E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Samson Sommer der Träumer
21001. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8437-2527-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2527-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Polly Samson, geboren, 1962, ist eine englische Autorin, die Romane und Songtexte verfasst. Sommer der Träumer ist ihr dritter Roman. Zudem hat sie zwei Erzählbände veröffentlicht und Songtexte für vier Nummer-eins-Alben geschrieben, darunter Pink Floyds THE DIVISON BELL und David Gilmours ON AN ISLAND. 2018 wurde sie zum Mitglied der Royal Society of Literature ernannt.
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Vom Hafen geht es bergauf, und langsam laufe ich die Stufen der Eselschissgasse hoch, in meiner Tasche ein herzförmiger Stein. Ich gehe allein, und obwohl mich niemand sieht, widerstehe ich dem Drang, nach dem steilsten Stück anzuhalten und mich am Pfosten auszuruhen. Ich gehe vorsichtig, Stolpern wird rasch zu einem Sturz, ein Gedanke, der die Gazelle empört, die noch in meinem steif werdenden Körper steckt.
Über Jahrhunderte abgetretene Marmorplatten schimmern im hellen Licht. Die weiß gekalkten Gassen funkeln selbst an einem trüben Vormittag wie heute, an dem sich Wolken in den Hafen drängen, der Himmel so tief, dass er das Festland verhängt.
Die Stufen hinab hüpfen Arm in Arm zwei Jungen auf mich zu. In Dinos’ alter Tweedjacke mit den ausgebeulten Taschen und mit meinen bequem geschnürten Schuhen bin ich für sie so unsichtbar wie ein Schafhirte oder ein Maultiertreiber. Die Jahre in der Sonne haben tiefe Falten in mein Gesicht gegraben, das ewig nicht mehr gefärbte Haar hat ebenso lang keinen Friseur mehr gesehen, aber was macht das schon? Wie immer zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, hängt es mir nicht ins Gesicht. Es gibt mich noch, ein wenig angeschlagen, ein wenig mitgenommen; und mich verblüfft, dass jene junge Frau noch in mir steckt, die vor fast sechzig Jahren zum ersten Mal einen Fuß auf diese Insel setzte. Nur fürchte ich, dass mich unter der wachsenden Patina nur die noch sehen können, die mich schon damals kannten; und es bricht mir das Herz, wie schnell die Schar dieser Sehenden abnimmt.
Der Anruf wegen Leonard kam gestern Abend. Eine Weile saß ich still da, hörte den Eulen zu. Dann holte ich meine alten Notizbücher hervor, die Drei-Penny-Kladden, die ich 1960 mit auf die Insel gebracht hatte, und ich fand ihn in meinem hoffnungsfrohen, schnörkeligen Gekritzel. Ein Krampf im Nacken; die Hähne krähten die ganze Nacht. Ich schlief schlecht und erwachte zu einem traumbedrängten Morgen.
Die Sommergäste sind längst fort; in Athen herrschen Unruhen, die Einschränkungen greifen, Flüchtlinge, verirrte Kinder, Feuer auf den Straßen. Schiffe legen ab, fischen Menschen aus dem Wasser. So vieles, worüber sich grübeln ließe, da sollte man meinen, wir könnten die Wahl in Amerika einfach an uns vorbeiziehen lassen, doch heute früh am Hafen, während ich mir Zeit mit dem guten bitteren Espresso ließ, dem einen, den ich mir am Tag gönne, und dabei den Eseln zusah, wie sie voll beladen von den Booten fortgeführt wurden, fanden mich die Nachrichten über den Präsidenten. Mit den Morgenzeitungen glitten sie übers Wasser und verbreiteten sich auf der Agora rasch wie ein Gestank. Entsetztes Stöhnen, sogar von den Eseln, ungläubiges Prusten von allen Tischen, Passanten, Booten. Einen Moment lang war es ein Trost, dass Leonard wenigstens dies erspart geblieben ist.
Ich bleibe am Four Corners stehen, vor Marias Laden, und lausche den Stimmen. Wie eine Närrin käme ich mir vor, sähe mich jemand mit meinem herzförmigen Stein auf seine Haustür zulaufen, also stelle ich mich darauf ein, ohne zu zögern daran vorbeizugehen, als ich aus der Irren Straße um die Ecke biege. Die Straße heißt nicht so, aber so ähnlich, jedenfalls hatten wir das verstanden, als Leonard direkt vom Notar zu uns kam, seine billige Schirmmütze abnahm und sie mit der Besitzurkunde für das Haus auf den Tisch warf, sein Grinsen leicht verschämt, verlegen, als fürchtete er, wir könnten ihn großspurig finden.
Stunden später rückten wir mit Eimern und langstieligen Bürsten an, um die Wände zu weißen, und Leonard hatte neue Batterien für den Plattenspieler mitgebracht, den er mitten auf den Steinboden stellte. Einige Platten, verformt wie Dalis Uhren, ließen sich nicht mehr abspielen, aber es gab Ray Charles und Muddy Waters und eine Sängerin, die mir gefiel, an deren Namen ich mich aber nicht erinnere. Später dann ein Feuer unter den Zitronenbäumen auf der Terrasse, Krüge mit Retsina, Tanzen, ein bisschen Hasch. Farbfleckige Shorts, gebräunte Haut, nackte Füße. Kriegskinder, die meisten von uns, jünger als Leonard, dabei war er selbst kaum erwachsen. Mit einem Heißhunger, der so viel mehr wollte als die schmalen, kriegsversehrten Schatten unserer Eltern, saugten wir die Freiheit auf, für die sie gekämpft hatten.
