zwingt, täglich mindestens eine Stunde unter der Höhensonne zu liegen und viel Zucker zu mir zu nehmen. Ansonsten sterbe ich«, waren seine knappen Worte. »Und das hier sind meine kleinen Lieblinge. Sie heißen Elysia chlorotica. Sie brauchen sehr viel Aufmerksamkeit.«
Mit diesen Worten holte er eine mehr als sonderbare Grünpflanze aus der Kiste und stellte sie auf die Fensterbank zu denen, die er dort schon vorher platziert hatte. Einen Augenblick lang dachte ich, er wollte uns verarschen. Das konnte doch unmöglich eine echte Pflanze sein. Der Stamm und die dürren Zweige sahen aus, als wären sie ein Stück Drahtgeflecht, das man mit grünem Filz umwickelt und mit welken, gelbgrünen Blättern beklebt hatte. Zudem stanken die Dinger wie verrottender Seetang.
Ich wollte sofort das Fenster öffnen, aber ich hatte den Fenstergriff noch nicht einmal berührt, da sprang Herr Werner auf und schrie: »Nein! Keine frische Luft! Elysias vertragen das nicht.«
Völlig erschrocken fragte ich mich, was für einen armseligen Freak man uns da als Lehrer vor die Nase gesetzt hatte. Der arme Troll wohnte sicher noch bei seinen Eltern unterm Dach, hatte weder Freundin noch Freunde. Ich stellte mir vor, wie er allein in seinem Zimmer hockte, seine selbstgebastelten Pflanzen goss und ihnen abends vor dem Schlafengehen ein Gutenachtlied sang. Die Wände seines kleinen, stinkenden Dachkämmerchens waren ohne Frage mit Postern von Frank Sinatra und Doris Day zugeklebt, und auf dem Nachttisch stand ein Foto von seiner Mama. Er tat mir leid. Wirklich. So einen armen Kerl konnte man doch nur bemitleiden. Doch schon im nächsten Moment wurde das Mitgefühl, das sich gerade in mir regte, wieder zunichtegemacht.
»Genug von mir. Schlagt eure Bücher auf. Seite 78. Photosynthese. Durchlesen, ausarbeiten und anschließend die Zeichnungen ins Heft übertragen. Ich sammele die Hefte am Ende der Stunde ein.«
Keine Entschuldigung, dass er mich grundlos angeschnauzt hatte, kein Bitte, kein Danke.
Was für ein Arsch!
Meine Abneigung gegen ihn steigerte sich, als er uns in der nächsten Stunde die Hefte auf den Tisch knallte und behauptete, dass keiner von uns es richtig gemacht hätte.
»Wo ist der grüne Rand?«, herrschte er uns an. »Ich will, dass jede einzelne Seite einen grünen Rand bekommt. Drei Zentimeter Abstand oben, zwei Zentimeter Abstand unten und zweieinhalb Zentimeter Abstand an den Seiten!«
So wie in dieser Stunde war es danach jedes Mal. Wir konnten nichts richtig machen. Seiner Meinung nach waren wir einfach nur begriffsstutzig und faul. Reihenweise riss er Seiten aus Heften, zerbrach Kugelschreiber und stumpfe Bleistifte und spielte Dart mit unseren Füllern. Und während wir uns mit den Texten und Zeichnungen abmühten, saß er vorne und fixierte uns über den Rand seiner Teetasse hinweg oder lutschte geräuschvoll an einem seiner Zuckerwürfel, von denen er immer ein Schälchen vor sich stehen hatte. Hin und wieder wanderte er auch durch die Sitzreihen und schaute uns über die Schulter.
Das war wohl das Unangenehmste an ihm. Nicht nur, weil man dann diesen klebrigen Zuckergeruch in der Nase hatte, sondern vor allem, weil er einem dabei so nah kam. Mehr als einmal dachte ich, er würde mir die Luft zum Atmen stehlen wollen. Überhaupt atmete er ungewöhnlich laut, wenn er neben jemandem stand. Es war kein Röcheln oder Schniefen, es war einfach laut und tief. Merkwürdigerweise war seine Atmung ganz normal, wenn er am Pult saß. Vielleicht lag es ja an seiner Krankheit, vielleicht hatte er Probleme, Luft zu bekommen, aber ihn danach fragen wollte keiner.
Fragen zu stellen, war ohnehin keine gute Idee in seinem Unterricht. Zumindest solche, die ihn, seine Methoden oder seine Versuche betrafen. Wir wagten es nicht einmal, uns öffentlich über den seltsamen Test zu wundern, bei dem wir so lange in eine Plastiktüte atmen sollten, bis uns schwarz vor Augen wurde.
»So bestimmen wir den Gehalt des Kohlenstoffdioxids in eurer Atemluft. Wir werden damit in der nächsten Stunde ein paar Experimente machen«, war seine lahme Erklärung.
