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E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Ruge Bauern, Land

Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-95614-416-5
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein Dorf im Moor in den 50er Jahren, ein Bauernhof heute – und wie das Weltgeschehen das Leben der Menschen auf dem Land veränderte. Davon erzählt Uta Ruge am Beispiel ihres Dorfes und ihres Bruders.
Seit ein paar Tagen stehe ich morgens um sechs mit allen auf, um zu sehen, zu hören und zu riechen, wie sich Landwirtschaft heute anfühlt auf dem Hof, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich ziehe die Stallklamotten an und gehe nach draußen. Mir fällt auf, dass ich den Blick hier nicht heben muss, um den Himmel zu sehen. Ob
es regnet oder bald regnen wird, wie der Wind geht, ist sofort gewusst, in Auge, Ohr und Nase eingeströmt.
Uta Ruge verwebt in Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang die Erinnerung an das Leben auf dem Lande in den 50er Jahren mit der genauen Beobachtung der Veränderungen in der Landwirtschaft heute, mit der Chronik des Dorfes, den welthistorischen Zusammenhängen und der Kulturgeschichte, die das Leben der Bauern geprägt haben und prägen. Sie erzählt von harter Arbeit und Abhängigkeit, von der Besiedelung des Moors, von Entwässerung und den Zumutungen der Obrigkeit und der Bürokratie, von Armut und Auswanderung. Aber auch davon, wie man sich gegenseitig unterstützt und hilft und zusammen feiert, von dem Eifer der kleinen Kinder, die den Eltern zur Hand gehen und lernen, dass gegen Arbeit nichts hilft, außer sie zu tun.
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1. KAPITEL
HEUTE
Die Stimmung auf dem Hof meines Bruders.
»ENTWEDER, ODER«, sagt mein Bruder Waldemar. Wir stehen am Melkroboter*. Vor einigen Wochen ist der installiert worden und bedient, wie es im Fachjargon heißt, vierzig Kühe. Insgesamt kann so ein Roboter sechzig bis siebzig Kühe pro Tag melken. Im Moment läuft die Einarbeitungsphase. Noch muss man die Kühe etwas antreiben, später werden sie alleine zum Melken gehen – den ganzen Tag über und sogar nachts. Denn während ihnen der Roboter die Milch abpumpt, fressen sie das Kraftfutter, das je nach Chipkartenlesung ausgeschüttet wird. Der Transponder, ein Erkennungssender, hängt ihnen um den Hals. Jeweils vor und hinter dem Tier hält ein Gatter es auf der Stelle fest und öffnet sich erst wieder, wenn keine Milch mehr fließt und kein Futter mehr ausgeschüttet wird. Ich staune. »Wachsen oder weichen«, sagt Waldemar, während er mir die Neuerwerbung zeigt. »Und der Große frisst den Kleinen«, sagt er noch. »Das ist immer so gewesen. Und glaub’ man nicht, dass das bei den Biobetrieben anders ist. Dieselbe Technik, dieselben Größen.« »Und? Gehörst du selbst inzwischen zu den Großen?« »Nein.« Mein Bruder lacht grimmig. »Aber nicht zu den ganz Kleinen. Noch nicht.« Er betrachtet die digitale Anzeige auf der uns zugewandten Rückseite des Melkroboters. »Von den zwanzig Höfen im Dorf sind vier übrig geblieben. Alle anderen haben aufgegeben.« Waldemar ist aus dieser Generation der Bauern im Dorf der Jüngste, das Rentenalter hat er noch nicht erreicht und er hat – anders als die meisten hier – einen Nachfolger. Sein Sohn will Bauer werden, ist es schon. Die moderne Technik, wie der Melkroboter, wird über Kredite finanziert, die man kriegt, wenn man Land besitzt. Jetzt fallen die Zitzenbecher vom Euter ab und der Roboterarm schwenkt beiseite, um die Kuh freizulassen und das Melkgeschirr sofort zu spülen. Das vordere Gatter öffnet sich, die Kuh bewegt sich ohne Eile aus dem Melkstand hinaus, dann schließt es sich