Machten Drogen und die Pille Veränderung möglich? War es eine bewusste Revolution? Oder waren wir einfach Kinder, die sich nach einem entspannten Leben sehnten, nach Sex und Bewusstseinserweiterung, um die in unsere DNA geätzte Angst zu mildern, die in unseren jungen Hirnen explodierte, ein je ureigenes Hiroshima?
Herrgott, für meinen alten Herrn war ich ein verdammter Beatnik!
Wir erhofften uns wenig von dieser Insel, nur Tage, so lang und sonnig, dass wir den Kalten Krieg kaum mehr spürten, dazu eine galloni Wein für sechs Drachmen sowie ein solides weißes Haus für zwei Pfund und zehn Shilling im Monat. Ihr Name für uns nur ein Lippenbekenntnis: Hydra. Das bedeutet »Wasser«, dabei hatte ein Erdbeben schon vor langer Zeit alle Quellen verschüttet, weshalb es auf der Insel nur aus wenigen kostbaren Brunnen Trinkwasser gab.
In der griechischen Mythologie ist Hydra ein Ungeheuer am Eingang zur Unterwelt.
»Eine vielköpfige Schlange mit so schlimmem Mundgeruch, dass schon der leiseste Atemhauch tödlich ist«, sage ich, als ich an der Reihe bin, ein Rätsel aufzugeben.
Leonard lacht. Irgendwer spielt Bouzouki, ein anderer Gitarre. Es gibt Ouzo, Sterne, eine Mondsichel, dünn wie ein Löffelrand. Altes Gestrüpp verbrennt mit harzigem Prasseln; eine Funkenexplosion bringt unsere Augen zum Leuchten. Wir werden wilder, zerschmettern unsere Gläser an der Wand von Leonards neuem Haus. Alles Gute!
Marianne aber holt einen Besen und fragt: »Was ist das denn für ein blöder Brauch?« Und keiner von uns – weder Amerikaner noch Kanadier, weder Grieche, Engländer, Franzose, Schwede noch Tscheche, nicht mal George Johnston, dieses australische Superhirn – findet eine Entschuldigung für diesen Splitterregen, es sei denn die, dass Marianne als Erste ihr Glas geworfen hat.
Ich drücke das Steinherz in meiner Tasche und will mir ins Gedächtnis rufen, warum sie, so bald nachdem er das Haus gekauft hatte, abgereist sind. Nur gut einen Monat später, und Marianne huscht durch meine Erinnerung und lässt den Stein aus ihrer Hand in meine gleiten. November, denke ich.
Ein russischer Wind bringt einen eisigen Hauch, Wellen jagen über die Felsen im Hafen, wie alte Strumpfhosen hängen Tintenfische an einem Bootsseil über der Mole. Leonard im Regenmantel (ja – blau, aber längst noch nicht berühmt), reicht dem Schiffer seinen Lederkoffer, und da kommt Marianne in Matrosenhose und regenfleckiger, zerknitterter Bluse, wuchtet gelenkig und flink wie ein Junge mehrere große Bündel an Bord. Sie dreht sich um, ruft mich; der Wind streift ihr Haar übers Gesicht.
Zum ersten Mal seit Wochen schaut sie mich unmittelbar an. »Nein, nein. Ich ertrag es nicht, wenn du weinst.« Sie verstaut das Gepäck und läuft zurück, der Regen hübsch auf ihrer Haut. Ich kann nicht aufhören, sie zu umarmen, so sehr erleichtert es mich, dass wir nicht im Schlechten auseinandergehen.
»Bitte, guck nicht so einsam«, sagt sie, rückt von mir ab und schließt meine Finger um den Stein. Sie sagt, er sei das Erste, was Leonard ihr je geschenkt habe. Der Stein, fleischfarben, weiß und grauviolett marmoriert, fügt sich in meine Hand. Er ist tatsächlich herzförmig, und so wie Marianne mich ansieht, weiß ich, dass mir jetzt, da Leonard und sie zusammen fortfahren, vergeben wurde.
Ihr Lächeln ist so lieb, so voller Hoffnung. »Er gab ihn mir, gleich nachdem Axel das Herz in meiner Brust in Stücke riss. Ich könnte, sagte er, vielleicht einen Ersatz gebrauchen.«
Mariannes Augen sind blau wie ein Sommerhimmel, das Haar von verblüffendem Blond. Kaum zu glauben, dass sie in mir je eine Rivalin sah.
»So viel hat sich verändert. Bitte sei glücklich, mir zuliebe. In Oslo wartet mein kleiner Junge, aber mein Herz bleibt bis zu unserer Rückkehr auf der Insel … Ach, liebe Erica, du darfst nicht weinen.«
Leonard bietet mir sein Taschentuch an und lenkt meinen Blick vom regennassen Hafen zu den dampfenden grauen und purpurfarbenen Bergen. Dieser Ort hat ihm gutgetan. Diese Insel. Diese Frau. Er zeigt den Weg zurück, den sie gekommen sind. »Hier ist mein schönes Haus – und Sonne, meine madenweiße Seele zu bräunen …« Er zerzaust mein Haar, wie man es bei kleinen Mädchen tut, und sagt dann, dass er nicht vorhabe, lange fortzubleiben.
Leonard schaut nicht zurück, nicht ein einziges Mal, Marianne aber winkt und winkt, bis das Boot in der aufgewühlten Gischt verschwindet. Denke ich daran, war es erst gestern und ist doch zugleich lang vergangene Geschichte. Einsamkeit brandet auf. Zu viele Abschiede.
An einem höher als die Mauer gewachsenen Zitronenbaum hängen Fliegenfänger. Ich rede mir ein, sie sei noch da, gleich auf der anderen Seite, pflücke Tomaten auf der Terrasse, wie auch Leonard und Mariannes kleiner Junge. Sie war am glücklichsten, wenn...