E-Book, Deutsch, 500 Seiten
Schemel Erinnerung als Politik
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7407-9363-0
Verlag: TWENTYSIX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
NS-Vergangenheit und deutsches Selbstverständnis. Ein Debattenbuch
E-Book, Deutsch, 500 Seiten
ISBN: 978-3-7407-9363-0
Verlag: TWENTYSIX
Format: EPUB
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Hans-Joachim Schemel ist Politikberater. Als promovierter Landschafts- und Stadtplaner und Inhaber des Büros für Umweltforschung und Stadtentwicklung hat er vierzig Jahre lang (von 1975 bis 2015) Bundes- und Landesregierungen, Kommunen, Stiftungen, Verbände und Bürgerinitiativen beraten (www.umweltbuero-schemel.de). Hans-Joachim Schemel war öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Prüfung von Großvorhaben und wurde zum Mitglied des Beirats Sport und Umwelt beim Bundesumweltministerium berufen. Er hat mehrere Fachbücher und zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften veröffentlicht. Privat engagiert er sich seit Jahrzehnten politisch außerhalb von Parteien, seit 2002 bei Attac. 2010 erschien sein viel beachtetes Sachbuch: Wirtschaftsdiktatur oder Demokratie? Wider den globalen Standortwettbewerb. Für eine weltweite Regionalisierung. Er ist verheiratet, hat eine Tochter, einen Sohn und zwei Enkelkinder.
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2. Die Zeit der Weimarer Republik
2.1 SCHLECHTE STARTBEDINGUNGEN
Am Ende des Ersten Weltkrieges (1914-1918), der in Deutschland 3,5 Millionen Todesopfer und doppelt so viele Verwundete unter den Soldaten gekostet hat, kapitulierte das Militär des deutschen Kaiserreichs vor der erdrückenden Übermacht der alliierten Kriegsgegner. Am 24. Oktober 1918 hatte die Seekriegsleitung angesichts der ausweglosen Lage noch einen Angriff der deutschen Hochseeflotte auf die britische Royal Navy befohlen, um nicht kampflos – aus ihrer Sicht ehrlos – kapitulieren zu müssen.
Revolution statt konstitutioneller Monarchie
„Die gegen diesen Plan gerichtete Meuterei einiger Schiffs-besatzungen und der anschließende Kieler Matrosenaufstand entwickelten sich innerhalb weniger Tage zu einer Revolution, die das ganze Reich erfasste. Sie führte am 9. November 1918 zur Ausrufung der Republik und wenig später zur Abdankung Kaiser Wilhelms II. und aller anderen Bundesfürsten“. (Wikipedia, Stichwort Novemberrevolution, 4.10.2015).
Zum Hintergrund der Revolution am Anfang der Weimarer Republik findet sich in dem Buch „So kommt’s dazu“ (1948), das die amerikanische Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck nach langen Gesprächen mit der aus Deutschland geflohenen Sozialistin Erna von Pustau (Jahrgang 1903) veröffentlicht hat, ein wichtiger Hinweis, der sich auf die Rolle des amerikanischen Präsidenten bezieht. Erna von Pustau zu Pearl S. Buck: „In Wilsons Botschaft vom 14. Oktober 1918 heißt es: ‚Es liegt in der Hand des deutschen Volkes, sie (die Regierungsgewalt) abzuändern. Dies bildet die Vorbedingung für einen Frieden, wenn der Friede durch Mitwirkung des deutschen Volkes selbst kommen soll.’ Diese Worte waren direkt an das deutsche Volk gerichtet. Dieser Aufruf spielte beim Sturz der Monarchie und dem Ende der Hohenzollerndynastie eine ungeheure Rolle. Bis dahin hatte der größte Teil der Opposition gegen den Kaiser nicht im Entferntesten an einen Umsturz gedacht. Ihr ganzes Programm waren Reformen, die auf eine Art konstitutionelle Monarchie hinausliefen, in der die Macht des Monarchen eingeschränkt und die des Parlaments vermehrt werden sollte; eine Staatsform, die ungefähr der englischen entsprach.
Die Botschaft brachte die ganze Angelegenheit ins Rollen. Die Volksmassen spürten einen neuen, frischen Wind über der Erde. Sie hatten gar nicht beabsichtigt, dem Beispiel der bolschewistischen Revolution in Russland zu folgen, aber auf Wilsons Worte erhoben sie sich; sie verließen die Fabriken und ihre Wohnungen; sie marschierten durch die Straßen und erzwangen die Errichtung der Deutschen Republik. Ja, Wilsons Name und seine Vierzehn Punkte wurden zu einem Symbol für Demokratie, für einen Frieden nach Recht und Billigkeit zwischen Siegern und Besiegten, zum Symbol für eine bessere Welt, in der keine Nation mehr gerüstet sein und ein Völkerbund, statt wie bisher die Gewalt, entscheiden sollte.
Sie wissen selbst, was aus Wilson und seinen Vierzehn Punkten wurde. Ich wollte Ihnen nur verständlich machen, wieso sich die deutschen Republikaner von ihm betrogen fühlen konnten. (…) Die Arbeitermassen und das Volk hatten, wie gesagt, die Dynastie gestürzt und die Ausrufung der Republik erzwungen. Aber die alten Machthaber, die alten Reaktionäre und die Militaristen blieben; sie wurden weder festgenommen, noch entfernt.“
Die Rolle der betrogenen Hoffnung auf die Worte desf US-Präsidenten bei der Ausrufung der Republik im November 1918 wird in unseren Geschichtsbüchern selten erwähnt.