wieder. Erst wenn Zitzenbecher und Milchschläuche mit Wasserdampf gereinigt sind – es dauert nur Sekunden –, öffnet sich das hintere Gatter und lässt die nächste Kuh ein. »Nebenan«, Waldemar zeigt zum Nachbarhof, »wird inzwischen Strom produziert, also Gas aus Biomasse. Das wird in Strom umgewandelt und ins Netz eingespeichert. Die Sauen, die sie halten, sind fast nur noch ein Anhängsel. Zwar sind sie einerseits die Grundlage des Geschäfts mit dem Strom, ebenso wie der Mais, der angebaut wird. Aber der Verkauf der Ferkel bringt weniger Geld ein als die – Entschuldigung – Scheiße, die den Strom erzeugt.« Wir hören eine Weile schweigend dem Pumpen und Zischen, dem Brummen und Schnaufen der Maschine zu. Der Roboterarm schwenkt unter den Bauch der neuen Kuh, hebt eine Düse direkt unter das Euter, eine desinfizierende Flüssigkeit wird aufgesprüht. Erst dann kommen die frisch gespülten Zitzenbecher angefahren und saugen sich einer nach dem anderen an den Zitzen der Kuh fest. Die hat inzwischen angefangen zu fressen. »Wie viele Melkroboter für wie viele Kühe brauchst du, um in ein paar Jahren abgeben zu können?«, frage ich. Die Hofübergabe an die nächste Generation schließt ja ein, dass der Nachfolger seinem Vorgänger ein Altenteil zahlen kann, also lebenslang Wohnung, Nahrung und ein bisschen Bargeld, so wie es mein Bruder und seine Frau Anna mit unseren Eltern gemacht haben. Mein Bruder winkt ab. »Die Frage ist im Moment, wie viel Land wir uns leisten können, um genug Futter für das Vieh anzubauen und seine Gülle* loszuwerden. Immer mehr große Stromerzeuger kaufen und pachten Land. Und obwohl weiß Gott genug Bauern aufgeben und viel Land auf dem Markt ist, wird der Boden immer teurer.« Mir kommt der Gedanke, dass die Übergabe an die nächste Generation womöglich nicht mehr stattfinden wird. Ich atme tief ein. Aber Waldemar hat genug von meinen Fragen. Er steht an der Tür des Melkstands, öffnet sie und ist schon halb draußen, als er noch sagt: »So ist das nämlich. Ihr wollt ja alle Biostrom. Aber ihr habt keine Ahnung.« Mit ›ihr‹ sind immer alle Städter gemeint – oder doch alle, die keine Landwirtschaft betreiben. Zu diesem ›ihr‹ zähle auch ich seit vielen Jahren. Auf dem Weg ins Haus gehe ich vorbei an den neugierig ihre Köpfe durchs Futtergatter steckenden Jungrindern. Ein paar Katzen begleiten mich zur Haustür. Die Hündin ist mit meinem Bruder gegangen. Seit ein paar Tagen stehe ich morgens um sechs zusammen mit allen anderen auf, um zu sehen, zu hören, zu riechen, wie sich Landwirtschaft heute anfühlt auf dem Hof, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich ziehe die Stallklamotten an und gehe nach draußen. Erst nach ein paar Tagen fällt mir auf, dass ich hier den Blick nicht heben muss, um den Himmel zu sehen. Kein Haus ist im Weg. Und ob es regnet oder bald regnen wird, wie der Wind geht, ist sofort gewusst, in Auge und Ohr und Nase eingeströmt. Ich gehe mit ihnen in den Stall, aber ich laufe nur so mit – mal mit meiner Schwägerin Anna, die für die Kälber verantwortlich ist, mal mit meinem Bruder, der im alten Melkstand steht, mal mit ihrem Sohn Hannes, der für die Fütterung sorgt und den Roboter kontrolliert. Helfen kann ich nicht, denn kein Handgriff ist noch so, wie ich ihn kannte. Die Gebäude, die Maschinen, alles ist anders. Aber der Sonnenaufgang über den Bäumen und Weiden vor dem Hof ist derselbe. Immer schon lag das stärkste Licht am Morgen auf der Hofeinfahrt vor dem Stall. Immer schon wuselten ein paar Katzen, junge und alte, vor der Milchkammer umher, und immer schon lag in ihrer Nähe der Hund, der aufpasste, dass ihm nichts entging, vor allem kein Futter im nebenbei gefüllten Napf. Und