Schmidt | Schon immer ein Krüppel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 111 Seiten

Schmidt Schon immer ein Krüppel

E-Book, Deutsch, 111 Seiten

ISBN: 978-3-96917-145-5
Verlag: Edition Outbird
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Mit der Neufassung des schwarzhumorigen Jugendromans 'Schon immer ein Krüppel' gewährt Benjamin Schmidt Einblicke in ein Leben, das gänzlich neu erfunden werden will. Er zeichnet dabei nicht nur ein schonungslos ehrliches Bild diverser Problematiken bei Querschnittslähmung, sondern auch das einer Jugend, die gegen alles, vor allem die eigenen Unzulänglichkeiten, rebellieren möchte und dabei jeden Atemzug in Frage stellt.Schmidt schreibt lebensnah von surrealen Begegnungen in der Psychiatrie, von Sex im Rollstuhl und vom 'Umgang mit gesunden Menschen', das heißt, Menschen, die sich für gesund halten. Zeile für Zeile werden so Vorurteile und Dankbarrieren abgebaut und eingerissen.Franziska Appel pointiert mit ihren skizzenhaften Illustrationen die Essenz der einzelnen Kapitel. Und solange der Vorrat reicht, bekommen BestellerInnen dieses Buches ein Kunstpostkartenset kostenlos dazu. Viel Glück!