Demokratischer Gründergeist
Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig hat in seinen autobiographischem Werk „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers“ (erschienen 1944) den Zauber des Gründergeistes später so beschrieben: „Die Hölle lag hinter uns, was konnte nach ihr uns noch erschrecken? Eine andere Welt war im Anbeginn. Und da wir jung waren, sagten wir uns: es wird die unsere sein, die Welt, die wir erträumt. Eine bessere, humanere Welt.“
Versöhnlich und zugleich visionär dichtet Kurt Tucholsky 1919: „(…) Und das sei alles vergeben, vergessen? Die Tritte nach unten? Der Diebstahl am Essen? Bei Gott! das sind keine alten Kamellen! Es wimmelt noch heute von solchen Gesellen! Eingedrillter Kadaverrespekt – wie tief der noch heute in den Köpfen steckt! Er riss uns in jenen Krieg hinein – Und das soll alles vergessen sein?
Nicht vergessen. Wir wollen das ändern. Ein freies Land unter freien Ländern sei Deutschland – mit freien Bewohnern drin, ohne den knechtischen Dienersinn. Wir wollen nicht Rache an Offizieren. Wir wollen den deutschen Sinn reformieren. Sei ein freier Deutscher – Bruder schlag ein! Und dann soll alles vergessen sein!“
Zunächst behielt in der deutschen Bevölkerung die demokratische Orientierung die Oberhand. Erna von Pustau beschreibt die republikanische Aufbruchsstimmung in ihrer Familie: „Mein Vater war damals ein ausgesprochener Revolutionär. Er war ein neuer Mensch. Wie ihn alles erregte! Den Kaiser, den er so tief gehasst hatte, gab es nicht mehr, die Republik war Wirklichkeit, für die sein Vater vergeblich gefochten hatte. Sein ganzes Wesen strahlte ein neues Selbstbewusstsein aus. Das ‚Zeitalter des einfachen Mannes’ hatte begonnen. Der einfache Mann war endlich frei. Vater ‚befreite’ sich auch selbst. Er gab seine Anstellung als Buchhalter auf und beschloss, ein freier Mann zu werden, ein freier und unabhängiger Geschäftsmann. Ja, es waren aufregende Tage! Vater kam nach Hause und erzählte uns von den Demonstrationen, vom Volk, das seine Freude über den Frieden und die neue Zeit auf den Straßen sang und Tafeln mit sich trug, auf denen in großen Buchstaben stand: ‚Nie wieder Krieg’. Und sie glaubten daran, sie glaubten wirklich daran, dass dies der letzte Krieg gewesen wäre. (…) Vater brachte viele Flugblätter nach Hause, die alle Gleichheit und Freiheit versprachen.“ Die Erzählerin erwähnt auch ihren Onkel Eberhard, einen kaisertreuer Offizier, der die Revolution ablehnt. Sie zitiert ihn mit den Worten: „Im Augenblick halte ich es für das Klügste, mit den Wölfen zu heulten.“ Er schloss sich den neuen Machthabern an, obwohl er sie im Stillen verabscheute.
Die Wahl zur Deutschen Nationalversammlung, die im Januar 1919 den „Rat der Volksbeauftragten“ durch eine demokratisch legitimierte Regierung ablöste, machte die SPD mit 37,9 % der Stimmen zur stärksten Kraft. Sie war auf die demokratischen Partner „Zentrumspartei“ (19,7 %) und „Deutsche Demokratische Partei“ (18,5 %) angewiesen, mit denen die „Weimarer Koalition“ gebildet wurde. Sie repräsentierte 76,1 % der Bevölkerung, die sich eindeutig zur parlamentarischen Demokratie bekannte. Die Wahlbeteiligung betrug 83,02 %.
Das für die Demokratie positive Wahlergebnis – man spricht auch von dem republikanisch-demokratischen Gründergeist 1918/19 – lässt sich wohl damit erklären, dass die Bevölkerungsmehrheit nach der bitteren Kriegszeit und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs von der Monarchie „die Nase gestrichen voll“ hatte. Sie sehnte sich nach einem Neuanfang mit Demokratie, weil sie sich von dieser Staatsform Ruhe, Ordnung und Wohlstand versprach. Die kaisertreuen Kreise, die national bis nationalistisch gesonnen waren, befanden sich in dieser Zeit noch in der Defensive.
Dass die demokratisch gesinnte „Weimarer Koalition“ recht unterschiedliche politische Richtungen zusammenband, geht aus einem SPD-Plakat hervor, das im Wahlkampf 1920 eingesetzt wurde. Dort grenzt sich die SPD wie folgt von ihren Koalitionspartnern ab: die Christliche Volkspartei (Zentrum) wolle die Wiederherstellung der „Pfaffenherrschaft“, die Deutsche Demokratische Partei die „Geldsackherrschaft.“ Zu den beiden nationalkonservativen Parteien DNVP und DVP heißt es, sie strebten die Wiederherstellung der „Junkerherrschaft“ beziehungsweise der „Völker verhetzenden Machtpolitik“ an. Zusammenfassend urteilt die SPD: „Alle diese Parteien wollen die Wiederherstellung des alten reaktionären Systems, wollen Ausbeutung, Unterdrückung und Entrechtung des Volkes zu Gunsten kleiner bevorzugten Schichten.“ Die USPD wird auf dem Plakat als „gefügiges Werkzeug der berüchtigten Spartakusrotte“ bezeichnet. Diese Partei wolle „nicht Freiheit und Selbstbestimmungsrecht des ganzen Volkes“, sondern kämpfe für die „skrupellose Gewaltherrschaft terroristischer Minderheiten.“ Es folgt die Eigenbeschreibung: „Nur die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (S.P.D.) will die Herrschaft des ganzen Volkes, das Recht aller geistig und...




