E-Book, Deutsch, Band 2943, 129 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
Sasse Der Krieg gegen die Ukraine
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79306-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hintergründe, Ereignisse, Folgen
E-Book, Deutsch, Band 2943, 129 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-79306-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gwendolyn Sasse ist Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) und Einstein-Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Lasst uns mit dem Schwersten
anfangen – mit dem Gesang
und dem Löschen des Feuers
das in der Nacht näher rückt.
Lasst uns mit dem Flüsternder Namen anfangen
und zusammen den Wortschatzdes Todes flechten.
Serhij Zhadan
1. Warum dieser Krieg? Warum jetzt?
Es herrscht Krieg in Europa. Diese Realität schreibt sich mit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 als Zäsur in das öffentliche Bewusstsein ein. In den fünf Monaten seit dem Großangriff haben bereits Zehntausende ihr Leben verloren – genaue Opferzahlen gibt es bisher nicht – und etwa 10 Millionen Menschen aus der Ukraine sind in Bewegung – etwa ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung. Zwischen 5 und 7 Millionen halten sich zwischenzeitig oder mittelfristig in den westlichen Nachbarländern der Ukraine auf. Schätzungen zufolge flohen seit Ende Februar etwa eine Million Menschen nach Russland oder wurden dorthin deportiert.
Über dreißig Jahre sind seit dem Ende der Sowjetunion vergangen. Ihr Zerfall ist wesentlich weniger friedlich verlaufen, als man gemeinhin denkt. Im Vergleich zur gewaltsamen Desintegration Jugoslawiens wirkten die Kriege um Bergkarabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien aus westeuropäischer Perspektive klein, obwohl in ihnen insgesamt Zehntausende starben und Hunderttausende vertrieben wurden. Und letztlich steht Russlands Krieg gegen die Ukraine ebenfalls im direkten Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der lange vor dem offiziellen Ende 1991 begann und bis heute nachwirkt.
Russlands Krieg gegen die Ukraine beendet auch die Illusion des friedlichen Zusammenlebens in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges. Diese Illusion wurde weder von den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in den frühen 1990ern noch von den Vorläufern der gegenwärtigen russischen Invasion erschüttert. Dabei begann Russlands Krieg gegen die Ukraine bereits 2014 mit der Annexion der Krim und dem von Moskau kontrollierten Krieg im Donbas, der zu etwa 14.000 Toten führte, etwa 1,5 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen machte und etwa 1 Million Menschen nach Russland vertrieb. Seit dem Frühjahr 2021 stationierte Russland darüber hinaus weit über 100.000 Soldaten an der russisch-ukrainischen und belarusisch-ukrainischen Grenze.
Trotz allem kam der umfassende Angriff vom 24. Februar 2022, der mit Luftangriffen auf die Hauptstadt Kiew und Großstädte wie Charkiw begann und russische Panzerkolonnen von drei Seiten in die Ukraine vorrücken ließ, gefühlt überraschend. In Deutschland und in der EU waren viele von Drohgebärden und einem Kosten-Nutzen-Kalkül von Russlands Präsidenten Wladimir Putin ausgegangen, was einen Angriffskrieg dieser Art unwahrscheinlich erscheinen ließ. Die Bevölkerung in West- und Südeuropa war vor allem deshalb überrascht, weil die Ukraine auf ihrer mentalen Landkarte kaum vorkam. Die gefühlte und die geographische Distanz zur Ukraine klafften deutlich auseinander und haben sich erst durch die derzeitige Phase des Krieges einander angenähert. Und selbst die ukrainische Regierung hatte die Gefahr eines großangelegten Angriffs entweder selbst unterschätzt oder zumindest in der Öffentlichkeit mehrfach kleingeredet, um die Bevölkerung und die Wirtschaft nicht vorzeitig in Unruhe zu versetzen.
Der erste europaweite Schock über den Angriff vom 24. Februar 2022 wurde von einer zweiten weithin unerwarteten Erkenntnis abgelöst: der Stärke des militärischen und zivilen Widerstands der Ukraine gegen den Aggressor. Diverse westliche Verteidigungsministerien und Geheimdienste hatten angesichts des militärischen Ungleichgewichts einen kurzen Krieg zugunsten Russlands erwartet. Widerstand lässt sich vor dem Eintreten des Extremfalls nur schwer vorhersagen. Laut einer Meinungsumfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) vom Dezember 2021 war für den Fall eines erneuten russischen Angriffs die Hälfte der Bevölkerung (ohne die Krim und die nicht von Kiew kontrollierten Gebieten des Donbas, in denen reguläre Umfragen nicht durchgeführt werden können) bereit, Widerstand zu leisten: 33 Prozent äußerten zu diesem Zeitpunkt ihre Bereitschaft zu bewaffnetem Widerstand, und 22 Prozent zu zivilem Widerstand (Mehrfachnennung möglich). Insgesamt war laut dieser Umfrage der Widerstandswille im Westen des Landes etwas stärker ausgeprägt als im Süden und Osten. Bis Anfang Februar 2022 hatte sich dieser Trend auf Landesebene weiter verstärkt: Fast 58 Prozent zeigten sich zu diesem Zeitpunkt zu Widerstand bereit, darunter 37 Prozent zu bewaffnetem und 25 Prozent zu zivilem Widerstand.
