E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Ruile God's Kitchen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7320-1159-9
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7320-1159-9
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Margit Ruile wurde 1967 in Augsburg geboren. Sie studierte an der Münchner Filmhochschule, wo sie nach ihrem Abschluss mehr als zehn Jahre in der Lehre tätig war, drehte Dokumentationen und arbeitete als Drehbuchlektorin. Auch das Geschichtenerzählen lernte sie zuerst beim Film. Später fand sie dann heraus, dass Schreiben sich anfühlt, wie im Schneideraum zu sitzen - mit dem riesengroßen Vorteil, dass man die fehlenden Szenen nicht nachdrehen muss, sondern einfach erfinden kann. Margit Ruile lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in München.
Autoren/Hrsg.
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1
Meine Geschichte beginnt vor genau einem Jahr. Genauer gesagt an einem heißen Donnerstag im August, in der ersten Woche der Semesterferien. An diesem Tag hatte ich zum ersten Mal seit Langem wieder eine Vision. Sie kam mit ungewöhnlicher Heftigkeit und zeigte mir etwas, das ich nie hätte sehen wollen. Ich hatte keine Ahnung, dass die Gabe ausgerechnet an diesem Tag wiederkommen würde. Nichts deutete darauf hin. Wobei … Ich erinnere mich an ein Flimmern vor den Augen, kurz nach dem Aufstehen. Dieses Flimmern rief einen kurzen Schreck in mir hervor, ein leichtes Zusammenzucken und eine Ahnung, dass der Tag nicht so ruhig und still enden würde, wie er begann. Doch ich schluckte dieses plötzliche Unbehagen hinunter, versuchte, es zu vergessen, und schob die schillernden Dreiecke, die kurz vor meinen Augen aufzuckten, auf die Hitze und die Schwüle, die schon am Morgen dieses Tages herrschten.
Ich wohnte in einem der Studentenbungalows im olympischen Dorf. Stellt euch diesen Bungalow vor wie eine hochkant aufgestellte Garage, vorne mit einer Tür und einem großen Fenster, innen mit einer Treppe an der hinteren Wand und einer eingebauten Nasszelle. Zwölf Quadratmeter fanden so auf zwei Stockwerken Platz. Oben gab es sogar einen Balkon. Die Bungalows drängten sich zusammen wie zu klein geratene Reihenhäuser. Sie waren meist bunt angemalt – die Farben dafür bekam man vom Studentenwerk – und bildeten enge Gassen. Diese Gassen waren eigentlich das Einzige, was im olympischen Dorf an ein Dorf erinnerte. Ansonsten war es eine Ansammlung von Betonbauten, begrenzt durch die beiden Stadtringe und die Lerchenauer Straße, breite mehrspurige Verkehrsschneisen, die man durch die Stadt gefräst hatte. Während der Olympiade 1972 hatten hier die Sportler gewohnt. Heute leben Studenten in dem großen Hochhaus vor dem Parkplatz und in den kleinen würfelförmigen Bungalows. Deshalb hatte es auch mich dorthin verschlagen. Ich hatte ein Studium begonnen – Psychologie – und hier einen der begehrten Bungalows ergattert in der Hoffnung, dort endlich ein Zuhause zu finden. Ja, das hoffte ich und zugleich hatte ich Angst, dass mir das nicht gelingen würde. Ich hatte es vorher auch nirgendwo geschafft, für viele Jahre kein Zuhause gehabt. Missversteht mich nicht! Das bedeutet nicht, dass ich auf der Straße leben musste. Ich bin nicht arm. Schließlich habe ich geerbt und immer ein Dach über dem Kopf besessen. Meistens sogar ein eigenes Zimmer und Menschen, die sich um mich kümmerten. Aber ein Dach über dem Kopf ist nicht das Gleiche wie ein Zuhause. Wahrscheinlich muss ich auch davon erzählen, wenn ich will, dass diese Geschichte vollständig ist. Ehrlich gesagt, ich weiß noch nicht, ob ich das kann. Aber gut, ich werde es zumindest versuchen.