Benjamin Schmidt war schon immer ein Krüppel. Er wurde 1989 ohne sein Einverständnis im thüringischen Saale-Orla-Kreis geboren und versucht sich seither mit den Folgen dieses Geschickes zu arrangieren.Der Rollstuhl Zeugnis, dass es nicht immer gelang dient ihm heute als Sitz und nur noch wenige sind verwundert, wenn er am Lesepult zurückbleibt, während sich der Besitzer kurz die Beine vertritt.Neben seiner Arbeit als Grafiker, musiziert Schmidt in verschiedenen Projekten, darunter die Berliner Dark Punk/Death Rock-Band Gruftschlampen. Mittlerweile hat er auch einige Bücher geschrieben. Eins davon sogar zweimal.
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Füße still halten
  Als Querschnittsgelähmter hatte man für gewöhnlich mehr medizinische Hilfsmittel nötig als auf den ersten Blick ersichtlich. Da war zunächst der Rollstuhl. Dann brauchte man Einlagen, denn die Funktion sämtlicher Schließmuskeln hatte sich eingestellt. Sie nahmen es locker, sozusagen. Man brauchte Katheter, auch die Blase hatte ihren Dienst quittiert. Ein Urinrückstau, der die Nieren schwemmt, war nicht erstrebenswert. Der Darm war träge, also brauchte man Gummihandschuhe, Zäpfchen oder einfach einen starken Kaffee am Morgen. Zu schade, dass ich Kaffee schon immer verabscheute. Ich war gerade auf dem Weg zum Urologen und zum ersten Mal hatte ich Schwierigkeiten mit einem der erwähnten Hilfsmittel, dem Rollstuhl. Peng! Ein lautes Knallen ließ mich, trotz Kopfhörer im Ohr, zusammenzucken. Mitten im Song. Wie ich das hasste. Als hätte jemand Steven Tyler während ›Dream on‹ plötzlich erschossen. Ein Reifen war geplatzt. Und mit luftleerem Reifen wollte die Bremse auf der betroffenen Seite nun ebenfalls nicht mehr. Ich glaubte vorerst an einen glücklichen Zufall, als ich unterwegs ein Sanitätshaus entdeckte. Fortkommen war ohnehin schon schrecklich, weil die Gehwege hier derart grob gepflastert waren und kaum ein Bordstein abgesenkt. Fuhr man aber in Schräglage bei jeder Umdrehung der Räder über das Ventil des platten Reifens, wurde schnell klar, dass man für solch einen Ernstfall nicht genug trainiert hatte. Ich befuhr also den Laden, wo ich auf einen älteren Herren traf, der, so wie ich ihm mein Problem schilderte, von entschiedener Hilflosigkeit ergriffen schien. Er verbrachte einige schweißtreibende Minuten am Rechner und ließ mit jedem entnervten Stöhnen meine Zuversicht schwinden. Das benötigte Ersatzteil, also ein neuer Schlauch für meinen Reifen, war nicht vorrätig. Mir wurde angeboten, entweder in zwei bis drei Tagen wiederzukommen oder aber den Rollstuhl zur Reparatur dazulassen und ihn dann nach Ablauf dieser Frist abzuholen. Ich verließ hernach das Sanitätshaus unverrichteter Dinge und beschloss, die letzten fünfzehn Minuten für einen schlechten Traum zu halten. Der mir angebotene Ersatzrollstuhl würde mir mit Sicherheit noch schlaflose Nächte bereiten. In solch ein Ungetüm setzte man sich, wenn man elf Frauen und schließlich seine Mutter vergewaltigt und umgebracht hatte, aber nicht, wenn man auf dem Weg zum Urologen war. Man wollte ja lebend ankommen. Sicher, ich hätte auch den Vierpunktgehstock nehmen können und anders als andere, die das Privileg einen Rollstuhl zu fahren besaßen, hätte ich tatsächlich auch einfach aufstehen und losspazieren können. Aber der Alltag war grausam. Die Leute glotzten ja so schon immer, da verlor man allein aus Unsicherheit das Gleichgewicht. Spätestens aber in den Fußgängerzonen, wo noch das Gesetz des Stärkeren galt. Unberechenbare Massen strömten einem entgegen. Es fehlte nicht nur ein fester Stand, sondern allein das Bewusstsein für Bodenkontakt. Dann brauchte man immer einen Sitzplatz und keine Sau verstand, warum ein so junger Mensch einen Sitzplatz nötig hatte. Dann schlurkste man über Straßen und die Autos hupten, was würde diesem Krüppel auch einfallen, zur Hauptverkehrszeit eine Straße zu überqueren. Dann stand man inmitten von Leuten und furzte, weil man seinen Darm nicht mehr unter Kontrolle hatte. Albern, nicht wahr? Konnte man eben nicht ändern, genau wie jemand mit Tourette seine Tics zu unterdrücken nicht im Stande war. Die Öffentlichkeit reagierte auf sowas selten relaxt. Es war beschämend. Ging ich zu Fuß, musste ich furzen und anschließend so tun, als sei ich es nicht gewesen, um der Schmach zu entgehen. Wo ich auch war, jede Sekunde in der Senkrechten trieb meine Leibeswinde Richtung Ausgang. Ich spürte sie nicht einmal kommen. Erst dann, wenn es zu spät war. In jeder Lebenslage bremsten sie mich aus. Beim Einkaufen, in Warteschlangen, in Museen, Konzertsälen, in Aufzügen, in Zügen, in vollen Zügen, im wahrsten Sinne. Es entwickelte sich eine regelrechte Panik vor Menschenmengen. Ich wollte der Scheiße in meinem Leben entkommen und nun umgab mich ihr Geruch allgegenwärtig. Sollte ich mich also zufällig mal in der Nähe aufhalten und es beginnt plötzlich nach faulen Eiern und gammliger Scheiße zu duften, bitte ich um Entschuldigung. Ich trinke gern, liebe scharfes Essen und mein gelähmter Darm weiß, dass wir alle Sünder sind und büßen müssen.   »Was meinen Sie damit, Sie können keine Rezepte mehr ausstellen?« »Nur für Ihre Einlagen nicht mehr.« »Aber bisher ging es doch auch!