Seit den ersten Kriegstagen, in denen die unerwartete Stärke der Ukraine ersichtlich wurde, wird immer wieder betont, dass sich in diesem Moment vor unseren Augen die ukrainische Nation in ihrem Staat konstituiere. Die offensichtliche Einigkeit entspricht nicht dem weit verbreiteten Bild einer in Ost und West gespaltenen Ukraine, in der Sprache, Ethnizität und Region interne Trennlinien ausmachen. Das Ausmaß des derzeitigen Widerstands und des zivilgesellschaftlichen Engagements – humanitäre Hilfe, Unterstützung für die Armee und der Wiederaufbau von Infrastruktur – ist jedoch die Folge und nicht die Ursache einer längst bestehenden ukrainischen Identität, die sich bei aller internen Diversität an den ukrainischen Staat und das Verständnis, ukrainischer Staatsbürger oder Staatsbürgerin zu sein, knüpft. Es geht also auch darum, nicht nur die heutige Stärke des ukrainischen Staates und seiner Identität anzuerkennen, sondern ein vor dem 24. Februar 2022 weit verbreitetes lückenhaftes Bild der Ukraine zu korrigieren und die Gründe für diese selektive Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen.
Der Krieg brach nicht plötzlich über die Ukraine und über Europa herein. Eine Herausforderung liegt darin, ihn im Rückblick in seinem Kontext zu begreifen, ihn dabei aber auch nicht als zwangsläufige Folge bestimmter Ereignisse und Entwicklungen darzustellen. Geschichte und Politik sind nie alternativlos, auch wenn sich im Nachhinein die Stimmen mehren, die den Krieg immer vorausgesagt haben wollen. Eine derartig pauschalisierende Reaktion auf den Krieg würde jedoch dem politischen Prozess mit seinen Schlüsselmomenten, Fehleinschätzungen und Entscheidungen nicht gerecht. Kriege haben eine Vorgeschichte. Es geht um Weichenstellungen, die unter bestimmten Voraussetzungen vorgenommen werden. Über einen längeren Zeitraum hinweg lassen sich allerdings Muster erkennen, die einen Krieg wahrscheinlicher machten – bis hin zur Rede Wladimir Putins am 21. Februar 2022, in der er seine Intentionen in aller Deutlichkeit benannte. Drei Tage später erfolgte der Angriff auf die gesamte Ukraine.
Die Schlüsselrolle von Wladimir Putin ist offensichtlich. Zugleich lässt sich der Krieg nicht auf seine Person verengen. Die Bezeichnung «Putins Krieg» greift zu kurz, auch wenn Putin diesen Krieg auslöste. Auch gibt es nicht nur eine einzige Kriegsursache. Vielmehr war es ein Geflecht von miteinander verbundenen Entwicklungen, die die notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingungen für den Krieg schufen:
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die Autokratisierung Russlands verbunden mit wachsenden neo-imperialen Machtansprüchen
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die Durchdringung der russischen Gesellschaft mit staatlicher Geschichtspolitik und Propaganda
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die Demokratisierung und Westorientierung der Ukraine
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die Stärkung einer staatszentrierten ukrainischen Identität
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die zunehmende Diskrepanz zwischen westlichen und russischen Sicherheitswahrnehmungen
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die wachsenden Widersprüche in der westlichen Russland-Politik
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die sukzessive Ausweitung des Krieges seit 2014.
Erst in ihrem Zusammenspiel ermöglichten diese Dynamiken Russlands Krieg gegen die Ukraine, und Putin als Katalysator ließ diese Möglichkeit zur Realität werden. Jede der aufgeführten Entwicklungen beschreibt eine Verknüpfung von strukturellen Faktoren und politischen bzw. gesellschaftlichen Akteuren. Es handelt sich somit nicht um eine Reduzierung auf strukturelle Hintergrundfaktoren. Die Liste umfasst je zwei auf Russland und die Ukraine bezogene Entwicklungen, zwei Trends in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sowie eine dem Krieg selbst innewohnende Logik. Sie lässt sich kürzer fassen oder weiter untergliedern, erfasst aber meinem...