Stellt euch also das olympische Dorf im Hochsommer vor: Die Hochhäuser werfen scharfkantige Schatten. Dächer flimmern in der Hitze, Autos reflektieren die Sonnenstrahlen wie flitzende kleine Spiegel. Seht ihr mich? Dort! Ich komme gerade aus dem Supermarkt und sperre mein Fahrrad auf. Ja, das bin ich! Das Mädchen mit den schwarzen, langen Haaren und dem gelben Kleid mit den bunten Blumen. Ein Farbfleck zwischen den Hochhäusern, direkt unter dem dicken gelben Rohr, das sich durch das Dorf zieht und die Verbindung zwischen den Völkern symbolisieren soll. Da bin ich. Jetzt schiebe ich mein Fahrrad durch die menschenleere Ladenzeile. Zwei Tüten voll mit Lebensmitteln hängen links und rechts am Lenker und schlackern gegen den Vorderreifen. Als ich unter dem Dach hervorkomme, suche ich den Schatten der Hochhäuser. Ich mag es nicht, wenn die Sonne mir ungeschützt auf den Kopf brennt. Es ist kurz vor Mittag und unerträglich heiß. Ich bin auf dem Weg zurück in meine stille Gasse. Ich nehme an, ich bin die Einzige, die noch dort wohnt, denn es ist der Beginn der Semesterferien und alle anderen sind nach Hause oder in den Urlaub gefahren. Aber – ich bin nicht allein, denn hinter mir höre ich eine Stimme. Jemand ruft meinen Namen.
»Celine?«
Ich drehe mich um und starre in ein breites, von einem Bart umrahmtes Gesicht.
»Robert?«
Er bewohnt den Bungalow mir gegenüber und war der Erste, dem ich begegnet bin, als ich vor zwei Monaten einzog, mit einer Tasche auf dem Radlenker und dem zusammengerollten Teppich auf dem Gepäckträger. Mehr besaß ich nicht. Ein paar Kleidungsstücke, einen Computer, einen Teppich mit dem Muster, das an den Rändern ins Unendliche geht. Robert hat mir geholfen, die Sachen in meinen Bungalow zu bringen.
»Du bist noch da?«, fragt mich Robert. Er sieht mich neugierig an.
»Ja, ich kann nicht weg. Ich muss noch eine Seminararbeit schreiben«, sage ich. Nun, das stimmt nur zum Teil. Es ist nicht das, was mich hier hält.
»Über was?«
Ich muss lachen. »Ich glaube nicht, dass dich das interessiert.«
»Sag schon!«
»Facetten der Wirklichkeitswahrnehmung.«
»Aha – klingt interessant!« Er grinst.
»Du machst Witze.«
»Nein, ehrlich nicht.«
»Okay.«
»Und dann? Fährst du gar nicht nach Hause?«
»Mhmm«, sage ich. Es könnte alles heißen. Zustimmung oder Zeichen für Unentschlossenheit. Ich will ihm nicht sagen, dass ich nirgendwohin fahren kann. Dieser Bungalow, in dem ich jetzt wohne, ist mein Zuhause.
»Und du?«, frage ich schließlich.
»In zwei Wochen bin ich auch weg.«
»Dann ist wenigstens jetzt noch jemand da«, sage ich erleichtert. »Ich hatte schon Angst, allein in der Gasse zu sein.«
»Ich auch«, sagt Robert und lächelt mich an.
»Fährst du in die Stadt?«, frage ich und sehe auf sein Fahrrad, das er in seiner rechten Hand hält. Ein weißes Rennrad. Schmale Reifen. Der Lenker gebogen wie Stierhörner, mit einem weißen Band umwickelt. Hinten auf den Gepäckträger hat er ein Handtuch geklemmt. Es ist das Erste, was ich jeden Morgen sehe, wenn ich aus dem Fenster blicke. Roberts Rennrad. Ich weiß, er hat es selbst aus Einzelteilen zusammengebaut. Er hat mir das ganz stolz erzählt, als er mein Fahrrad reparierte, das plötzlich nicht mehr fuhr.
»Runter zum Eisbach. Willst du mitkommen?« Er sieht so aus, als würde er sich freuen, wenn ich Ja sagte.
