E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Küsten Krimi
Schlennstedt Spur übers Meer
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86358-623-2
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Küsten Krimi
ISBN: 978-3-86358-623-2
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Als eine siebzehnjährige Lübecker Schülerin verschwindet, wendet sich ihre verzweifelte Mutter an Privatermittler Simon Winter. Die Spur führt Winter in den Filz der niedersächsischen Landespolitik, doch erst als im dänischen Rødby ein Fahrzeug mit einem weiteren verschleppten Mädchen entdeckt wird, ahnt Winter, welche Dimension der Fall tatsächlich hat.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
DAS GESPRÄCH Simon Winter stand vor dem Modell der Stadt und musterte die engen Gänge und Gassen. Hier war er geboren, mitten auf der Altstadtinsel, im Marienkrankenhaus, nur einen Steinwurf von den beiden Türmen des Lübecker Doms entfernt. Vor sechsunddreißig Jahren und dreihundertachtundzwanzig Tagen. Er kannte jeden Pflasterstein, jeden verborgenen Winkel und jeden Ladenbesitzer der Stadt mit Namen. Die Altstadt war sein Zuhause, durch das er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegen konnte. Und trotzdem hatte er Lübeck vor mehr als drei Jahren den Rücken gekehrt. Die Stadt hatte ihn eingeengt, seine Gedanken waren nicht mehr frei genug gewesen, um bei seinen Ermittlungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Um kreative Lösungen zu finden. Um die richtigen Mandanten kennenzulernen und Fälle zu bearbeiten, für die es sich lohnte, den Hörer abzunehmen. »Herr Winter?« Er fuhr herum und legte augenblicklich den Finger auf den Mund. »Seien Sie bitte leise! Niemand muss wissen, dass Sie und ich hier sind.« »Sie haben doch selbst vorgeschlagen, dass wir uns im Holstentor treffen.« »Der Ort ist genau richtig, trotzdem sollten wir vorsichtig sein«, wiegelte Winter ab. »Sehen Sie das hier?« »Das Modell der Stadt?« »Es zeigt die Altstadt im 14. Jahrhundert. Das ist absolut faszinierend. Keine nordeuropäische Stadt hatte zu diesem Zeitpunkt eine vergleichbare Größe. Lübeck war damals die Königin der Hanse.« »Lassen Sie uns bitte schnell zur Sache kommen«, sagte Anja Broling mit belegter Stimme. »Ich mache mir große Sorgen um meine Tochter.« »Worauf ich hinaus möchte, Frau Broling«, sagte Winter. »Schauen Sie sich diese Stadt an. Selbst wenn sie nicht mehr mit damals vergleichbar ist, haben wir es noch immer mit einem unvergleichlichen System aus Gängen und Hinterhöfen zu tun. Ihre Tochter hier zu finden, dürfte nicht einfach werden.« »Wenn sie überhaupt hier in der Stadt ist.« »Natürlich, wir wissen es nicht. Was ich sagen will: Wenn es bereits auf dieser relativ kleinen Fläche schwierig ist, sie zu finden, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass die Suche nach Ihrer Tochter unter Umständen langwierig werden kann. Aber ich möchte Sie nicht noch mehr verunsichern, erzählen Sie mir bitte von Carla. Alles, was ich wissen muss. Und zwar von vorn.« »Ich habe ja bereits am Telefon erwähnt, dass Carla vor drei Tagen nicht nach Hause –« »Von vorn«, fiel Winter Anja Broling ins Wort. »Es ist wirklich wichtig.