der Stall ist immer noch ein einziger großer Organismus, Ort der Tiere, ihres Atmens, Fressens und Verdauens, ihres Wiederkäuens, ihrer Ausscheidungen und ihres Schlafs, ihrer Ruhe und manchmal ihrer Unruhe. Und der Ort von ineinandergreifenden Arbeitsabläufen. Ich gehe da hindurch, über die Futtergänge und an den Barrieren entlang, die Tiere, fast hundert Kühe und vielleicht vierzig Jungrinder, sehen mich mit gesenkten Köpfen neugierig an. Alles ist unter einem Dach angeordnet. Es gibt den Bereich, in dem lahmende Kühe oder diejenigen, die aus anderen Gründen nicht ganz fit sind, auf Stroh laufen und liegen dürfen, sozusagen die Krankenstube; sie können durch das den ganzen Stall durchziehende System sich öffnender und schließender Gatter zum Melkstand geführt werden und aus ihm zurück in ihren Bereich gehen. Neben ihnen stehen ebenfalls auf Stroh die Kühe, die demnächst kalben und – im Unterschied zu den ›melkenden Kühlen‹ – ›trocken stehen‹. Eine oder zwei haben vielleicht schon gekalbt, und dann liegt zwischen ihnen ein frisch geborenes Kalb, das sich auf zittrige Beine erhebt und nach dem Euter der Mutter sucht. Heute sind es sogar zwei, die sich manchmal zur falschen Kuh verirren, aber immer wieder von der Mutter gefunden werden. Mit Rührung sehe ich, dass die anderen Kühe die Kleinen freundlich beriechen und neugierig zusehen, wie das eine schon ein paar Probesprünge macht und das andere kläglich blökt. Aus dem Weg gehen sie ihnen nur, wenn sie bei ihnen zu saugen versuchen. Der größte Bereich im Stall ist der, in dem die ›melkenden Kühe‹ sind, wiederum aufgeteilt in den Bereich, in dem die ›Roboterherde‹ ist, und in den größeren, in dem noch konventionell gemolken wird. Denn ein Roboter schafft, wie gesagt, nur sechzig bis siebzig Kühe – einen zweiten Melkroboter wird man sich erst in ein paar Jahren leisten können. Die konventionell gemolkenen Kühe werden morgens und abends in einen abtrennbaren Bereich direkt vor dem Melkstand getrieben. Hinter ihnen schließt sich wiederum ein Gatter, sodass die noch ungemolkenen getrennt bleiben von denen, die nach dem Melken zurückkehren in den Stall. Ich gehe an Hund und Katzen vorbei zum Melkstand, klettere in die Melkergrube zu Waldemar und Anna. Rechts und links von ihnen stehen je vier Kühe auf Schulterhöhe, von Gestängen an ihrem Platz gehalten. Sie legen ihnen die Melkgeschirre an, tragen dabei Handschuhe, schützen sich und die Tiere vor Keimen. Mich nehmen sie sozusagen nur aus den Augenwinkeln wahr und ich muss sehen, dass ich ihnen nicht im Weg stehe. Aus der Gruppe der noch ungemolkenen Kühe kommen durch Schiebetüren die nächsten herein, wenn eine Kuh fertig ist. Türen und Gestänggatter werden vom Melkstand aus von Seilen bedient, teils gehen sie automatisch. Die nächste Kuh wird durch das hier herrschende System sich öffnender und schließender Gatter auf ihren Platz geleitet, kommt an, und gleich wird ihr Euter, wie gesagt, auf Schulterhöhe der Melkenden, besprüht, gewischt, mit ein paar Handgriffen angemolken und die Zitzenbecher angelegt. Wenn einmal nicht gleich die nächste Kuh nach dem Öffnen der Melkstandtür den Melkstand betritt, steigt mein Bruder...


Uta Ruge, auf Rügen geboren, wuchs nach der Flucht der Familie als Bauerntochter in einem norddeutschen Dorf auf, studierte Germanistik und Politik in Marburg und Berlin, arbeitete im Rotbuch Verlag und bei der TAZ in Berlin und lebte von 1985 bis 1998 als freie Rundfunkautorin und Mitarbeiterin der internationalen Zeitschrift Index-on-Censorship in London. 2003 erschien Windland – Eine deutsche Familie auf Rügen. Sie lebt in Berlin.


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