»Ich weiß nicht. Eigentlich wollte ich heute noch die Einleitung hinbekommen.«
»Bei der Hitze?«
Ich zucke mit den Schultern. »Sonst habe ich so ein schlechtes Gewissen. Und vor allem Angst, dass ich nicht fertig werde. Fährst du morgen auch?«
»Denke schon.«
»Dann komme ich vielleicht morgen mit. Heute wird es sowieso regnen.«
»Es wird regnen?« Er sieht nach oben und lacht. »Keine Wolke am Himmel.«
Ich lege meinen Kopf in den Nacken. Er hat recht. Der Himmel ist blitzblank, ein strahlendes, überirdisches Blau, das schon fast einen leichten Lilaschimmer hat.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragt er amüsiert.
»Ich weiß nicht«, sage ich leise. Meine Kopfhaut kribbelt leicht. Hoch über mir fliegt ein Falke. War er vorher auch schon da? Komisch. Ich kenne diesen Falken. Werde ihn gekannt haben. Mit dem Falken kommen die Wolken. Der Wind treibt sie vor sich her.
»Es gibt ein Gewitter«, sage ich. »Ziemlich bald.«
Robert sieht mich von der Seite an.
»Wenn du das sagst …«
Er glaubt mir nicht.
»Dann kommst du einfach morgen mit. Wenn du die Einleitung fertig hast.«
Er sieht mich erwartungsvoll an. Wieso ist er so weit weg?
»Ja«, sage ich. »Ja, okay.« Meine Stimme klingt seltsam fremd. Die Kopfhaut kribbelt und zieht sich in der Hitze zusammen. Spitze Nadelstiche, die weißen scharfen Punkte vor den Augen. Ein Frösteln trotz all der Hitze um mich herum. Der Falke über mir, er rüttelt mit den Flügeln, steht senkrecht in der Luft. Er hat gefunden, was er suchte.
»Celine, ist alles okay?« Roberts Stimme dringt aus der Ferne zu mir.
Ein leichter Wind kommt auf und fährt mir durch die Haare. Ich muss sie mir aus dem Gesicht streichen. Roberts Rad. Es ist etwas mit seinem Rad. Ich muss mich erinnern. Es ist wichtig! Diese Speichen. Sie fangen an, sich zu drehen. Ist das der Wind? Er rauscht in meinen Ohren. Ich starre auf meine Hände, die das Lenkrad umgreifen. Wieso habe ich Haare auf dem Handrücken? Es muss geregnet haben. Ich bin durchnässt, das rote T-Shirt klebt an meinem Körper. Wind um mich herum. Alles ist dunkel, dann kommen mir Lichter entgegen. Ich bin in einem Tunnel. Unter mir bewege ich kräftige braun gebrannte Beine, die in die Pedale treten. Es sind meine Beine. Ich bin nicht Celine; wer bin ich dann? Ich habe mehr Muskeln, anderes Blut. Ich bin wach und kräftig, schneller als die anderen, was mir eine gewisse Befriedigung verschafft. Es geht bergab, ich lasse das Rad auslaufen, ein Surren der Gangschaltung, die weißen Randstreifen verschwimmen zu einem einzigen, fließenden Band. Schnell und schneller, ein Lastzug neben mir. Die Reifen des Lasters sind fast so groß wie ich. Ich fahre rechts an ihm vorbei. Unter mir glänzt es. Wie kann es im Tunnel regnen? Der Lenker gleitet mir aus der Hand. Glänzendes Licht auf dem Asphalt. Blau. Ein verbogenes Fahrrad. Die Speichen eingeknickt. Ein Rad dreht sich noch. Klick-klick-klick.
»Celine?« Ich sehe Robert wie durch ein umgedrehtes Fernrohr. »Celine?«, fragt er noch mal.
Ich lehne mich seitlich an das Geländer und versuche, die Bilder abzuschütteln. Sie fliegen in meinen Kopf, schnelle Bilder, die mich schwindelig machen, Lichter, Tunnel, Radspeichen. Es fühlt sich an wie ein Traum. Es fühlt sich immer an wie ein Traum.
»Hey, Celine, was ist...