« »Natürlich«, antwortete die Frau, der man die Sorge um ihre Tochter in jeder Bewegung und jeder Äußerung anmerkte. Winter schätzte sie auf Mitte vierzig, auch wenn das eingefallene Gesicht, die schlechten Zähne und tiefen Ränder unter den Augen sie älter erscheinen ließen. Die dunkelblonden Haare hingen strähnig über die Schultern und rundeten den Gesamteindruck ab, den Winter bereits nach wenigen Momenten gewonnen hatte. »Zum ersten Mal verschwunden ist Carla vor vier Monaten«, begann sie schließlich. »Ich war sofort außer mir vor Sorge. Ich kannte so etwas von ihr überhaupt nicht. Am nächsten Tag war sie zum Glück wieder da.« »Entschuldigung, dass ich Sie noch einmal unterbrechen muss«, sagte Winter streng. »Unter von vorn verstehe ich, dass Sie im Grunde mit der Geburt Ihrer Tochter beginnen. Ich muss alles lückenlos wissen.« »Aber …« »Wollen Sie Ihre Tochter wiedersehen oder nicht?« »Natürlich, es ist nur so, dass …« Anja Broling stockte und blickte ihn aus glasigen Augen an. Winter bemerkte, dass sie verkrampfte und sich am Geländer, das um das Modell herumführte, festhielt. Ihre Beine zitterten. Sie sah jetzt erst recht mitgenommen aus, ihre Haut aschfahl. Eigentlich musste er Mitleid mit der Frau haben. Doch darin war er nie sonderlich gut gewesen. Und glaubhaft schon gar nicht. »Können wir unser Gespräch an einem anderen Ort fortsetzen?«, fragte Anja Broling nun. Sie schien sich wieder etwas gefangen zu haben. »Sie haben vollkommen recht«, sagte Winter mit derart viel Verständnis in der Stimme, dass er sich einen Moment lang über sich selbst wunderte. »Kommen Sie, gehen wir in ein Café, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.« »Trotz der Sache mit ihrem Vater würde ich behaupten, dass Carla eine gute Kindheit gehabt hat.« »Und er hat sich seitdem kein einziges Mal bei Ihnen oder Ihrer Tochter gemeldet?« »Soweit ich weiß, nein.« »Soweit Sie wissen?«, fragte Winter skeptisch. »Könnte es also doch sein?« »Hören Sie doch mit dieser vorwurfsvollen Fragerei auf«, antwortete Anja Broling kopfschüttelnd. »Ich dachte, Sie wollen mir helfen.« »Ob ich für Sie arbeite, entscheide ich erst, wenn Sie mir alles gesagt haben.« »Dann lassen Sie mich erzählen. Aber so, wie ich es für richtig halte.« »Selbstverständlich.« Simon Winter lächelte bemüht. Es war nicht das erste Mal, dass er sich dazu zwingen musste, einen Gang herunterzuschalten. Meistens war er gedankenschneller als seine Umwelt. Und ungeduldig. Aus zwischenmenschlicher Sicht nicht immer die beste Kombination. »Der ganze Mist fing vor sechseinhalb Jahren an, als mein Mann ohne Vorankündigung abgehauen ist und mir nichts weiter als einen kleinen Zettel hinterlassen hat. Ganze zehn Zeilen. Dass er den nächsten Flieger nach Bangkok nehmen wird, weil er es zu Hause nicht mehr aushält. Bis heute weiß ich nicht, was ihn damals geritten hat. Zwischen uns war im Grunde alles in Ordnung. Wir hatten keine wahnsinnig romantische Ehe, mit wöchentlichen Blumensträußen und täglichem Sex. Aber eigentlich war alles gut zwischen uns.« »Gab es eine andere Frau?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Anja Broling achselzuckend. »Wir haben damals noch ein einziges Mal telefoniert, weil er ein paar finanzielle Dinge regeln wollte. Wenigstens hat er jeden Monat etwas Geld für Carla und mich gezahlt.« »Er lebt also seitdem in Thailand?« »Ich habe vor ein paar Wochen von einer ehemaligen Bekannten von ihm gehört, dass er wieder in Deutschland ist. Er soll in Kiel wohnen.« »Und er hat sich nicht bei Ihnen gemeldet?