E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Rust Zuversichtlich leben
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-96122-607-8
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christliche Perspektiven zur Zukunft.
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-96122-607-8
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heinrich Christian Rust (1953 - 2024), Dr. theol., war Pastor und in vielfältiger übergemeindlicher Leitungsverantwortung. Zuletzt war er Dozent für Spiritualität und Leiterschaft an theologischen Ausbildungseinrichtungen und Autor zahlreicher theologischer Veröffentlichungen.
Autoren/Hrsg.
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VERSÖHNUNG: GOTTES INITIATIVE ZUM HEIL DER WELT
Horst Afflerbach
Selten wurde das Wort „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, das Shakespeare seinen Hamlet sagen lässt, so oft zitiert wie in unseren Tagen. Es ist relevant wie nie.
Warum Versöhnung?
Wie kann man so etwas überhaupt fragen? Jeder weiß und hat es mehr oder weniger schmerzhaft selbst erlebt, dass Missverständnisse und Fehlverhalten von Menschen zu Enttäuschungen und Rückzug oder gar zum Bruch von Beziehungen führen können. Übergriffiges Verhalten, das Verletzen individueller Grenzen können Wut und Hass, Depression und Krankheit nach sich ziehen. Ausgrenzungen oder Diskriminierungen von Menschen bewirken Leid oder Aggression. Empörungsverhalten, Polarisierungen, Hatespeech scheinen gesellschaftliche Charakteristika unserer Zeit zu werden und führen zu mancherlei Verwerfungen. Wir alle sind Zeugen dieses Verhaltens in unserer Welt. Und wir stimmen darin überein, dass das Motto des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau „Versöhnen statt Spalten“ eine notwendige Tugend ist.
Christen wissen aufgrund des biblischen Zeugnisses, dass die ursprünglich sehr gute Schöpfung, die wunderbare Schöpfungsgemeinschaft und der umfassende Friede (hebr. ) nachhaltig gestört wurden. Durch die Emanzipation des Menschen von Gott sowie das Misstrauen ihm und seinem Wort gegenüber („Sollte Gott gesagt haben?“) entstand eine Situation, die gekennzeichnet war von einer Entfremdung von Gott, von sich selbst und voneinander. Die Fluch-Struktur der Sünde betraf forthin alle Bereiche kreatürlichen Lebens. Die Mühsal deiner Schwangerschaft und Schmerzen der Geburt sowie das Verlangen nach dem eigenen Mann (Gen 3,16) kann man als Synonyme für die schmerzhafte Bedrohung und die Fragilität des Lebens sowie für den ewigen Kampf der Geschlechter verstehen. Der Fluch des Erdbodens – „Dornen und Disteln“ wird der Acker tragen, das Essen des Brotes „im Schweiße deines Angesichts“ (Gen 3,17–19; LU) – sind eindrückliche Metaphern für angefochtene und harte, teils vergebliche Arbeit. Und schließlich zeigt die unumkehrbare Perspektive, zurückzukehren zum Staub des Erdbodens, mit der Begründung „denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück“ (Gen 3,19; LU) die Vergänglichkeit allen Lebens.
Diese Beschreibung gilt bis heute, weil „Gott der HERR“ den Menschen „aus dem Garten“ wies und „ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim […] zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens“ (Gen 3,22).
In der Folge bestätigt das biblische Zeugnis die tragische Geschichte der Menschheit und später Israels. Neben schönen Entwicklungen und beeindruckenden Taten wird mit zum Teil drastischen Worten und in anschaulichen Bildern das ganze Spektrum menschlichen Fehlverhaltens samt seiner destruktiven Auswirkungen auf alle Lebensbereiche beschrieben. Vom Brudermord Kains über familiäre Verwerfungen, Intrigen und Lügen, aggressivem und boshaftem Handeln – ob individuell, sozial oder in imperialen militärischen Bewegungen der Völker – werden die Auswirkungen der Abkehr von Gott, dem Ursprung des Lebens und des Friedens in allen Facetten dargelegt. So ist die ganze Völkerwelt betroffen (Kriege, Unterwerfungen), die Schöpfungs- oder Umwelt (Jes 24,1–6), die soziale Welt (Ungerechtigkeiten, Korruption) und die persönliche Welt. Im Römerbrief wird das grundlegend und zusammenfassend von Paulus so gedeutet:
„Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten […] Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.“ (Röm 1,18.21)
Und etwas später schreibt er als Fazit:
„Niemand kann sich also herausreden. Die ganze Menschheit ist vor Gott schuldig. Denn das steht fest: Mit Taten, wie sie das Gesetz verlangt, kann kein Mensch vor Gott als gerecht bestehen.“ (Röm 3,11–20; GNB)
Bei dieser Analyse menschlichen Verhaltens und der konstatierten Unmöglichkeit, mittels religiöser Praktiken und guter Werke mit Gott versöhnt zu werden, bleibt das biblische Zeugnis aber nicht stehen. Es bezeugt eine andere, sehr hoffnungsvolle Linie, die vom Alten bis ins Zentrum des Neuen Testaments reicht und in der guten Nachricht kulminiert, dass Gott die Welt und seine Menschen nicht aufgibt, sondern sie leidenschaftlich liebt und um sie kämpft: Es ist das Evangelium von der Versöhnung der Welt.