Im Sportunterricht war es genauso wie in Bio. Er erteilte seine Befehle und ließ uns dann machen, während er uns genau beobachtete. Aber wehe, wenn einer sich nicht genug Mühe gab. Dann ließ er zur Strafe die ganze Klasse Runden laufen, bis wir schweißnass waren und uns die Lungen fast aus den Hälsen hingen. Ich werde wohl nie den Anblick vergessen, wie er dabei an der Wand lehnte, mit seiner Stinkepflanze im Arm, zufrieden lächelnd und gierig die nach Schweiß riechende Luft einsaugend.
Es kam oft vor, dass wir laufen mussten. Und das, obwohl wir uns recht bald immer Mühe gaben. Es dauerte nicht lange, bis wir zu der Überzeugung kamen, dass er uns die meiste Zeit völlig grundlos laufen ließ. Die Frage war nur: Warum?
Die Zeit verging, und irgendwie war jede seiner Stunden gleich. Während andere Klassen längst bei spannenderen Themen waren, brüteten wir noch immer über der dämlichen Photosynthese.
Jede dritte Stunde schrieben wir einen Test, den er uns beim nächsten Mal um die Ohren haute und den wir dann noch einmal und noch einmal schreiben mussten.
Und dann kam der Tag, an dem wir noch etwas Neues fanden, was wir an ihm hassten.
Es war eine der Stunden, in denen wir uns beim Laufen verausgabten, als Annette mich und Jasmin anstieß und mit dem Kopf auf Herrn Werner deutete.
»Dem alten Sack fallen gleich die Augen aus«, sagte sie keuchend. »Haltet eure Brüste fest, sonst pflückt er sie euch ab.«
Ein Blick in seine Richtung ließ uns beinahe vor Ekel und Abscheu spucken. Sein Mund stand offen, und sein Kopf zuckte leicht, während er mit seinen fiesen, kleinen Knopfaugen jedes Wippen unserer Brüste verfolgte.
Das war der Tag, an dem Jasmin, Annette und ich beschlossen, dass Herr Werner wegmusste.
Und wir wussten auch schon genau, wie wir es anstellen würden.
Schon am nächsten Tag setzten wir das Gerücht in die Welt, er wäre aus seiner alten Schule geflogen, weil er sich an einer Schülerin vergangen hatte.
Anfangs sah es so aus, als würde unser Plan aufgehen. Die Mädchen unserer Schule tuschelten und wendeten sich ab, wenn er vorbeiging, der Rektor wurde mit Anrufen besorgter Eltern überhäuft, und eine Lehrerkonferenz wurde einberufen, die jedoch aus irgendeinem Grund im Sande verlief. Nichts änderte sich danach. Absolut gar nichts.
Ich weiß bis heute nicht, wie der alte Werner die Lehrer für sich gewann. Vielleicht hatte er sie mit seinen Zuckerwürfeln gefüttert, nachdem er sie stundenlang seinen Stinkepflanzen ausgesetzt hatte. Genauso wenig weiß ich, wie er herausfand, dass wir es waren, die das Gerücht in die Welt gesetzt hatten.
Aber ich weiß noch sehr genau, was für einen Anblick er bot, als er in der darauffolgenden Biostunde den Raum betrat.
Er ging gebeugt und sehr langsam, und seine kleinen, runden Augen wirkten in dem faltigen Gesicht wie graue Kieselsteine, die man auf knittriges Leder geklebt hatte. Er schwitzte wie ein Tier. Und sein Schweiß war wie Gelee. Zähflüssig rutschte er ihm in großen Tropfen über die Stirn und klatschte in dicken Klümpchen auf sein Hemd. Seine Haare hatten einen unerklärlichen Grünstich und standen starr von seinem Schädel ab. Kleine Zuckerkristalle hingen in seinen Mundwinkeln, und als er den Mund öffnete, war es, als würde er mit jedem Atemzug die Luft in Sirup verwandeln.
Jasmin, Annette und ich tauschten verwirrte Blicke und erwarteten, dass er die ganze Klasse gleich zur Sau machen würde, doch stattdessen stellte er sich vor die Tafel und schrieb in aller Seelenruhe die Formel der Photosynthese auf.
Dann erst drehte er sich um, sah jedem Einzelnen ins Gesicht und legte los:
»Sechs Kohlendioxid plus sechs Wasser wird unter Energieeinstrahlung zu Glucose und sechs Sauerstoff. Schreibt diese Gleichung auf. Hundert Mal. In Schönschrift. Vielleicht merkt ihr euch dann endlich mal, worum es bei der Photosynthese geht!«
Schweiß- und Spuckefäden flogen ihm von den dünnen Lippen, und die Leute in den ersten beiden Reihen duckten sich angewidert. Der Rest der Klasse wäre kurz danach am liebsten unter den Tisch gekrochen, als er durch die Reihen ging und jedem einen Block unliniertes Papier vor die Nase hielt.
...