« Bürokratie war auch eine Behinderung. Schlimmer vielleicht als die Paraplegie. Leider brachte das eine auch einen nicht unerheblichen Teil des anderen mit sich. Das stellte ich auch in der Praxis meines Urologen wieder fest. Die Schwester an der Rezeption versuchte mir zu erklären, warum ich keine Rezepte mehr für meine Einlagen bekommen sollte. Sie versuchte es, in Wirklichkeit gab es keinen wirklichen Grund, außer Geld. Aaah... »Unser Budget ist begrenzt. Wir haben als urologische Praxis nur mit Defekten der Harnwege zu tun. Rezepte für Stuhlinkontinenzartikel muss Ihnen ein anderer Arzt ausstellen.« »Ach? Und welcher? Der Arschäologe?« »Bitte haben Sie Verständnis. Wir haben diese Regelungen doch auch nicht gemacht. Am besten wenden Sie sich erstmal an Ihren Hausarzt.« Ich gab mich geschlagen und nahm im Wartezimmer Platz. Mit diesem Satz kam ein jeder davon. Er verkörperte das ultimative Trotzdem, das Weilwegenisthaltso. Beim Jobcenter: »Wir haben diese Regelungen doch auch nicht gemacht.« Bei der Rentenversicherung: »Wir haben diese Regelungen doch auch nicht gemacht.« Bei der Krankenkasse: »Wir haben diese Regelungen doch auch nicht gemacht.« Beim Bürgeramt: »Wir haben diese Regelungen doch auch nicht gemacht.« Beim Finanzamt: »Wir haben diese Regelungen doch auch nicht gemacht.« Ja, auch beim Bundesjustizamt: »Wir haben diese Regelungen doch auch nicht gemacht.« Schon traurig, schoss es mir durch den Kopf, so ein Leben mit Bürokratie. Dass diese Leute einfach nicht begriffen, dass sie eben doch diese Regelungen machten, indem sie sie befolgten, selbstgerecht und unkritisch. So lief das eben ab, wenn man blind Befehle ausführte! Da trug man eben doch eine Mitschuld! Auch ein Amon Göth hatte die Regeln nicht gemacht, trotzdem war er doch zu verurteilen oder konnte man tatsächlich annehmen, dieser kranke Massenmörder habe nur seinen Job gemacht? Und nein, ich mochte die Schwester an der Rezeption nicht mit einem SS-Kommandanten auf eine Stufe stellen. Aber mir wurde der Zugang zu medizinischen Hilfsmitteln erschwert, mich plagten existenzielle Probleme, da kam ich schnell vom Hundertsten ins Tausendste. »Wie steht es mit einer Erektion?«, wurde ich gefragt und bekam das widersprüchliche Gefühl, dass das meinen Urologe überhaupt nichts anginge. »Nicht«, antwortete ich. »Wie meinen?« »Steht nicht. Nicht wirklich. Oder nicht richtig. Nicht lang genug vielleicht. Ich weiß doch auch nicht.« »Ah ja, ich verstehe.« Das verwunderte mich. Gleichzeitig war ich dankbar für so viel Abstraktionsfähigkeit, denn ich hatte wenig Lust, weiter mit dem fremden, alten Mann über meine Erektion, mein Ejakulat, Urin und Penispumpen zu sprechen. Dabei war es doch nur gut, solche Themen offen zu bereden. Weshalb schämte ich mich? Durch Totschweigen änderte sich nichts. Und ich durfte doch wohl zu meiner Behinderung stehen? Das wäre ja noch schöner! Ich musste ja nicht den ganzen Tag durch die Gegend laufen und jedem mein Leid klagen. Wie jeder zweite Rentner seine Arthrose, meine Impotenz zum Tischgespräch machen. Und urplötzlich fasste ich Mut, warf jegliche Hemmungen über Bord und erzählte meinem Arzt alles. Kein Detail ließ ich aus. Meine mentale Selbstbefriedigungsstrategie. Meine Halblatte, die nach wenigen Minuten wieder in sich zusammenfiel. Meine Taubheit zwischen den Beinen. Meine undichte Blase. Und naja, ich gab mir Mühe, meinen Bericht mit emotionalen Schilderungen zu pointieren, um die Notwendigkeit eines Potenzmittels zu verdeutlichen. Und in der Tat bekam ich gleich ein paar Pillen zum Ausprobieren. Viagra, Levitra, Cialis, alles Mögliche zum Schlucken, mit dem Hinweis, dass diese Pillen nur bei sexueller Erregung funktionierten und bei Erstanwendung zunächst eine halbe Tablette zu empfehlen sei. Das Thema Penispumpe hatte sich für alle Zeit erledigt.   »Das heißt, dein Schwanz funktioniert noch ganz normal?« »Mein Schwanz funktioniert nicht normal. Ich habe dir doch eben erklärt, ich kann keine Kinder zeugen, zumindest auf natürlichem Wege nicht, und zum Pinkeln brauche ich Katheter, genau wie du. Von funktionieren und ganz normal würde ich daher nicht sprechen. Aber ja, was den Rest angeht, das klappt alles. Ich kann es dir also besorgen, wenn es das ist, was du möchtest.« Peinlich berührt ließ ich mich in den Beifahrersitz sinken. Was sich eben beim Urologen so gut anfühlte, verursachte nun nichts als Magenschmerzen. Eddi fuhr gerade an mir vorbei, als ich die Praxis verließ und bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Da ich einen Platten hatte, kam mir das sehr gelegen, obwohl den Rollstuhl auf den Rücksitz zu befördern mit ungeahnten Hürden verknüpft war. Die spontane Freude über Eddis zufälliges Aufkreuzen und der experimentelle Sound von Siouxsie and the Banshees lockerten meine Zunge und wie mit einem alten Bekannten redete ich einfach drauflos. Ich war mir sicher, Eddi müsste die gleichen, wenn nicht noch mehr...


Benjamin Schmidt war schon immer ein Krüppel. Er wurde 1989 ohne sein Einverständnis im thüringischen Saale-Orla-Kreis geboren und versucht sich seither mit den Folgen dieses Geschickes zu arrangieren.Der Rollstuhl Zeugnis, dass es nicht immer gelang dient ihm heute als Sitz und nur noch wenige sind verwundert, wenn er am Lesepult zurückbleibt, während sich der Besitzer kurz die Beine vertritt.Neben seiner Arbeit als Grafiker, musiziert Schmidt in verschiedenen Projekten, darunter die Berliner Dark Punk/Death Rock-Band Gruftschlampen. Mittlerweile hat er auch einige Bücher geschrieben. Eins davon sogar zweimal.


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