Schon früh verheißt Gott, die Ursache des Bösen und die Trennung von ihm zu überwinden, also Versöhnung zu wirken, indem der Nachkomme der Frau (Eva, die „Mutter alles Lebendigen“) dem Nachkommen der Schlange (Metapher für den Teufel, die alte Schlange, Offb 12,9; 20,2) den Kopf zertreten wird um den Preis, dass dieser ihn in die Ferse stechen wird (Gen 3,15).
Das komplexe, von Gott initiierte und durchgeführte Versöhnungswirken lässt sich mit den zentralen Aussagen des Evangeliums in einem Satz formulieren:
„Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ (2Kor 5,19). „Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus …“ (2Kor 5,18) Und: „Es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm (Christus) wohnen zu lassen und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.“ (Kol 1,19–20)
Ohne Zweifel sind Versöhnung und die biblische Versöhnungsbotschaft heilsam und befreiend. Sie sind offensichtlich für den Menschen notwendig, um im Frieden mit sich und seiner Biografie, mit seinen Nächsten sowie mit seiner Um- und Mitwelt und – nicht zuletzt – mit Gott zu leben. Strittig sind vor allem der Weg, auf dem Gott Versöhnung stiftet, sowie die temporären und eschatologischen Auswirkungen davon.
Missverständnisse ausräumen
Besonders heftig entzündet sich die Kritik an der alttestamentlichen Sühnevorstellung der Bibel und an dem stellvertretenden Opfertod Jesu. Jesus habe mit einem Opferlamm „rein gar nichts zu tun“.
Der „Erfinder des Opferwesens war offenkundig verrückt. Er stellte sich Gott als ausgesprochenen Sadisten vor […] Um Gott versöhnlich zu stimmen, müssen wir ihm Opfer bringen […] Ein unbekanntes Genie aus den Kreisen frommer Judenchristen hat […] aus Jesus ein Opferschaf gemacht. Paulus nahm diese Version begeistert auf […]“1
Der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach unternahm in seinem aufsehenerregenden Artikel eine Generalabrechnung mit dem Christentum und seiner zentralen Lehre von der Versöhnung der Welt. Sie sei Ausdruck eines blutrünstigen Gottesbildes.
„‚Das Blut Jesu Christi […] macht uns rein von aller Sünde‘ (1Joh 1,7) – im Pietismus und seinen Liedern wurden daraus wahre Blutorgien. Seit dem späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ist die christliche Ikonografie eine Welt von ‚Blut und Wunden‘. Die Maler und Bildner können sich gar nicht genug tun in der grausigen Darstellung der Leiden Christi und der unzähligen Märtyrer.“2
Alle diese Angriffe zielen – zusammengenommen – auf ein Gottesbild, das einen autoritären Gott zeigt, der auf Gehorsam angewiesen sei und Sühne brauche, der durch die Auflehnung der Menschen gekränkt und nur durch Opfer zu besänftigen und zu versöhnen sei. Sie zielen auf ein Jesusbild, das ausschließlich auf seinen Tod fixiert sei und in dem die Farbigkeit und Vielfalt seines Lebens vergessen seien. Sie lehnen sich auf gegen das biblische Menschenbild, nach dem der Mensch als Gottes wunderbares Geschöpf gleichzeitig auch ein dem Tod verfallener Sünder ist, der Verantwortung für sein Leben trägt und aus eigener Anstrengung vor Gott nicht gerecht werden kann. Die Vorstellung, dass ein anderer Mensch stellvertretend für unsere Fehlleistungen und die anderer Leute bestraft werden soll, ist für viele unannehmbar.
Die meisten Angriffe gegen das biblische Opfer- und Sühneverständnis sind Ausdruck eines großen Missverständnisses! Nach den Aussagen der Schrift muss nicht Gott, sondern müssen sündige Menschen versöhnt werden, deren Beziehungen zu ihm und zueinander gestört sind! Der Gedanke, dass Gottes Zorn erst durch ein grausames Menschenopfer besänftigt werden muss, wie man ihn etwa in den religiösen Vorstellungen der Mayas, Inkas und Azteken findet, ist Ausdruck heidnischen Denkens. Der Gott der Bibel will keine Menschenopfer! Letztlich hat er überhaupt keinen Gefallen an Opfern, sondern an Liebe.
„Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer.“ (Hos 6,6; LU) „Schlachtopfer und Speisopfer gefallen dir nicht, aber die Ohren hast du mir aufgetan. Du willst weder Brandopfer noch Sündopfer.“ (Ps 40,7; LU)
Trotzdem glauben viele Christen, dass Gott erst durch das unschuldige Opfer seines Sohnes habe versöhnt werden müssen und leisten dadurch der Kritik an der Sühnevorstellung unbewusst Vorschub. Dieses Denken geht auf eine mittelalterliche Auslegungstradition zurück, die vor allem durch den katholischen Theologen Anselm von Canterbury (1033–1109) und dessen Sühnevorstellungen nachhaltig geprägt wurden. Seine Satisfaktionslehre, die er in seinem Hauptwerk (Warum Gott Mensch wurde) niedergelegt hat, ist eine Art rationaler Gottesbeweis und stark beeinflusst...