« »Nein.« »Bei Carla?« »Nicht dass ich wüsste.« Winter musterte Anja Broling. Ob sie überhaupt wusste, mit wem ihre Tochter Kontakt hatte? »Als er gegangen ist, war Carla gerade einmal elf Jahre alt. Verstehen Sie eigentlich, was das für sie bedeutet hat?« »Ja.« »Wie bitte?«, fuhr es aus ihr heraus. »Woher wollen Sie denn wissen, wie sich meine Tochter gefühlt hat?« »Ich könnte es Ihnen erklären, aber es bringt Ihre Tochter nicht zurück. Also reden wir lieber über Carla. Wie ging es mit ihr weiter? Was ist mit ihr passiert, als sie in die Pubertät kam?« »Wenn ich das nur wüsste«, seufzte Anja Broling. »Sie hat sich verändert. Anfangs, nachdem Lars abgehauen war, habe ich gar nicht gemerkt, dass sich Carla immer weiter zurückzog. Aber irgendwann war es dann offensichtlich, dass sie anders ist als andere Mädchen in ihrem Alter.« »Inwiefern?« »Ich hatte zum Beispiel nie das Gefühl, dass sie sich für die Jungs aus ihrer Klasse interessiert. Dabei ist das doch normal, wenn man sechzehn oder siebzehn Jahre alt ist. Sie hat sich immer nur in ihrem Zimmer eingesperrt, anstatt sich zu verabreden und rauszugehen.« »Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?« »Nein, keine Chance. Carla ist schon an die Decke gegangen, wenn ich ihr Zimmer nur betreten habe.« »Das klingt, als hätten Sie und Ihre Tochter sich nicht sonderlich nahegestanden. Was können Sie überhaupt über ihr Leben sagen?« Anja Brolings Schulterzucken und der resignierte Blick waren Antwort genug. »Reden wir über die letzten Wochen«, sagte Winter. »Gab es irgendetwas, das Ihnen an Ihrer Tochter aufgefallen ist? Etwas, das anders war als sonst?« »Ja, allerdings«, antwortete Anja Broling. »Ich hatte stärker als je zuvor das Gefühl, meine Tochter zu verlieren. Sie selbst sprach sogar davon, bald ausziehen zu wollen. Ich meine, sie ist siebzehn und geht noch zur Schule. Da zieht man doch noch nicht einfach von zu Hause aus.« »Soll jedoch vorkommen.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Was ich zum Ausdruck bringen wollte, ist, dass es alles andere als ungewöhnlich klingt, wenn ein Teenager noch vor seiner Volljährigkeit auf eigenen Beinen stehen will.« »Aber Carla ist doch noch überhaupt nicht in der Lage, Verantwortung für ein Leben in den eigenen vier Wänden zu übernehmen. Weder finanziell, noch traue ich ihr sonst zu, dass sie sich selbst versorgen kann.« »Wie meinen Sie das?« »Carla hilft mir kein bisschen im Haushalt. Sie fühlt sich für nichts verantwortlich, lässt sich von mir komplett bedienen. Soviel ich weiß, hat sie sich auch in der Schule oder in irgendwelchen Vereinen noch nie engagiert. Sie können mir glauben, als Mutter verzweifelt man manchmal an so etwas. Aber ich habe sie immer in Schutz genommen. Wegen der Sache mit Lars.« »Was macht Carla den ganzen Tag, wenn sie in ihrem Zimmer ist? Hat sie gelegentlich Besuch von Freundinnen?« »Wenn es nur so wäre, dann würde ich mir weit weniger Sorgen um sie machen. Leider ist es so, dass sie immer nur allein gewesen ist.« Erneut war Anja Broling den Tränen nahe. Sie schluckte schwer, ehe sie weiterredete. »Carla kommt von der Schule, rennt die Treppe hoch und sperrt sich in ihr Zimmer ein. Tag für Tag das Gleiche. Vor ein paar Monaten hat es dann plötzlich eine Veränderung gegeben. Irgendetwas muss mit ihr passiert sein. Denn seitdem ist...




